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2. Vom Tigris zum Zab

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Mossul hat längst nicht mehr die Bedeutung, die dieser Stadt in früheren Zeiten zukam. Ehedem ein blühender Stapelplatz für orientalische Spezereien, arabischen Kaffee und persische Waren, hat sein Handel in neuerer Zeit sehr gelitten, und die jeweiligen türkischen Befehlshaber haben das Ihrige dazu beigetragen, dass die Einwohner verarmten. Die Stadt selber mit ihren krummen Gassen und den meist aus Erde bestehenden und mit Kalk bestrichenen Häusern bietet dem Fremden, besonders dem Europäer, wenig, ausgenommen vielleicht dem Altertumsforscher, der in den jenseits des Tigris liegenden Ruinen von Ninive ein reiches Feld für seine Betätigung findet.

Wir benutzten die letzten Stunden des Tages zum Ankauf verschiedener für die Reise notwendiger Dinge. Halef schrieb einen ausführlichen Brief an seine Hanneh und besorgte einen zuverlässigen Boten zu den Haddedihn. Dann hielt uns nichts mehr in der Stadt zurück und der nächste Morgen sah uns bereits auf der Straße nach Baadri.

Bezüglich des Wegs hatten wir uns dahin geeinigt, dass wir bis Lizân23 am Großen Zab24 der Linie folgen wollten, die uns noch von unserer ersten Reise her in guter Erinnerung war.25 Von Lizân aus gedachten wir durch die Gebiete Tkhoma und Baz und durch die Schluchten des Dschelo Dagh nach dem Gebirgszug vorzudringen, dessen Kamm entlang der persischen Grenze verläuft und der zugleich die Wasserscheide zwischen dem Tigris und dem Urmia-See bildet, in dessen Nähe wir die Bebbeh gegenwärtig zu suchen hatten.

Über das, was wir bis Lizân erlebten, könnte ich mit Leichtigkeit mehrere Kapitel füllen, da es aber mit dem eigentlichen Inhalt dieses Bandes nur in losem Zusammenhang steht, muss sich der Leser mit wenigen Worten begnügen.

Dieser Teil unserer Reise wird sich für immer unauslöschlich meiner Erinnerung einprägen. Ich muss sagen, es war ungemein reizvoll für uns, mit so vielen Personen ein Wiedersehen zu feiern, die uns vor Jahren in irgendeiner Weise ans Herz gewachsen waren. Wir hatten damals mehr als einmal Gelegenheit gehabt, in die Geschicke von vielen bestimmend und rettend einzugreifen, und wir durften daher, ohne unbescheiden und anspruchsvoll zu sein, an mehreren Orten auf eine begeisterte Aufnahme rechnen.

Und so war es auch.

Schon in Baadri, wo noch immer das weltliche Oberhaupt der Teufelsanbeter wohnte, erregte unser Kommen eine stürmische Freude. Zwar lebte Mir Scheik Khan26, der schon bei unserem ersten Hiersein hoch in den Jahren gestanden hatte, nicht mehr, er war ‚verwandelt‘, wie die Jesidi sich beim Tod eines der Ihrigen ausdrücken, dafür erlebten wir aber die Freude, Ali Bei, der damals noch jung gewesen war, frisch und munter und als Vater einer zahlreichen Familie vorzufinden. Er hatte sich als weltliches Oberhaupt der Jesidi behauptet. Die Art und Weise, wie er damals, freilich mit meiner Unterstützung, mit dem Heer des Mutessarif umgesprungen war, der die Jesidi mitten im Frieden angegriffen hatte, verschaffte ihm bei seinem Glaubensgenossen das höchste Ansehen. Und er hatte es geschickt verstanden, all die Jahre über seine Würde gegen Freund und Feind zu wahren.

Wir blieben einen Tag bei den Jesidi, und als wir schieden, gab uns das halbe Dorf eine Stunde weit das Geleit.

