Читать книгу Die Söhne des Scheiks - Franz Kandolf - Страница 6
1. Eine rätselhafte Botschaft
Оглавление„Sihdi, wann kommst du wieder zu uns? Doch sicher im nächsten Jahr?“
Ich musste über diese Frage Halefs, der längere Zeit schweigend neben mir geritten war, lachen.
„Dass du mich darum fragst, ist, seit wir gestern am Wadi Tharthar von deinen Haddedihn Abschied genommen haben, genau das sechste Mal.“
„Daraus magst du die Innigkeit meiner Gefühle und die Tiefe meiner Hingabe an dich ermessen.“
„Kara, dein Sohn, und Omar Ben Sadek, die hinter uns reiten, haben mich doch auch lieb. Aber keiner quält mich so mit dieser Frage wie du.“
„Istaffer Allâh – Allah möge dir verzeihen! Ich hätte nicht erwartet, dass du meine Anhänglichkeit an dich als Qual empfinden würdest.“
Damit wendete sich der kleine, schnell hitzige Hadschi halb von mir ab, ein Zeichen, dass er sich gekränkt fühlte. Ich lenkte ein.
„Aber ich kann dir mit dem besten Willen keine genaue Auskunft geben. Ich bin jetzt sehr lange Zeit von zu Hause fort gewesen, und es wird sich unterdessen viel Arbeit angehäuft haben. Außerdem würde meine Frau wenig erbaut sein, wenn ich sie so bald wieder verließe.“
„Maschallâh! Das verstehe ich nicht. Die Gebieterin deines Frauenzelts hat sich deiner weiseren Einsicht unterzuordnen.“
„Erlaube, Halef, da bin ich anderer Meinung. Die Frauen des Abendlands sind keine willenlosen Puppen.“
„Damit willst du wahrscheinlich einen Vergleich ziehen, bei dem die Frauen des Morgenlands nicht allzu gut wegkommen würden. Aber du irrst, Sihdi! Meine Hanneh wenigstens, die wonnige Erfreuerin meines Daseins, ist alles eher als eine willenlose, leblose Ulubi6, mit der ihr Gatte spielen kann, wie es ihm beliebt, Allâh bjarif – Allah weiß es!“, fügte er seufzend hinzu. „Aber das eine weiß ich sicher: Meine Hanneh würde nicht das Geringste dagegen haben, selbst wenn ich mit dir zehnmal hintereinander um den ganzen Erdball ritte. Dafür schätzt sie dich zu sehr.“
„Als ich von den Frauen sprach, meinte ich deine Hanneh nicht.“
„Wer käme denn sonst in Frage? Wenn wir beide durch die Länder reiten, um Abenteuer zu erleben, wie Harun al Raschid und sein Großwesir, so geht das sonst niemand etwas an als höchstens meine und vielleicht deine Herzensgebieterin.“
„Du vergisst, lieber Halef, dass es auch eine Pflicht gibt, der ich gerecht zu werden habe, und dieser Pflicht kann ich nicht genügen, wenn ich immer nur reise. Du magst dich also damit zufrieden geben, wenn ich sage: Warte und habe Geduld! Einen bestimmten Zeitpunkt, wann ich wiederkomme, kann ich nicht nennen.“
Halef seufzte. „Warten! Du kannst leicht reden! Weißt du denn, wie einem Wartenden zu Mute ist, der auf ein Glück hofft, aber nicht weiß, wann es sich einstellen wird?“
„Nun?“
„Seine Seele gleicht einem bis zum Nordpol gespannten Habl7, auf dem sich zwei Bazzakat8 aufeinanderzubewegen. Sihdi, kannst du es vielleicht erwarten, bis sich die zwei beklagenswerten Tiere endlich begegnen?“
„Allerdings nicht“, gestand ich.
„Siehst du? Mir aber mutest du so etwas zu!“
„Ich wusste nicht, dass deine Seele ein so langes, ausgedehntes Ding ist.“
„Uskut – schweig still!“, rief er zornig. „Wer ist daran schuld? Etwa ich? Oder bist es nicht vielmehr du, der meine Seele so weit auseinanderzuziehen versucht, dass sie Gefahr läuft, in der Mitte zu reißen?“
„Beruhige dich! Es kann mir nicht einfallen, deiner Seele eine solche Belastungsprobe zuzumuten. Ich verspreche dir, die Qualen des Wartens möglichst abzukürzen. Sobald ich mich freimachen kann, eile ich zu dir.“
„Hamdulillah! Nun wird mir das Herz wieder leicht, denn ich weiß jetzt, dass ich dich bald wiedersehen werde. Sag aufrichtig, lieber Sihdi! Du kannst deinen Zeitpunkt ja selber kaum erwarten!“
„Ajjuha – oho!“, stellte ich mich ablehnend.
„Tu nur nicht so, Sihdi! Ich kenne dich besser. Du kannst es in Wirklichkeit ohne mich, deinen treuen Halef, gar nicht aushalten. Sag selber, wen hast du denn jetzt noch außer mir, seitdem dein roter Freund, der Scheik aus Amerika – Allah schenke ihm den siebenten Himmel! – nicht mehr am Leben ist?“
„Hm!“
„Bist du seitdem vielleicht auch nur einmal in den Duars der Beduinen gewesen, die dort Indianer heißen?“
„Nein.“
„Da haben wir es ja! Ich wüsste auch gar nicht, was dich dorthin noch ziehen könnte. Aber zu uns bist du immer und immer wieder zurückgekehrt, zu deinen Haddedihn, die dich lieben, und zu mir, der an deiner Seite unbedenklich in den Rachen der Dschehenna reiten würde, wenn du es von mir verlangtest.“ –
Als Halef diese Worte sprach, befanden wir uns ungefähr eine Tagreise südlich von Mossul. Nach den Ereignissen, die ich in meinem Buch „In Mekka“ geschildert habe, hatte ich noch vier Wochen in den Zelten der Haddedihn der Ruhe gepflegt. Dann aber musste geschieden sein. Der ganze Stamm hatte bis zum Tharthar das Ehrengeleit gegeben, dann waren wir weitergeritten. Unter ‚wir‘ sind Halef, sein Sohn Kara, Omar Ben Sadek und ich zu verstehen. Die drei Genannten wollten mich ganz bis Mossul begleiten, von wo aus ich meinen Weg nach Hause allein weiter zu verfolgen dachte. Wir waren vorzüglich beritten. Meinen Sattel trug selbstverständlich Assil Ben Rih, der Sohn meines unvergesslichen Rih, Halef ritt seinen Barkh9, Kara Ben Halef die unvergleichliche Stute, das Geschenk des Großscherifs von Mekka10. Und Omar Ben Sadek? Nun, wen anders sollte er reiten, als die allen Lesern bekannte Aladschy-Schecke, die trotz ihres nicht mehr ganz jugendlichen Alters die Beine in einer Weise von sich warf, als läge zwischen ihrer im ‚Lande der Skipetaren‘ verlebten Jugendzeit und dem jetzigen Ritt nicht die beträchtliche Anzahl von zwanzig Jahren.
