Читать книгу Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama - Franziska Schößler - Страница 14

2. Offene Formen und die Poetik der Determination (Lenz)

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Anmerkungen übers Theater

Lenz bestimmt in seinen dramentheoretischen Schriften das Verhältnis von Tragödie und Komödie neu, und zwar in einer Weise, die die Suspension der Ständeregel radikalisiert und zugleich die Motivation der bürgerlichen Autoren kenntlich werden lässt, mit dieser ästhetischen Tradition zu brechen. In seinen Anmerkungen übers Theater, einer rhapsodischen Schrift, die ihren Vortragscharakter beibehält (Luserke 1993, 270) und mit Ellipsen, Auslassungen, und Digressionen arbeitet (Huyssen 1980, 111) – Ausdruck eines ‘genialischen Zugriffs’ –, werden zwei Quellen der Kunst ermittelt: in Anlehnung an Aristoteles die Nachahmung, d.h. das freie, tätige Nachschöpfen der (göttlichen) Welt; zum anderen die Synthese von Begriff und Anschauung, wie sie Lenz in seinem eigenen Text zu realisieren versucht – durch Metaphorik, Bilder und Beispiele. Bestimmt Aristoteles als Gegenstand der Tragödie die Handlungen (d.h. den Mythos), so lehnt Lenz diese Definition im Namen der autonomen Schöpferkraft ab, zumal die Handlung bei den Griechen durch „ein eisernes Schicksal“ (Lenz 5 2001, 23) determiniert sei. Er führt aus: Die Griechen konnten sich dafür „interessiren, ohne davon den Grund in der menschlichen Seele aufzusuchen und sichtbar zu machen. Wir aber hassen solche Handlungen, von denen wir die Ursache nicht einsehen, und nehmen keinen Theil dran.“ (Lenz 5 2001, 23) Die Geschehnisse, so lässt sich folgern, sollten sich nach Lenz – und das erinnert an Lessing – aus dem individuellen Charakter ableiten lassen; die Figuren sollten nicht lediglich als Medium fungieren, das die Handlung in Erscheinung treten lässt.

Tragödie und Genie-Ästhetik

Im Zentrum der Tragödie steht also der handelnde, schöpferische, individuierte Charakter, wie ihn Lenz in Goethes Drama Götz von Berlichingen prototypisch verwirklicht sieht. Aus dieser strengen Forderung nach Individualisierung leitet auch Lenz die klare Absage an die überkommene Ständeregel ab. Zwar kenne man „Gesetze der menschlichen Seele […], aber wo bleibt die individuelle? Wo die uneckle, immer gleich glänzende, rückspiegelnde, sie mag im Todtengräberbusen forschen oder unterm Reifrock der Königin?“ (Lenz 5 2001, 23) An anderer Stelle heißt es: „[D]ie Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien ist die Fundgrube der Natur, hier allein schlägt die Wünschelruthe des Genies an.“ (Lenz 5 2001, 39) Ganz im Sinne der Genie-Poetik stellt Lenz den großen Charakter ins Zentrum der Tragödie; er ist ihr Gegenstand und ihr Schöpfer. Entsprechend ist es allein das dichterische Genie, das die Einheit des Dramas garantiert: „Was heissen die drey Einheiten? hundert Einheiten will ich euch angeben, die alle immer doch die eine bleiben. Einheit der Nation, Einheit der Sprache, Einheit der Religion, Einheit der Sitten – ja was wirds denn nun? Immer dasselbe, immer und ewig dasselbe. Der Dichter und das Publikum müssen die eine Einheit fühlen aber nicht klassifiziren. Gott ist nur Eins in allen seinen Werken, und der Dichter muß es auch seyn“ (Lenz 5 2001, 29). Der klassizistischen französischen Poetik wird im Namen einer ‘gefühlten Einheit’, die zugleich diejenige der Nation sein kann, eine Absage erteilt.

Komödie und Determination

Aus dieser Tragödiendefinition ergibt sich konsequent die Bestimmung der Komödie, die vornehmlich für Lenzens Dramenproduktion zentral ist: „Die Hauptempfindung in der Komödie ist immer die Begebenheit“ (Lenz 5 2001, 52). Die Figuren werden den Begebenheiten untergeordnet, und das heißt auch, dass sie nicht als autonome, als handelnde, sondern als leidende, determinierte, vorgestellt werden. Sie sind Spielbälle der Verhältnisse – ein Umstand, der zu einer offenen, episierenden Dramenform führt. Darüber hinaus wird die Komödie in gewissem Sinne universalisiert, was das Personal und ihren ‘Ton’ anbetrifft. In der einschlägigen (Selbst-)Rezension des Neuen Menoza leitet Lenz nicht nur die Aufhebung der Ständeregel aus seinem Komödienkonzept ab, sondern hebt zudem die Grenze zwischen Mittelstand und unteren Ständen auf.