Am nächsten Abend hielten wir in Spandareh. Welche Freude für uns, als wir erfuhren, dass unser damaliger Herbergsvater, der Kiajah von Spandareh, noch lebte! Seine Freude, uns wiederzusehen, war indes noch größer. Die hellen Tränen rannen ihm in den Bart, als er der Reihe nach einen nach dem anderen von uns umarmte. Wie sich der Leser erinnern wird, war der Bei von Gumri im Tal Berwari sein Schwiegersohn. Ich hatte dessen Gastfreundschaft genossen und mir hatte er bei den damaligen Streitigkeiten zwischen Kurden und Chaldani seine Freiheit, vielleicht sogar sein Leben zu verdanken gehabt. Selbstverständlich hatte der Wirt von Spandareh davon erfahren und nun suchte er durch alle Mittel, die ihm zu Gebote standen, seine Dankbarkeit zu zeigen. Bis spät in die Nacht hinein saßen wir mit ihm und seinen Angehörigen zusammen und ließen die damaligen Erlebnisse, freilich in der Schilderung und Färbung, wie es Halef gefiel, nochmals in der Erzählung an uns vorüberziehen. Ich erfuhr, dass der Bei der Berwari-Kurden sich des besten Wohlseins erfreute, aber auch unser Wirt hörte mit Genugtuung von den Diensten, die uns sein Dojan auf der weiteren Reise geleistet hatte.

Da uns ein Besuch der Feste Gumri, die abseits unserer Reiselinie lag, zu viel Zeit gekostet hätte, schickte der Kiajah noch in der Nacht einen Eilboten an seinen Schwiegersohn mit der Nachricht unserer Ankunft und der Bitte, uns bis Dura entgegenzukommen. Er ließ es sich auch nicht nehmen, uns bis dorthin seine Begleitung anzubieten. Einerseits wollte er die Freude des Beisammenseins möglichst lange genießen, andererseits erfasste er die Gelegenheit, den Mann seiner Tochter nach langer Zeit wieder einmal zu sehen. Natürlich nahmen wir sein Anerbieten mit Dank an.

Und wen hielt unser Wirt an der Leine, als wir am nächsten Morgen in den Sattel stiegen? Das war unser Dojan, wie er leibte und lebte! Wenigstens glich das Tier, das uns mit klugen Augen anblickte, unserem unvergesslichen Windspiel an Größe und Färbung aufs Haar.

Halef stieß bei seinem Anblick einen Ruf des Entzückens aus und auch ich konnte meine Überraschung nicht verbergen. Der Alte weidete sich einen Augenblick an unserem Staunen, dann wandte er sich an mich:

„Emir, ich habe mit Freude vernommen, welchen Nutzen dir mein Dojan damals gebracht hat. Ich habe die Ahnung, dass du auch jetzt wieder in manche Lage kommen wirst, wo du der Hilfe eines treuen Freundes nicht entraten kannst, selbst wenn dieser Freund nur ein Hund ist. Ich bitte dich daher, mich nicht dadurch zu betrüben, dass du mein Geschenk zurückweist.“

„Freund, du weißt nicht, welche Freude du mir damit machst“, sagte ich, und ich glaube, meine Augen haben dabei wirklich geglänzt. „Ich weiß am besten den Wert deines Geschenks zu schätzen. Aber wie hast du in der Schnelligkeit das Tier aufgetrieben, und gerade dieses hier?“

Der Alte lächelte.

„Weißt du nicht, dass ich eine ganze Zucht dieser Tiere, die Ihresgleichen nicht haben, unterhalte? Während ihr schlieft, war ich draußen in meinem Zwinger und habe dieses Tier für dich ausgesucht. Ich glaube, es wird hinter eurem Dojan nicht zurückstehen.“

„Wie heißt das Tier?“

„Sein bisheriger Name ist gleichgültig. Nenne es Dojan! Du hast den früheren Träger dieses Namens geliebt; möge diese Liebe auch auf seinen jetzigen Träger übergehen!“

„Sie braucht nicht erst zu kommen, sie ist schon da, unsere Liebe“, platzte Halef los, der seine Begeisterung nicht mehr zurückhalten konnte. „Wahrhaftig, das ist ein Tier, bei dem man wirklich Maschallâh rufen muss.“

Der Araber hat die Gewohnheit, bei allem, was ihm sehr gefällt, Maschallâh zu rufen. Das gehört zum ‚Beschreien‘, und wer das nicht tut, dem fehlen die notwendigen Umgangsformen.