Wir hatten gestern Nachmittag das jetzt vollkommen ausgetrocknete Wadi Tharthar überschritten, heute am späten Vormittag das Wadi el Ahmar gekreuzt und hofften bis zum Abend das Wadi el Kasab zu erreichen. Morgen hatten wir nur noch die östlichen Ausläufer des Dschebel Sindschar zu durchqueren, und am Nachmittag konnten wir bereits, wenn nichts dazwischen kam, in Mossul sein.
Die Gegend, durch die wir kamen, machte den Eindruck einer Wüste. Sieht die Dschesireh im Frühjahr wie ein einziger Blumengarten aus, so bot sie jetzt, im Spätsommer, einen trostlosen Anblick. Kein Grün, soweit das Auge reichte! Was von den Weidetieren der Beduinen übrig gelassen worden war, hatte die Sonne vollständig versengt; überall trat der nackte, steinige Boden hervor.
Kurz vor der Dämmerung erreichten wir den steilen Rand des Wadi el Kasab und schlugen unser Nachtlager unten im Schutz eines kümmerlichen Wermutgebüschs auf. Dieses sowie ein schmaler, mit spärlichem Grün besetzter Grasstreifen deuteten die Richtung an, die der Wasserlauf in der Regenzeit genommen hatte. Jetzt war allerdings nicht ein Tropfen Feuchtigkeit zurückgeblieben. Während wir die Lagerdecken ausbreiteten, machten sich unsere Tiere über die halbverdorrten Zweige des Wermuts und das magere Gras her. Später wurde gegessen und dann wickelten wir uns vorsorglich in unsere warmen Decken, denn die Nächte begannen um die Jahreszeit bereits empfindlich kalt zu werden.
Am nächsten Morgen ritten wir nach kurzem Frühstück weiter. Da die Ersteigung des jenseitigen, abschüssigen Ufers für unsere des Kletterns ungewohnten Tiere eine unnötige Anstrengung bedeutet hätte, wendeten wir uns dem oberen Teil des Wadi zu. Dort war eher eine Stelle zu finden, die sich für unsere Absicht, die offene Steppe zu gewinnen, eignete.
Wir mochten vielleicht zehn Minuten auf dem Weg sein, da öffnete sich nach rechts ein schmales Seitental. Da es in unserer Richtung lag, lenkte ich – ich ritt an der Spitze – in dieses ein, zügelte jedoch im nächsten Augenblick mein Tier.
Ich bemerkte nämlich im lockeren Grus des Bodens eine Fährte. Sie kam aus dem Seitental und führte im Haupttal weiter, doch nicht abwärts, sondern aufwärts. Diese Beobachtung machte mich stutzig und ich stieg ab, um die Fährte näher zu betrachten.
Es handelte sich, wie sich nach kurzer Untersuchung ergab, um zwei Reiter, die ein lediges Tier mit sich führten. Halef, dem ich meine Beobachtung mitteilte, meinte sorglos:
„Die zwei gehen uns wohl nichts an. Reiten wir weiter!“
„Halt, warte noch! Mir kommt die Sache nicht ganz geheuer vor.“
„Warum? Ich sehe nichts Besonderes dabei.“
„Aber ich! Zwei Reiter, die ein lediges Pferd in der Steppe spazieren führen! Fällt dir das nicht auf?“
„Wahrscheinlich ist es ein Packtier.“
„Nein. Ich erkenne an der Spur, dass es keine Last zu tragen hatte.“
„Auch dann wüsste ich nicht, was uns besorgt machen sollte. Vielleicht sind es zwei Händler, die ihre Ware in Mossul abgesetzt haben und jetzt heimkehren. Daher das unbeladene Tier.“
„Das wäre wohl eine Erklärung. Aber außerdem ist es die Richtung der Spur, die mein Bedenken hervorruft. Der Kasab entspringt im wildesten Teil des Sindschar, wo, wie du ja selber weißt, Ausgestoßene aus allen Stämmen ein lichtscheues Dasein führen. Und diese Spur weist ziemlich genau in diese Gegend.“
Nun war es Halef, der ein besorgtes Gesicht machte.
„So meinst du, dass wir es am Ende gar mit Räubern zu tun haben?“
„Vielleicht sogar mit Mördern.“
„Du denkst immer gleich das Schlimmste. – Was aber jetzt? Sollen wir den Männern nachreiten?“
„Nein. Sie haben uns nichts getan und ein Verdacht ist noch kein Beweis. Trotzdem wollen wir auf dieser Spur einstweilen bleiben, die für uns keinen Umweg bedeutet. Sie ist höchstens eine halbe Stunde alt und ich vermute, dass wir bald die Stelle erreichen, wo die beiden die Nacht zugebracht haben. Vielleicht machen wir dort eine Entdeckung, die uns mehr über sie sagt als diese Spur.“
Ja, wir machten allerdings eine Entdeckung. Eine Entdeckung, durch die das eingangs des Kapitels erwähnte Gespräch mit Halef gegenstandslos wurde, und von der wir nicht ahnten, wie einschneidend sie für uns alle werden sollte.
Die Sohle des Wadi, an dem wir jetzt aufwärts ritten, hob sich allmählich; es war klar, dass es keine große Ausdehnung besaß und eines jener Regenbetten war, die nur während der Winter- und Frühjahrsniederschläge Wasser führen.
„El Büdsch11!“, rief da Kara Ben Halef plötzlich und zeigte auf einen großen Vogel, der in einiger Entfernung vor uns aufgeflogen war.
Kara hatte Recht. Es war wirklich der Raubvogel, den ich auf meinen Reisen oft genug angetroffen hatte. Es musste also da vorne irgendein Aas geben, von dem er sich durch unser Erscheinen nicht vertreiben zu lassen schien, denn er suchte nicht das Weite, sondern zog in der Luft weite Kreise.
Ein grässlicher Anblick erwartete uns, als wir die Stelle erreichten, wo der Geier sich erhoben hatte. Der erste Blick sagte mir, dass hier ein Mord geschehen war. Ich sprang vom Pferd und die Gefährten folgten meinem Beispiel.
Vor uns lag, mit einer klaffenden Wunde in der Brust, ein Mann, dem die Mörder nicht ein einziges Kleidungsstück gelassen hatten. Während Halef sich in allen möglichen Ausdrücken des Bedauerns und der Entrüstung erging, machte ich mich an eine Untersuchung der Leiche. Sie war nicht mehr warm, aber die Glieder zeigten noch jene leichte Beweglichkeit, die darauf schließen ließ, dass der Mord vor nicht allzu langer Zeit verübt worden war. Da der Boden nicht das geringste Zeichen aufwies, aus dem auf einen vorausgehenden Kampf zu folgern gewesen wäre, so lag die Wahrscheinlichkeit nahe, dass die Mörder ihr Opfer im Schlaf überfallen und getötet hatten.
Die Wunde rührte von einem Lanzenstich her, der auf der Stelle tödlich gewesen sein musste. Der Geier hatte sein grausiges Mahl bereits begonnen, aber obgleich das Gesicht von ein paar Schnabelhieben zerfetzt war, konnte ich doch erkennen, dass der Tote noch jung gewesen war; ich schätzte ihn auf nicht mehr als dreißig Jahre. Der Gesichtsfarbe nach zu schließen war er sicher kein Europäer, aber ob ich einen Beduinen oder einen Kurden oder einen Perser vor mir hatte, konnte ich nicht feststellen.
Ich schritt, den Blick auf dem Boden, nach dem oberen Ende des Wadi und fand die Spur eines einzelnen Reiters, die von gestern herrührte, aber auch die frischen Eindrücke von zwei Pferden, die sich erst heute Morgen, von Norden her kommend, mit der Einzelspur vereinigt hatten. Das Übrige war mir klar: Die zwei Mörder hatten sich ohne Weiteres über den Schlafenden hergemacht, ihn mit einem einzigen Lanzenstich getötet und dann vollständig ausgeraubt. Die Räuber hatten reinen Tisch gemacht und alles mitgenommen, was sich im Besitz des Ermordeten befunden hatte.
Wirklich alles? Im Begriff, zu den Gefährten zurückzukehren, sah ich etwas Weißes zwischen den Steinen blinken. Ich hob es auf; es war ein abgerissener und offenbar achtlos weggeworfener Fetzen Papier, der mit arabischen Schriftzeichen bedeckt war. Ein Windstoß hatte ihn fortgetragen und zwischen die Steine geklemmt, wo ich ihn gefunden hatte.
Ich las die ersten Worte und – starrte in ungläubigem Staunen auf das Papier. Na, war es denn wirklich möglich? Oder träumte ich am hellen Tag? Ein liebes Greisenantlitz tauchte vor meinem geistigen Auge auf, ein Gesicht, das sich meinem Inneren mit unvergesslichen Zügen eingeprägt hatte.
Ein lauter Ruf brachte meine Gefährten zur Stelle.
„Halef, Kara, Omar, sucht! Um Gottes willen sucht! Vielleicht findet ihr noch so ein Stück Papier, wie ihr es in meiner Hand seht. Fragt nicht lang und schaut nicht lang, sondern sucht, sucht!“
Natürlich musste ihnen meine Aufregung unverständlich sein, aber ich wartete ihre Entgegnung gar nicht ab. Wie ein Hypnotisierter schritt ich, die Augen auf den Boden geheftet, weiter. Zoll um Zoll untersuchte ich das Erdreich, jeden Stein wandte ich um, hinter jede Gesteinsecke blickte ich – umsonst!
Und doch nicht umsonst! Meine Gefährten waren glücklicher als ich. Ein Ruf Omars zog mich zu ihm hin; er hielt ein Stück zusammengeknülltes Papier triumphierend in die Höhe. Ich riss es ihm förmlich aus der Hand und faltete es auseinander.
„Es fehlt noch ein Stück! Vielleicht sind es auch zwei! Sucht weiter! Sucht nur immer weiter!“
Ich selber beteiligte mich freilich nicht mehr am Suchen, sondern setzte mich da, wo ich stand, auf den Boden. Mit der Hand die beiden zerknüllten Bruchstücke glättend, suchte ich in den Sinn des Briefs – denn ein solcher konnte es nur sein – einzudringen.
Was war es, das mich so sehr aus der Fassung gebracht hatte? Der Leser meiner Reiseerzählungen möge sich erinnern, dass Marah Durimeh, meine mütterliche Freundin, bei unserer letzten Begegnung im Kulluk der Dawuhdijeh-Kurden12 einen Satz in mein Notizbuch geschrieben hatte. Er sollte eine Art Amulett für mich sein und ich sollte davon Gebrauch machen, wenn ich mich in einer Not befände, von der ich glaubte, dass sie sich auf diese Schrift beziehe.
Das waren ihre eigenen Worte. Ich hatte den Satz – er war kurdisch – so oft gelesen, dass ich ihn auswendig kannte. Sogar im Traumzustand wäre er mir immer gegenwärtig gewesen.
„Melak a ditir, an Scheitan a ta khwa – sei deinem Nächsten ein Engel, damit du dir selber nicht zum Teufel werdest.“ So hatte Marah Durimeh geschrieben und hinzugefügt, dass dieser Satz das Geheimnis ihres Lebens enthalte.
Ich hatte mich über diese Worte nicht gewundert. Ihr Inhalt gehörte ja mit in den Gedanken- und Vorstellungskreis, in dem Marah Durimeh lebte und in den sie mich eingeführt hatte. Auffallend war höchstens, da es sich offenbar um ein geheimes Losungs- und Erkennungswort handelte, die Länge des Satzes. Doch darüber konnte sich auch nur jemand wundern, der die Verhältnisse nicht kannte. Denn einerseits liest sich die deutsche Übersetzung viel weitschweifiger und schwülstiger als der kurdische Satz, und dann weiß jeder Kenner des Landes, dass der Kurde ein großer Liebhaber von Sprichwörtern ist. Es gibt wenige Länder, die einen solchen Schatz von geflügelten Worten und Sätzen besitzen wie Kurdistan. Daher konnte einem Kurden der Gebrauch eines Sprichworts als Erkennungswort kaum auffallen. Und außerhalb Kurdistans kam die Anwendung dieses Losungswortes, das Marah Durimeh als einen Talisman bezeichnet hatte, wohl nicht in Frage.