Auch Kara und Omar Ben Sadek gaben ihrer Bewunderung den pflichtschuldigen Ausdruck. Unser Wirt hörte andächtig zu und meinte dann zu mir: „Wie du es anzustellen hast, den Hund an dich zu gewöhnen, brauche ich dir nicht eigens zu sagen; du weißt es wohl noch von früher her. Allah lasse dich an ihm Freude über Freude erleben!“ – –

Über das Zusammentreffen mit dem Bei von Gumri zwei Tage später in Dura kann ich mit wenigen Worten hinweggehen. Er erwartete uns an der Spitze von hundert Kurden am Eingang des Dorfes und ließ es sich nicht nehmen, uns bis Lizân das Ehrengeleit zu geben. Wir waren von Span-dareh bis Dura auf dem kürzesten Weg geritten, hatten also Amadijah, die Festung, in der der Sohn Mohammed Emins gefangen gehalten worden war, links liegen gelassen. Einmal wollten wir Zeit einsparen und dann gab es in der Festung nur eine einzige Person, an die ich mit Wärme zurückdachte, und das war Selim Agha, der wackere Anführer der Arnauten. Halt! Nicht zu vergessen seine ‚Myrte‘, die holdselige Verkörperung fraulicher Anmut. Ob sie noch an seiner Seite blüht? Ich weiß es nicht, denn ich habe trotz allen Nachfragens nichts von ihnen gehört.

Ein Zug von hundert bis an die Zähne bewaffneten mohammedanischen Kurden durch die Dörfer der chaldäischen Christen hätte in früheren Zeiten die größte Aufregung hervorgerufen. Heute sah man uns ohne jegliches Misstrauen entgegen, ein Zeichen, dass der Friede, der auf Vermittlung Marah Durimehs vor vielen Jahren geschlossen worden war, noch immer bestand. Ich freute mich herzlich über die Zeichen von Wohlstand, die allüberall zu sehen waren. Die Häuser waren nett und reinlich und überschattet von dem weitästigen Walnussbaum; jeder Fußbreit Boden war – ein Zeugnis für den Fleiß der Bewohner – bepflanzt; Obstgärten wechselten ab mit Tabak-, Reis- und Kornfeldern, und an den Hängen der Berge zogen sich ganze Wälder der Galläpfeleiche hin, des für Kurdistan wichtigsten Baums.

Am siebten Tag nach unserem Aufbruch von Mossul zogen wir in Lizân ein. Ja, wir zogen ein, das ist der richtige Ausdruck. Die Kunde von unserem Kommen war uns vorausgeeilt, und als wir die ersten Häuser der Ortschaft zu Gesicht bekamen, sahen wir eine nach Hunderten zählende Menschenmenge versammelt. Zu den Einwohnern von Lizân hatten sich die von Schohrd und der benachbarten Dörfer gesellt, denn nicht nur unsere alten Bekannten waren gekommen, uns zu begrüßen, sondern auch solche, die uns nur vom Hörensagen kannten und sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten, den Emir aus Dschermanistan von Angesicht zu Angesicht zu sehen, von dem so viele wunderbare Erzählungen im Umlauf waren, und seinen getreuen Begleiter, den Scheik der Haddedihn. So seltsam es auch klingen mag, unsere anderweitigen Erlebnisse waren, freilich mit den entsprechenden Zutaten und Übertreibungen versehen, sogar bis in diese abgeschlossenen Berge gedrungen, und gerade diese Erlebnisse in Persien und in der Dschesireh, am Birs Nimrud und am Kulluk der Dawuhdijeh-Kurden, aus dem wir Marah Durimeh befreit hatten27, waren es, die unsere Person mit einem fast überirdischen Strahlenkranz umgaben, mit einem Strahlenkranz, der an den Orten am hellsten leuchtete, die am weitesten vom Schauplatz der Erlebnisse entfernt waren.

Ich hatte das Glück, dem Melek von Lizân, meinem alten Freund, die Hand zu drücken. Auch der Rais von Schohrd war da, der allerdings in all den Jahren ziemlich grau geworden war. Muss ich erst noch versichern, dass auch Ingdscha, die ‚Perle‘, und Madana, die ‚Petersilie‘, nicht fehlten?

Meine erste Frage nach der Begrüßung war nach Marah Durimeh, die Antwort lautete indes sehr unbefriedigend. Sie hatte sich, was noch nie vorgekommen war, seit zwei Jahren nicht mehr in Lizân und in der Nachbarschaft sehen lassen, sodass man sich bereits ihretwegen zu beunruhigen begann – bei ihrem hohen Alter sehr begreiflich. Umso erfreuter zeigten sich alle, als sie durch mich erfuhren, dass Marah Durimeh noch lebte.

Wie bekannt, hatte mir Marah Durimeh geschrieben, ich solle zu ihr kommen, wenn ich meine Aufgabe bei Ssali Ben Aqil gelöst habe. Aber wo ich sie zu suchen habe, dafür war in dem Brief keine Andeutung zu finden. Und wenn ich die Erwartung gehegt hätte, hier Auskunft zu erhalten, so wäre ich schwer enttäuscht worden. Kein Mensch hatte eine Ahnung davon, wo Marah Durimeh in den Monaten wohnte, da sie nicht auf der Wanderung begriffen war. Aber das machte mir am wenigsten Sorge. Marah Durimeh würde schon Mittel und Wege finden, mich zu sich zu holen, wo sie auch sein mochte, und im Übrigen: Ich hatte doch Augen, um zu beobachten, und einen Verstand, um Schlüsse zu ziehen.

Ich hätte den Leuten sehr gern den Gefallen getan, länger zu bleiben, aber ich musste vorwärts. Deshalb brachen wir bereits am nächsten Vormittag nach Tkhoma auf, trotz der Vorstellungen Halefs, der gern noch einen Tag die Huldigungen der anhänglichen Chaldani hätte über sich ergehen lassen. Aber ich blieb unerbittlich. Der Bei von Gumri kehrte mit seinen Leuten um, nachdem wir voneinander wie Brüder Abschied genommen hatten, diesmal wohl fürs Leben. Dafür schlossen sich uns der Rais von Schohrd und zehn seiner Leute an. Wir betraten von jetzt an ein Gebiet, das mir vollständig unbekannt war, und deshalb war mir sein Anerbieten, uns durch den Distrikt Tkhoma bis an die Grenze von Baz zu begleiten, sehr willkommen.

So reizvoll die letzten Tage für mich auch gewesen sein mochten, in unserem kleinen Kreis befand sich jemand, für den sie zur Quelle der überschäumendsten Lebensfreude wurden, und das war natürlich kein anderer als mein kleiner Hadschi Halef. Ich hatte geglaubt, ihn zu kennen, seinen Ehrgeiz, seine Prahlsucht und Ruhmrederei. Aber was ich zuletzt an ihm erlebte, das übertraf alles bisher Dagewesene.

Ich hatte meinen Halef noch nie in so sprühender Laune gesehen wie jetzt. Das Zusammentreffen mit so vielen Personen, die wir von früher her gut kannten, war natürlich Wasser auf seine Mühle, und die immer sich wiederholende Gelegenheit, von uns und von unseren ‚Heldentaten‘ reden zu dürfen, brachten ihn außer Rand und Band. Solche Stilblüten und Übertreibungen, wie er sich jetzt erlaubte, hatte ich noch nie von ihm gehört. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In Baadri war er noch der „gewaltige und tapfere Scheik der Haddedihn vom Stamm der Schammar“; in Spandareh hatte er sich aus eigener Machtvollkommenheit bereits zum „Scheik sämtlicher Stämme der Schammar“ erhoben; zwei Tage später stellte er sich dem Bei von Gumri, um ihm und seinen hundert Kurden gehörig zu imponieren, als „Oberscheik aller Stämme der Dschesireh“ vor; und in Lîzan setzte er all dem die Krone auf, indem er kaltblütig und ohne mit der Wimper zu zucken, seinen atemlos lauschenden Zuhörern die Ente aufband, dass die Scheiks von Nedschd, Hedschas, ja sogar von Jemen28 mit ihm ein Schutzbündnis geschlossen hätten und ihm alljährlich laut Bündnisvertrag einen kostbaren Ehrenburnus zu schicken hätten.