Man kann sich darum mein Erstaunen vorstellen, als ich auf einmal hier, in der Dschesireh, diesen Satz vor die Augen bekam. Freilich war er nicht vollständig, aber für mich bestand kein Zweifel, dass es sich um den Satz Marah Durimehs und nur um diesen handelte.
Der Orientale schreibt bekanntlich von rechts nach links. Ich war jetzt im Besitz von zwei Bruchstücken eines Briefs, und zwar hatte ich die zwei äußeren schmalen Teile eines länglich breiten Zettels, der indes nur wenige Sätze enthalten hatte. Der mittlere, breite Teil fehlte noch – hoffentlich wurde er von den Gefährten gefunden.
Diese Erwartung sollte sich leider nicht erfüllen. Während ich in die Entzifferung der einzelnen Bruchstücke vertieft war, kam einer meiner Gefährten nach dem anderen zurück. Die Suche war ergebnislos gewesen. Als Letzter kehrte Halef zurück, der seinem Verdruss über den Misserfolg in seiner bekannten Weise Luft machen wollte. Aber ich ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.
„Tröste dich, lieber Halef! Ich brauche das Fehlende nicht. Ich lese den Brief auch so.“
„So ist es also ein Brief? An wen?“
„An mich.“
„Maschallâh! An – – dich! Also darum deine Aufregung! So steht wohl dein Name darauf?“
„Nein.“
„Woher weißt du dann, dass – – ach so!“, unterbrach er seine Frage. „Du schließt es wahrscheinlich aus der Unterschrift! Von wem ist denn der Brief?“
„Von Marah Durimeh.“
„Allâh kerim! Von unserer alten, lieben Freundin! Das muss ich sehen! Sihdi, zeig mir den Namen!“
„Er steht nicht da.“
„Er – steht – nicht – – da?“
„Nein. Wenn mein Name und die Unterschrift Marah Durimehs überhaupt enthalten waren, so standen sie auf dem fehlenden Teil.“
„So folgerst du wohl aus der Handschrift, dass der Brief von Marah Durimeh kommt?“
„Nein, es ist nicht ihre Handschrift, die ich kenne. Sie hat das Schreiben aus irgendeinem Grund nicht selber angefertigt, sondern durch jemand anderen anfertigen lassen.“
„Aber dann ist es mir rätselhaft, wie du zu dem mir ganz und gar unbegreiflichen Schluss kommst, dass der Brief für dich, ausgerechnet für dich bestimmt ist.“
„Da, lies selbst!“
Ich drückte ihm die beiden Zettel in die Hand. Er buchstabierte eine Weile an den arabischen Zeichen herum, wurde aber der Sache bald überdrüssig.
„Sihdi, daraus werde ich nicht ein bisschen klug. Du weißt, dass ich mich nicht mit Rätselraten befasse, und kannst nicht von mir verlangen, dass ich an diesen kläglichen Überresten herumknabbere wie ein Hund an den Knochen, die ihm sein Herr übriggelassen hat. Übrigens weißt du genau, dass Kurdisch nicht meine Glanzseite ist.“
„Das weiß ich freilich und ich mute dir darum diese Gedankenarbeit gar nicht zu. Du wirst aber sehen, dass das Ding gar nicht so schwierig ist.“
Zum besseren Verständnis soll der Brief hier in abendländischer Schreibart, also von links nach rechts, wiedergegeben werden.
Melak a d ................ a khwa
be hei ................ en Aqil
ek dehab ................ zin sil
pur wa emr ................ bo min
„Kennst du, Halef“, begann ich mit der Entzifferung, „den Satz: ‚Melak a ditir, an Scheitan a ta khwa?‘“
„Natürlich! Diese Worte hat Marah Durimeh ja in dein Notizbuch geschrieben. Ich habe sie mir gut gemerkt.“
„Nun, da stehen sie wieder.“
„Was? Wo?“
„Da auf den Papierschnitzeln, die du noch in der Hand hast.“
Halef warf einen Blick auf das Geschriebene, dann blitzte es verständnisvoll in seinen Augen auf.
„Maschallâh! Du hast Recht. Jetzt, da du meine Nase auf die Fährte gestoßen hast, sehe ich ein, dass die erste Zeile nicht anders heißen kann.“
„Diese Worte haben mich mehr davon überzeugt, dass dieser Brief für mich bestimmt ist, als wenn ich meinen Namen oder die Unterschrift Marah Durimehs selber gelesen hätte.“
„Hm! Es wäre aber immerhin möglich, dass auch noch andere außer uns diese Worte kennen.“
„Ohne Zweifel! Aber du vergisst den Boten.“
„Wieso?“
„Marah Durimeh sendet einen Boten mit diesem Brief. Denke dir eine Linie von der Gegend, in der sich die Absenderin aufhalten muss, bis hierher und führe sie dann weiter! Wohin kommst du dann?“
„Allâh akbâr – Gott ist groß! Jetzt weiß ich, wo du hinaus willst. Die Linie würde geradewegs zu den Weidegründen der Haddedihn führen.“
„Glaubst du, dass in dieser Richtung außer uns noch eine andere Person lebt, an die der Brief gerichtet sein könnte?“
„Ausgeschlossen! Sihdi, fahre weiter! Ich folge dir wie ein junges Fohlen seiner Mutter, von der es lernen soll.“
„Die nächsten Worte lauten: ‚be hei‘. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich ergänze: ‚be heiidi‘ und übersetze: komm sogleich!“
„Kuwajjis – vortrefflich!“
„Die folgenden Worte fehlen. Sie enthielten wohl die Ortsbestimmung, wohin ich mich zu wenden hätte. Aber wir können sie entbehren, denn wir haben ja den Namen der Person, die ich aufsuchen soll, wenn der Name auch nicht mehr ganz erhalten ist.“
„Sihdi, sollte – sollte am Ende gar unser Freund Ssali Ben Aqil gemeint sein?“