Wenn ich nicht sicher gewusst hätte, dass Halef körperlich und geistig kerngesund war, so hätte ich seine maßlosen Aufschneidereien als krankhaft bezeichnen müssen. In früheren Zeiten war ich ihm in der Regel in die Rede gefallen und hatte ihn ins rechte Maß zurückgewiesen. Diesmal ließ ich ihn aber ruhig gewähren, ohne mir über die Gründe meines Verhaltens Rechenschaft geben zu können. War es, weil ich ihm vor den Ohren seines Sohnes nicht die Beschämung antun wollte, ihn zurechtzuweisen, oder weil ich ihm die Freude nicht verderben wollte, kurz, ich schwieg zu allen seinen Übertreibungen. Natürlich sagte auch Omar Ben Sadek nichts, und Kara schloss die kindliche Ehrfurcht von selber den Mund. Unsere Freunde, die in die wahren Verhältnisse Einblick hatten, ließen erst recht ihren lieben Gast gewähren, und das gewöhnliche Volk, nun, das hing mit offenen Lippen und gläubigen Augen am Mund des Erzählers, wenn er wie ein Hakawati aus „Tausendundeine Nacht“ die „Schleusen seiner Beredsamkeit“ öffnete und in den „unergründlichen Born des Schatzes seiner Erzählungen“ hinabtauchte.

Halef war unermüdlich im Erzählen, so wie die anderen unermüdlich im Zuhören waren. Lange noch, wenn ich mich bereits in meine Decke gehüllt hatte, ertönte die Stimme des Hadschi, und wenn ich erwachte, erfuhr ich regelmäßig, dass die ‚Märchenstunde‘ bis Mitternacht oder noch länger gedauert habe.

Am schlimmsten war es in Lizân. Wir hatten unsere Wohnung im ersten Stock des Hauses des Melek bezogen. Dieses Stockwerk bestand wie überall hier zu Lande aus einem nach drei Seiten offenen Raum, in dem die ganze Familie während des heißen Sommers schlief. Die geschützte Lage des Orts veranlasste uns, hier oben zu nächtigen, obgleich die späte Jahreszeit und die hohe Lage des Dorfs es nicht ganz ratsam erscheinen ließen. Aber wir zogen die frische Luft unter dem Dach der dumpfen im Erdgeschoss des Hauses vor. Doch mit der Ruhe sollte es so bald nichts werden. Zuerst hatte ich hunderte von Händedrücken auszutauschen und ebenso viele ‚Küsse des Willkommens‘ in Empfang zu nehmen, sodass mir am Schluss zu Mute war, als sei ich nunmehr für den übrigen Teil meines Lebens versorgt. Dann wurde gegessen und nach der Mahlzeit saßen die ‚Honoratioren‘ zusammen, um Erinnerungen auszutauschen. Dabei verging Stunde auf Stunde und es fehlte nicht viel bis Mitternacht, als ich mich endlich erhob und den entferntesten Winkel aufsuchte, den ich mir zur Nachtruhe gewählt hatte.

Doch ich sollte es – und das hatte ich so halb und halb gefürchtet – nicht so leicht haben. Der Melek und die sonstigen Spitzen des Dorfs, die am Essen und an der folgenden Unterhaltung teilgenommen hatten, waren zwar zufriedengestellt, nicht aber die nach Hunderten zählende Volksmenge, die draußen vor dem Haus stand, Kopf an Kopf gedrängt, und geduldig wartete, bis sie an die Reihe kam. Ich wusste so ziemlich, was jetzt folgen würde, und ich hatte mich nicht getäuscht. Meine Tagesarbeit war zu Ende, doch die des Hakawati noch lange nicht. Halef trat an den Mauervorsprung und begann zu reden.