„Sieh, wie scharf du auf einmal denken kannst“, lachte ich. „Er, und nur er kann gemeint sein. Und das ist der zweite Grund, warum ich von allem Anfang an wusste, dass ich der Empfänger des Schreibens sein sollte. Neu ist mir nur, dass sich Ssali und die Absenderin kennen. Das war früher nicht der Fall, sonst hätte Ssali es mir sicher mitgeteilt.“
„Sihdi, ich bin gespannt, wie es weitergeht. Was bedeuten wohl die nächsten Worte?“
„Auch sie sind nicht vollständig. Es muss wohl heißen: ‚ek dehabini wi‘ – wenn du ihn lieb hast. Ssali muss sich also in einer Gefahr befinden, und zwar in keiner kleinen, sonst würde sich Marah Durimeh wohl nicht auf meine Liebe zu ihm berufen.“
„Könnte man nicht denken, dass es heißen muss: wenn du mich lieb hast?“
„Natürlich könnte man so deuten, aber nur dann, wenn man Marah Durimeh nicht kennt. Bei ihrem zurückhaltenden, herben Wesen würde sie sich nie und nimmer auf meine Liebe zu ihr berufen. Das würde ihr zu gefühlsselig erscheinen. Dafür kenne ich auch ihre Anspruchslosigkeit zu gut.“
„Höre, Sihdi, nennst du das anspruchslos, wenn sie dir zumutet, alles liegen und stehen zu lassen und einen Ritt nach dem gefährlichen Kurdistan zu unternehmen?“
„Das ist mir eben ein Beweis dafür, dass es sich nicht um sie, sondern um jemand handelt, der ihr sehr nahe steht. Dieser Jemand ist natürlich Ssali Ben Aqil, der sich in Bedrängnis befindet, was die folgenden zwei Silben zeigen. ‚Zin sil‘ gibt keinen Sinn; es kann nur ‚mezin sil‘ gelautet haben, und das heißt eben: große Bedrängnis.“
„Sihdi, das Dunkel beginnt sich immer mehr zu lichten.“
„Es wird bald die volle Helle des Tages herrschen. Denn nachdem wir uns einmal über die Hauptsache im Klaren sind, folgt das Übrige leicht und wie von selber. Ssali Ben Aqil ist also in großer Bedrängnis. Ja, noch mehr, sein ganzes Lebenswerk ist in Frage gestellt.“
„Steht das auch in dem Brief?“
„Wo denn sonst? Es geht nämlich weiter: ‚pur wa emr‘ – mehr als das Leben. Was kann das bei der geistigen und religiösen Einstellung unseres Freundes anderes heißen, als dass seine ganze Lebensaufgabe, die er sich gestellt hat, in Gefahr ist zusammenzubrechen?“
„Maschallâh! Das geht alles so leicht bei dir, Sihdi, als ob nicht Marah Durimeh, sondern du den Brief geschrieben hättest. Aber was sollen die beiden letzten Silben ‚bo min‘ bedeuten?“
„Das kann ich nicht mit solcher Sicherheit behaupten wie das Vorhergehende. Aber ich vermute, dass der Sinn der Stelle gewesen ist: Wenn du den Auftrag ausgeführt hast, den ich dir gegeben habe, dann komm zu mir! ‚Bo min‘ heißt nämlich ‚zu mir‘.“
„Hamdulillâh! Das schwere Werk ist vollbracht! Ich bin mir vorgekommen wie ein Mann, dem zugemutet wird, herauszubringen, was in einer leeren Tandschara13 gewesen ist, Sirup oder Buttermilch. Wenn du mir in meiner Not nicht beigesprungen wärst, so würde ich noch heut übers Jahr ratlos in den leeren Topf gucken.“
„Wollen wir das Ergebnis noch einmal zusammenfassen. Zuerst kommt die nur uns bekannte geheime Losung, die wohl auch den Zweck gehabt hat, den Boten zu beglaubigen. Dann folgt der eigentliche Brief, der ungefähr gelautet haben muss: Komm sofort zu Ssali Ben Aqil, wenn du ihn lieb hast. Er befindet sich in großer Bedrängnis. Mehr als sein Leben steht auf dem Spiel. Dann aber komm zu mir!“
Kara und Omar Ben Sadek, die stumm, aber in großer Spannung zugehört hatten, gaben jetzt ihrer Zustimmung lauten Beifall. Halef aber wollte noch mehr wissen.
„Sihdi, du hast den leeren Topf mit köstlichem Sirup gefüllt. Aber mir geht noch eine ganze Kamellast von Fragen im Kopf herum. Weißt du, wo die Bebbeh-Kurden gegenwärtig ihre Weidegründe haben?“
„Ja, die Abteilung, zu der Ssali Ben Aqil gehört, hat ihre früheren Wohnsitze aufgegeben und ist an den Urmia-See gezogen.“
„Welcher Art wird wohl die Bedrängnis sein, in der sich unser Freund befindet?“
„Darüber bin ich mir ebenso wenig klar wie du. Der Bote hätte wohl darüber Aufschluss geben können, aber der ist tot.“
„Ja di’ano – schade! Was hätte uns der Mann alles erzählen können! Zum Beispiel, wo sich Marah Durimeh aufhält. Das müssen wir doch wissen, wenn wir sie besuchen wollen. Oder ist es dir vielleicht bekannt?“
„Nein. Ich habe keine Ahnung, wo diese merkwürdige Frau in den Zwischenpausen wohnt, von denen ihr Wandern landauf, landab naturgemäß unterbrochen sein muss. Und ich bezweifle, dass ihr Bote besser unterrichtet war als wir. Es ließe sich nämlich ganz gut denken, dass sie ihre Botschaft dem nächstbesten vertrauenswürdigen Mann anvertraute, den sie irgendwo traf, sodass er gar nicht im Stande gewesen wäre, uns irgendwelche Auskunft zu geben.“
„Das wäre allerdings möglich. Rätselhaft ist mir nur, wie Marah Durimeh wissen konnte, dass du gerade jetzt bei den Haddedihn warst.“
„Mir nicht. Gerade du hast dafür gesorgt, dass Marah Durimeh um mein Hiersein recht gut wissen konnte.“
„Wieso?“
„Nun, wer hat denn jedem, der es hören wollte, von unseren Erlebnissen auf unserer Reise nach Mekka erzählt? Glaubst du, dass solche Neuigkeiten innerhalb der Zelte deiner Haddedihn bleiben werden?“
„Hm!“, brummte Halef nachdenklich.