Er erzählte von unserer Pilgerfahrt nach Mekka und von den Erlebnissen in der heiligen Stadt.29 Aber wie! Hatte er sich nach unserer Rückkehr zu den Haddedihn, noch unter dem Eindruck des Erlebten stehend, einer lobenswerten Mäßigung beim Erzählen befleißigt, so glaubte er hier diese Zurückhaltung fallen lassen zu dürfen. Er erhob die einfachste und selbstverständlichste Handlung zur Heldentat; er stellte alles in einem Licht dar, dass ich, der ich doch nicht ganz unbeteiligt gewesen war, mich im Stillen fragte, ob es denn wirklich unsere Erlebnisse waren, die er da zum Besten gab; und vor allem, er streute sich selber reichlich und ausgiebig Weihrauch, den ich ihm zwar von Herzen vergönnte, den aber ein anderes Ohr als ein orientalisches für unerträglich gehalten hätte.

Ich war so müde, dass mich die laut schallende Rede meines Hadschi eher einschläferte als wachhielt, und war gerade am Einnicken, als mich jemand an der Decke zupfte.

„Sihdi, schläfst du schon?“

„Nein. Wer – ah, du bist es, Kara. Was willst du?“

„Sihdi, ich habe mit dir zu reden, aber ich möchte nicht, dass mein Vater davon erfährt.“

Ich setzte mich, einigermaßen erstaunt, auf und blickte mich um. Da vorne an der Mauerbrüstung, gegen den hellen Nachthimmel deutlich erkennbar, stand Halef und erzählte mit lauter Stimme. Im Halbkreis um ihn saßen der Melek von Lizân, der Bei von Gumri, der Rais von Schohrd, seine Tochter Ingdscha und der Kiajah von Spandareh, der sich noch immer nicht hatte entschließen können, nach Hause zurückzukehren. Bei mir in der Ecke war es dunkel und ich vermochte kaum Kara Ben Halef zu erkennen, der sich neben mich gesetzt hatte, und einen Schatten, der mir zu Füßen lag; es war Dojan, der sich schnell an mich gewöhnt hatte und nicht von meiner Seite wich.

„Nun?“, fragte ich, gespannt, was mir Kara zu sagen habe.

„Sihdi, es handelt sich um meinen Vater. Ich habe Sorge um ihn.“

„Wieso?“

„Ich möchte, dass du mich richtig verstehst. Ich verehre meinen Vater und würde mit keinem Menschen über die Sache sprechen, außer mit dir, von dem ich weiß, dass du ihn liebst.“

„Mach keine Umschweife, sondern komme ans Ziel!“

Der junge Mann an meiner Seite holte tief Atem. Es fiel ihm offenbar schwer zu sprechen.

„Sihdi, hast du in der letzten Zeit eine Veränderung an meinem Vater bemerkt?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Ich meine, ich darf offen mit dir reden. Mein Vater hat so unleugbar große Verdienste erworben, dass ich mich vollständig daran gewöhnte, dass er oft so – so übertrieb. Ich redete mir ein, dass das sein gutes Recht sei, und ich habe mich damit getröstet, dass noch nie jemand daran Anstoß nahm. Aber jetzt kommt es mir vor, als ob er es – verzeih, wenn du es vielleicht für unkindlich findest, aber es muss heraus – als ob er es zu arg treibe.“

„Findest du? Da kann ich dich eines anderen belehren. Da draußen stehen Hunderte und hören deinem Vater mit Begeisterung zu. Hörst du vielleicht einen einzigen Laut der Unzufriedenheit oder des Unwillens? Sie alle stehen im Bann der Erzählkunst deines Vaters, und keinem Einzigen fällt es ein, auch nur eines seiner Worte auf die Waagschale zu legen.“

„So meinst du nicht, dass er sich – dass er sich – am Ende lächerlich macht?“

„Was fällt dir ein? Sieht die Sache da vorne vielleicht wie Lächerlichkeit aus? Lass doch deinem Vater seine Freude! Heute ist es ohnehin für lange Zeit das letzte Mal, dass er seiner Leidenschaft zu erzählen nach Herzenslust nachgehen kann. Schon von morgen an betreten wir Gegenden, wohin die Kunde von unseren Erlebnissen nur in spärlichem Maß gedrungen sein kann. Dann wirst du sehen, dass dein Vater von den Gefilden der Fantasie schnell auf den Boden der nackten Wirklichkeit zurückkehren wird. Dann wird er auch wieder der Alte sein.“