„Und erinnere dich, wie es vor zwanzig Jahren war! Wir sind damals doch sofort zur Befreiung Amad el Ghandurs aufgebrochen und haben schnelle Tagesritte zurückgelegt. Und doch ist die Kunde von der Schlacht im ‚Tal der Stufen‘ schneller gewesen als wir.14 Überallhin ist sie uns vorangeeilt, sogar bis ins tiefste Kurdistan hinein.“
„Sihdi, du verstehst es, alle meine Bedenken zu zerstreuen wie Mücken, die die Flucht vor dem Qualm ergreifen, der entsteht, wenn am Abend ein Lagerfeuer von Kamelmist angefacht wird.“
„Das ist ein wunderschöner Vergleich, lieber Halef“, lachte ich.
„Meine Vergleiche sind alle prachtvoll. Und du hast gar nicht zu lachen. Denn mein Vergleich spielte natürlich nur auf die Mücken an, nicht auf den Kamelmist, zu dem ich in deinen Worten nicht die geringste Beziehung finde.“
„Das beruhigt mich. Ich danke dir.“
„Bitte.“
Nun holte Halef tief Atem. Sicher kam jetzt die Hauptsache!
„Was wirst du nun beginnen?“, forschte er weiter.
„Kannst du noch fragen? Natürlich werde ich dem Hilferuf Marah Durimehs Folge leisten.“
„Natürlich, sagst du? Aber deine Pflicht, die dich in die Oasen deiner Heimat zurückruft?“
„Meine Pflicht liegt augenblicklich nicht in Dschermanistan, sondern in Kurdistan.“
„Aber die Gebieterin deines Herzens? Wird sie damit einverstanden sein?“
„Sie wird es. Ja, sie wäre die Letzte, die mich von der Erfüllung dessen, was ich als heilige Pflicht erkenne, abhalten würde.“
„So ist also deine Reise nach Kurdistan eine fest beschlossene Sache?“
„Ja.“
Da machte sich die Spannung Halefs in einem gewaltigen Seufzer der Erleichterung Luft.
„Hamdulillâh! Allah sei Lob und Preis! Sihdi, nun entsprichst du wieder ganz dem Bild, das ich von dir im Herzen trage. Du wirst nach Kurdistan reiten, anstatt Tinte zu trinken und Gänsefedern zu kauen, und wir werden Heldentaten vollbringen, wie wir sie noch nie…“
„Du sagst ‚wir‘. Wen meinst du denn damit?“
„Maschallâh! Kannst du im Ernst fragen? Natürlich meine ich dich und mich, vielleicht auch noch meinen Sohn Kara.“
Da war es heraus, was ich erwartet und – gefürchtet hatte. Denn so lieb mir die Begleitung Halefs und seines Sohnes auch gewesen wäre, so gab es diesmal doch Gründe, die entschieden davon abrieten, die beiden mitzunehmen.
„Von dir ist im Brief Marah Durimehs nicht die Rede“, widersprach ich daher.
„Malesch – das tut nichts. Wie sollte auch Marah Durimeh etwas so Selbstverständliches eigens erwähnen? Oder ist es vielleicht nicht so? Gehöre ich nicht zu dir wie das Husân15 zur Arabaji16, ohne das dieses nützliche Fuhrwerk zum wertlosen Sanduk, zum ganz und gar bewegungslosen, schwerfälligen Kasten wird? Hat man jemals von dir allein reden hören, oder ist nicht vielmehr neben dem Namen Kara Ben Nemsi immer auch der seines treuesten Freundes genannt worden, des Scheiks der Haddedihn vom großen Stamm der Schammar, Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah?“
„Das mag alles richtig sein. Aber du vergisst die Thar.“
„Die Blutrache? Was hat die mit mir zu tun?“
„Sehr viel! Stehen nicht die Bebbeh, zu denen ich soll, mit den Haddedihn in Blutrache? Und aus wessen Pistole stammte denn die Kugel, die einst Scheik Gasahl Gaboya niederstreckte? Etwa nicht aus der deinen?17 Siehst du nicht ein, dass es gerade für dich das größte Wagnis, ja die verwegenste Tollkühnheit bedeutet, den Bluträchern unter die Augen zu treten?“
„Ach, Sihdi, wer spricht denn von diesen alten Sachen!“, meinte Halef sorglos. „Seitdem ist die Thar längst eingeschlafen.“
„Halef, sei nicht leichtsinnig! Eine Thar mag eingeschlafen sein, aber deshalb ist sie nicht tot, sondern sie kann beim geringsten Anlass wieder erwachen. Erinnere dich an unser Erlebnis vor Jahren, als wir das Grab Mohammed Emins besuchten!18 Mit knapper Not entrannen wir damals dem Verderben.“
„Du siehst zu schwarz, Sihdi! Oder du tust nur so, um mir bange zu machen. Aber das greift bei mir nicht im Geringsten. Ich weiß, wo mein Platz ist: an der Seite meines Sihdi, dessen Beschützer ich immer gewesen bin und auch in aller Zukunft sein werde.“
Da war nichts zu machen. Ich wandte mich also an Kara Ben Halef: „Kara, mit deinem Vater ist in dieser Sache nicht zu verhandeln. Ich bitte dich von Herzen, rede du ihm zu, damit er sein Vorhaben aufgibt, das ihm leicht verhängnisvoller werden kann, als er glaubt. Ich wiederhole: Die Gefahren, die auf ihn lauern, sind weitaus größer als die, denen ich entgegengehe.“
Der Angeredete sah eine Weile vor sich nieder und ich sah, wie sich auf seinen jugendlichen, offenen Zügen die widersprechendsten Gefühle malten. Dann hob er mit einem Ruck sein Haupt und blickte mir frei ins Gesicht.