„Sihdi, ich danke dir. Du hast meine Bedenken zerstreut und ich kann wieder ruhig schlafen. Leletak sa’ide – deine Nacht sei gesegnet!“

Damit ging er und nahm wieder seinen Platz neben seinem Vater ein. Er ahnte nicht, dass er die Unruhe, die ich ihm ausgeredet hatte, bei mir zurückgelassen hatte. Ja, es war wieder genau das unbehagliche Gefühl, das mich zum ersten Mal im Wadi el Kasab überfallen hatte, eine unbestimmte Ahnung von etwas Unheimlichem, das wie ein schattenhaftes Gespenst in der Ferne stand.

Erst nach längerer Zeit gelang es mir einzuschlafen, um schließlich am späten Morgen zu erwachen. Ich hatte einen tiefen, traumlosen Schlaf gehabt, eine Folge der letzten Tage, in denen wir wenig zur Ruhe gekommen waren. Deshalb hatte ich nichts gemerkt von dem, was sich während der Nacht ereignet hatte.

Halef hatte seinen Vortrag bis spät nach Mitternacht ausgedehnt. Am liebsten hätte er bis in den hellen Morgen hinein erzählt, und seine Zuhörer hätten zweifellos bis auf den letzten Mann ausgehalten. Das zeigte sich, als der Hadschi endlich doch Schluss machte, gedrängt von Kara und Omar Ben Sadek, die ihn darauf aufmerksam machten, dass am Vormittag aufgebrochen würde und sie daher der Ruhe bedürften.

Meine Gefährten zogen sich zurück, nicht aber die Zuhörer. Diesen fiel es gar nicht ein, den Platz vor dem Haus zu verlassen. Sie ließen sich auf der Stelle, wo sie standen, auf den Boden nieder, entschlossen, nur der Gewalt zu weichen. Einen Abend wie diesen hatten sie noch nie erlebt und sie hofften, am Morgen die Fortsetzung zu erhalten.

Dieses Gebaren war nun allerdings nicht nach dem Sinn des Melek. Er fürchtete, die versammelte Menschenmenge könnte uns im Schlaf stören. Daher legte er den Leuten zuerst mit höflichen, dann mit ernsten Worten nahe, in ihre Behausungen zurückzukehren. Und da alles nichts fruchtete, griff er zu einem derben, aber wirksamen Mittel.

Wie sich der Leser meines Buchs „Durchs wilde Kurdistan“ vielleicht erinnern wird, war das Haus des Melek der Mücken wegen, die im Sommer eine große Plage bildeten, halb in den Zab hineingebaut. Diese Lage begünstigte sein Vorhaben außerordentlich. Er ließ die Feuerspritze des Dorfs heimlich an den Fluss schaffen und richtete dann höchst eigenhändig das Mundstück des Schlauchs auf die Ungehorsamen.

Ich habe gute Gründe zu bezweifeln, dass die Spritze von Lizân bei einer Feuersbrunst viel ausgerichtet hätte. Diesmal allerdings hatte sie einen durchschlagenden Erfolg. Nur ein paar Mal spritzte der Wasserstrahl über den Platz hin, dann war dieser gesäubert. Schnaubend und prustend, aber mit fliegenden Rockschößen, wie man bei uns sagen würde, räumten die Begossenen das Feld.

So tatsächlich geschehen in Lizân am Ufer des Zab! –

Natürlich wurden wir auch jetzt wieder beinahe vom ganzen Dorf fortgeleitet. Als ich nach Stunden dem letzten Scheidenden – es war der Melek selber – die Hand drückte, geschah es mit einem Gefühl der Wehmut, aber auch der Freude, wieder allein zu sein, die Ehrenbegleitung des Rais von Schohrd ausgenommen, der uns bis an die Grenze des Distrikts von Baz bringen wollte. Es war gewiss schmerzlich, von lieben Freunden Abschied zu nehmen und dabei zu wissen, dass es ein Wiedersehen in diesem Leben nicht mehr gebe. Aber andererseits – hol der Kuckuck das ewige Anhimmeln und die unzähligen sonstigen Zeichen der Huldigung, die dabei in Kauf zu nehmen waren!

Die Söhne des Scheiks

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