„Sihdi, du weißt, dass ich dich verehre wie außer meinen Eltern keinen Menschen auf der ganzen Welt, und ich glaube dir, wenn du sagst, dass meinen Vater außerordentliche Gefahren erwarten. Aber sag mir aufrichtig: Wird die Gefahr für dich dadurch größer, wenn mein Vater dich begleitet?“
„Nein, Kara, das kann ich freilich nicht behaupten.“
„Tajib – gut! Und wenn du allein gehst, bist du dann vielleicht außer aller Gefahr, sodass du keine Hilfe brauchst? Hast du nicht eben zugegeben, dass die Bebbeh mit den Haddedihn in Blutrache stehen? Wird ihre Thar vor dir, dem vornehmsten und liebsten Gast der Haddedihn, Halt machen? Oder wird sie sich nicht erst recht auf dich stürzen, weil die Bebbeh glauben werden, dass sie dadurch uns, ihre Feinde, am empfindlichsten treffen werden?“
Ich musste Kara Ben Halef Recht geben, denn ich hatte mir im Stillen bereits dieselben Gedanken gemacht. Ich betrachtete mich ja selber längst als einen Stammesangehörigen der Haddedihn und ich durfte erst recht nicht erwarten, dass die Bebbeh mich besser als einen solchen behandeln würden. Umso mehr, als ich mich vor Jahren gezwungen gesehen hatte, ihnen feindlich entgegenzutreten. Zwar sprach mich mein Gewissen von jeglicher Schuld an dem damals vergossenen Blut frei, aber was half das diesen Halbwilden gegenüber, für die nur die nackten Tatsachen Geltung besaßen?
Kara schien meine Gedanken zu erraten, denn er fuhr fort:
„Die Sache steht nun so: Entweder ist die Thar tot, dann hast du nichts zu befürchten, aber ebenso wenig mein Vater, und es besteht also kein Grund, seine Begleitung zurückzuweisen. Oder aber die Blutrache gilt noch heute, dann droht dir die gleiche Gefahr wie meinem Vater und einem jeden von uns, und wir müssten vor uns selber ausspucken, wenn wir dich verlassen würden. Darum bitte ich dich, lieber Sihdi, nimm meinen Vater mit und – nimm auch mich mit! Denn wenn wirklich Gefahr vorhanden ist – und ich glaube, dass es sich so verhält –, so gehöre ich zu meinem Vater.“
„Was sagst du jetzt, Sihdi?“, rief Halef mit glänzenden Augen. „Hat mein Sohn nicht gesprochen wie ein Taleb19, der die gesamte Weisheit des Abend- und des Morgenlandes beherrscht? Und sind die Gründe, die er vorgebracht hat, nicht so einleuchtend und zwingend, als hätte er die ganze Ilm el fikh20 auswendig gelernt? Bringst du es jetzt noch über dich, nein zu sagen?“
„Hm!“
„Mit welchem Recht willst du mich übrigens zurückweisen? Mit der einzigen Begründung, der Brief sei an dich gerichtet. Wie nun, wenn ich das in Abrede stelle? Ich behaupte, Marah Durimeh konnte in der kurzen Zeit unmöglich von deiner Anwesenheit bei uns erfahren haben und ein Bote von ihr hätte nicht beinahe bis zu den Weidegründen der Haddedihn gelangen können. Ja, ich behaupte, dass der Brief nicht für dich, sondern für mich bestimmt ist. Nicht wahr, jetzt bist du es, der vor Erstaunen die Augen aufreißt wie eine Dschädschi21, der man die Eier, die sie ausbrüten sollte, heimlich unter dem Leib hinweggenommen hat.“
„Ich bin allerdings begierig, zu erfahren, wie du zu dieser Verdrehung der Tatsachen kommst.“
„Nicht ich mache mich dieser Verdrehung schuldig, sondern du“, versicherte er eifrig.
„Das musst du mir erst beweisen.“
„Tikram – gern. Also höre! Marah Durimeh bedarf aus irgendeinem Grund für Ssali Ben Aqil der Hilfe. Ihr erster Gedanke bist du, das gebe ich gern zu. Aber du bist ihr unerreichbar. Sie hat keine Ahnung, dass du gerade jetzt in der Dschesireh bist. Was ist natürlicher, als dass ihr nächster Gedanke auf mich, deinen Freund und Beschützer, fällt?“
„Hm, ich bezweifle, dass die Worte des Briefs ‚wenn du ihn liebst‘ sich auf dich beziehen.“
„Auf wen denn sonst? Habe ich etwa Ssali Ben Aqil nicht lieb? Bin ich nicht dabei gewesen, als wir ihn und seinen Vater vor Jahren in der Musallah el Amwât22 vom grässlichsten Tod befreiten? Ich sage dir, ich habe ihn lieb gewonnen, unendlich lieb, fast so lieb wie dich.“
„Diese Liebe muss aber eine sehr heimliche sein, denn du hast noch nie ein Wörtlein von ihr verlauten lassen.“
„Muss das sein? Liegt die wahre Liebe vielleicht auf der Spitze der Zunge oder nicht vielmehr tief im Herzen? Es genügt, dass die beiden Hauptpersonen um diese Liebe wissen, nämlich ich und Marah Durimeh.“
„Aber unsere Freundin hat die Worte, die sie als Talisman bezeichnete, in mein, nicht dein Notizbuch geschrieben. Also kann der Brief nur an mich gerichtet sein.“
„Wie falsch! Sihdi, ich muss dir sagen, dass die Breite meines Verstands heute der Länge des deinigen bedeutend überlegen ist. Marah Durimeh weiß doch, dass du vor mir, deinem Freund, kein Geheimnis hast, und kann sich also denken, dass ich von ihrem Talisman Kenntnis habe. Folglich kann sie die Worte ganz gut als Erkennungszeichen für mich niedergeschrieben haben.“
„Attamâm – nicht übel!“, lachte ich. „Unter diesen Umständen muss ich froh sein, wenn du mich, den die Sache gar nichts angeht, überhaupt mitnehmen willst.“
„Sabakt ifkari – du bist meinen Gedanken zuvorgekommen. Nicht du hast mir, sondern ich habe dir zu erlauben, mich zu begleiten. Aber ich will nicht so hartherzig sein wie du und erteile dir hiermit feierlich die Genehmigung.“
„Mamnûn – sehr verbunden!“
„Bitte! Ich nehme dich umso lieber mit, als wir dann sicher nicht über den Mangel an Abenteuern zu klagen haben werden. Hamdulillâh! Das Leben des Mannes ist doch am schönsten dann, wenn er es nicht als ein Geschenk betrachtet, sondern als einen kostbaren Siegespreis, um den er tagtäglich zu ringen hat. Sihdi, freust du dich nicht auch?“
„Denkst du denn gar nicht an deine Hanneh?“, wich ich der Beantwortung seiner Frage aus.
„Hanneh? Was hat Hanneh mit unserer Reise zu tun?“
„Wird sie damit einverstanden sein, dass du und Kara mich begleiten?“
„Sie wird es. Oder glaubst du, dass die Beglückerin meines Daseins sich von der deinigen übertreffen lassen will? Auch meine Hanneh wird ihren Halef nie von etwas abhalten, was er als seine Pflicht erkannt hat. Omar Ben Sadek mag zurückreiten und die Nachricht ins Lager der Haddedihn bringen.“
Der Genannte straffte seine Gestalt in die Höhe. „Du irrst, Halef. Ich werde nicht zurückreiten, denn ich gehe mit euch.“
„Was fällt dir ein? Einer von uns muss zurück, und da ich und Kara mit dem Sihdi gehen, musst du die Botschaft übernehmen.“
„An Boten wird es dir nicht fehlen, wenn wir in Mossul sind, das wir am Nachmittag erreichen. Wenn du dann einen Brief schreibst, ist es vollständig gleich, ob ich oder ein anderer ihn überbringt.“
„Maschallâh! Da hast du Recht. Ich habe auch gegen deinen Wunsch nichts einzuwenden, aber ich weiß nicht, ob unser Sihdi damit einverstanden ist. Wende dich an ihn!“
Der Schlaukopf! Zuerst hatte er getan, als ob er zu bestimmen hätte. Jetzt, da er seinen Willen durchgesetzt hatte, wollte er wieder mich zu Wort kommen lassen.
Ich schwieg.
Ich suchte mir über das merkwürdige Gefühl klar zu werden, das mich beherrschte, seit Halef mir seinen Willen erklärt hatte, mich begleiten zu wollen. Es war nicht Angst, es war nicht Furcht, es war eher wie der sechste Sinn des Westmanns, wie er sich mehr als einmal während meines vielbewegten Wanderlebens geäußert hatte, es war wie die Ahnung von etwas Unfassbarem, Unnennbarem. Ich hatte gelernt, diesem sechsten Sinn zu lauschen, denn jedes Mal, wenn ich es unterließ, war es zu meinem Schaden gewesen.
Deshalb konnte es mir auch nicht einfallen, mich über dieses Gefühl, über das vielleicht jeder andere gelacht hätte, hinwegzusetzen.
„Halef, ich kann mich nicht näher ausdrücken, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass es für mich und für euch, also für uns alle besser wäre, wenn ihr mich allein gehen ließet.“
Der Hadschi sah mich eine Weile prüfend an, dann fragte er misstrauisch: „Ist das dein Ernst? Oder sagst du nur so, um uns umzustimmen?“
„Nein, Halef, es ist wirklich mein Ernst.“
Der Hadschi nickte ein paarmal vor sich hin, dann meinte er:
„Schi adschib – sonderbar! Ich weiß von dir, dass es Vorahnungen gibt, die wohl zu beachten sind. Aber diesmal bitte ich dich, dieser Stimme kein Gehör zu schenken. Oder ist sie etwa unfehlbar?“
„Das nicht. Aber ich habe mich gewöhnt, daran zu glauben, und bin immer gut dabei gefahren.“
„Siehst du, du gibst selber die Möglichkeit eines Irrtums zu.“
„Aber wenn ich dich recht, recht innig bitte, von deinem Vorhaben abzusehen?“
„Sihdi, wenn du in diesem Ton zu mir sprichst, dann bin ich im Stande, alles, alles zu tun, was du von mir verlangst. Aber ich beschwöre dich: Bestehe nicht auf deiner Bitte, denn es würde mich unglücklich machen, wenn ich nicht mit dir reiten dürfte.“
„Battil – hör auf!“, stellte ich mich unwillig, obgleich mich diese Anhänglichkeit tief rührte. „Meinetwegen brauchst du nicht unglücklich zu werden, denn du sollst mit mir reiten. Auch Kara darf natürlich mit und Omar Ben Sadek, wenn er darauf besteht.“
Seltsam! Kaum hatte ich das Jawort gegeben, so war die unbehagliche Beklemmung gewichen, die mich eben noch beunruhigt hatte. Vielleicht hatte Halef Recht und das Unterbewusstsein täuschte mich in diesem Fall. Schließlich, wenn ich die Sache rein verstandesmäßig betrachtete, sprach manches dagegen, dass ich die gefährliche Reise allein unternahm. Die Hilfe der drei Freunde war nicht zu unterschätzen. Halef handelte längst nicht mehr so unüberlegt wie in früheren Zeiten, was ich dem Umstand zuschrieb, dass er sich in Gegenwart seines Sohnes alle Mühe gab, sich zu beherrschen. Kara war über sein Alter hinaus bedächtig und doch auch tatkräftig, wie sich auf unserer letzten Reise nach Mekka gezeigt hatte. Und Omar Ben Sadek – nun ich hatte in den langen Jahren, seitdem ich ihn kannte, oft Gelegenheit gehabt, seine Zuverlässigkeit in allen Lagen zu erproben.
Meine Zustimmung löste bei den Begleitern helle Freude aus, die sich allerdings nur bei Halef laut äußerte. Kara und Omar schwiegen, aber ihre Augen führten eine umso beredtere Sprache.
Während unserer Beratung, die in einiger Entfernung von der Stelle gehalten worden war, wo wir den Ermordeten gefunden hatten, hatte sich der Geier wieder in der Nähe der Leiche niedergelassen, von der wir ihn aufgescheucht hatten. Ein Schuss aus meinem Stutzen befreite uns von seiner lästigen Gegenwart.
Dann bedeckten wir die Leiche des Ermordeten so hoch mit Steinen, dass kein Geier und kein Schakal an sie kommen konnte, und sprachen ein stilles Gebet für den, dessen Lebensweg hier ein so rasches Ende gefunden hatte. Halef sprach die Meinung aus, wir sollten den Mördern nachjagen und sie wegen des Mordes zur Verantwortung ziehen, ich war indes anderer Ansicht. So gern ich unter anderen Umständen den Boten Marah Durimehs an seinen Mördern gerächt hätte, hier gab es einen wichtigen Grund, die Bestrafung der Täter Gott zu überlassen. Der Auftrag Marah Durimehs brannte mir auf den Nägeln, und eine Verfolgung der Mörder hätte uns voraussichtlich mehrere Tage weggenommen.
Die Sonne stand bereits im Westen, als wir durch halb verfallene Mauern in Mossul einritten.