Aufhebung der Ständegrenzen

Die Komödie soll in Anlehnung an Shakespeares Dramen ein Panorama der gesamten Gesellschaft liefern: „Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft“ (Lenz 1992, 420). Und wie der Gegenstand der Komödie, so soll auch das Publikum „jedermann“ sein können, wobei zugleich die Bindung der Komödie an das Lachen aufgegeben wird: „Ich nenne durchaus Komödie nicht eine Vorstellung die bloß Lachen erregt, sondern eine Vorstellung, die für jedermann ist. Tragödie ist nur für den ernsthaftern Teil des Publikums“ (Lenz 1992, 419). Die Gattung wird von ihrem wirkästhetischen Affekt, vom Lachen, abgelöst und zugleich eng auf die gesellschaftspolitischen Zustände bezogen. Denn auch die Komödie könne tragisch sein, befinde sich die Gesellschaft in einem solchen Zustand: „Daher müssen unsere deutschen Komödienschreiber komisch und tragisch zugleich schreiben, weil das Volk, für das sie schreiben, oder doch wenigstens schreiben sollten, ein solcher Mischmasch von Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wildheit ist. So erschafft der komische Dichter dem Tragischen sein Publikum.“ (Lenz 1992, 420) Komödie und Tragödie werden vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen (Kultur-)Utopie definiert; Kriterium der ästhetischen Ordnung ist die gesellschaftliche. Die Gattung richtet sich danach, ob der gesellschaftliche Zustand freies Handeln zulässt (Tragödie), oder lediglich determinierte Gestalten hervorbringt (Komödie). Mit diesem Konzept ist ein neuer Tragikbegriff verbunden: „Es ist nicht die Tragik individuellen Schicksals und Leidens, die Lenz in seinen Komödien betont, sondern das Trauerspiel eines Gesellschaftszustandes, der sich gewalttätig auf die unteren Stände niederschlägt“ (Huyssen 1980, 115). Zugleich bereitet die Komödie der Tragödie das Terrain (Martini 1970, 180f.). Lenz bezeichnet seine eigenen Dramen entsprechend meist als Komödien, obgleich sie tragische, ja drastische Aktionen vor Augen führen, Selbstmord, Vergewaltigung, Kastration und anderes mehr.

Idealismuskritik

Dabei plädiert Lenz ähnlich wie später Büchner für eine realistische Darstellung, die, um jeglichen Anstrich von Idealismus zu vermeiden, gar zur Karikatur neigen darf; in den Anmerkungen übers Theater heißt es: „[N]ach meiner Empfindung schätz ich den Charakteristischen, selbst den Carrikaturmahler zehnmal höher als den Idealischen, hyperbolisch gesprochen, denn es gehört zehnmal mehr dazu, eine Figur mit eben der Genauigkeit und Wahrheit darzustellen, mit der das Genie sie erkennt, als zehn Jahre an einem Ideal der Schönheit zu zirkeln.“ (Lenz 5 2001, 24f.)

Kennzeichen des offenen Dramas

Dominieren nicht die Figuren die Situation, sondern umgekehrt, so ergeben sich aus dieser poetologischen Bestimmung Konsequenzen für Raum, Zeit, Handlung und Sprache, die die Stücke nach der Nomenklatur von Volker Klotz als offene Dramen beschreibbar machen. An die Stelle einer linear entwickelten, kausalgenetischen Handlung treten diverse gleichberechtigte Stränge, eine Form von „Polymythie“. Selbst „die dabei entstehenden mehreren Einzelhandlungen müssen keine geschlossenen Kontinua“ darstellen, sondern können „punktuelle Begebnisfolgen ohne Szenenbindung“ sein (Klotz 1968, 102). Das Geschehen wird, so führt Klotz über Lenz’ Drama Die Soldaten aus, in „isolierten prägnanten Einzelstationen“ vorgeführt (Klotz 1968, 103). Zu der Aufhebung einer linearen Handlung kann darüber hinaus die ausdrückliche Reflexion auf die dramatischen Vorgänge selbst führen, weil Reflexion dem Fortgang des dramatischen Geschehens grundsätzlich entgegensteht. Noch dazu muss zwischen personalisiertem und reflektierendem Strang keine Deckungsgleichheit herrschen; die Aktionen sind nicht unbedingt Exemplum der Reflexion. In einem offenen Drama sind die Einzelszenen nicht „absolut“, nicht in sich geschlossen und ergeben sich nicht konsequent aus der vorhergehenden Szene. Das Drama tendiert mit dieser möglichen Austauschbarkeit der Sequenzen zur Epik, da die Episoden eher der Exemplifizierung von Zuständen als der dramatischen Entwicklung dienen. Ist das Geschehen im offenen Drama also nicht linear organisiert, so können andersartige Kohäsionsmuster etabliert werden, die die Einheit der Handlung ersetzen. In Büchners Dramen z.B. herrscht eine spezifische Form der ‘rhetorischen Verklammerung’, die antidramatisch, also episch, wirkt – das Geschehen wird durch metaphorische Ketten, durch Leitmotive und rekurrente Formulierungen verklammert. „Die zersprengte Handlung schließt sich auf anderer Ebene wieder zusammen. Die Textur übernimmt Aufgaben der Struktur“, so führt Klotz aus (1968, 108).

Pluralisierung von Raum und Zeit

Der Raum bildet im offenen Drama keinen gleichbleibenden, „qualitätslose[n], unselbständige[n] Rahmen“ (Klotz 1968, 45), sondern tendiert zur Pluralisierung; die Lokalitäten wechseln vielfach. Zudem vermag der Raum als Ausdruck gesellschaftlich-sozialer Determinanten, als Milieu, selbst zum dramatischen Akteur zu werden. Diese Raumdispersion führt ebenfalls zur Episierung des Dramas, „weil raum-zeitliche Diskontinuität im Drama eine ‘Erzählfunktion’ impliziert, auf die dieses diskontinuierliche Arrangement der Szenenabfolge zu beziehen ist“ (Pfister 1982, 336). Der Pluralisierung der Orte entspricht eine Vervielfältigung der Zeitsequenzen und Zeitqualitäten. Zum einen kann die Zeit selbst zum dramatischen Akteur werden – wenn es beispielsweise in einer Zufallsdramaturgie um ein Zu-spät-kommen geht, das das tragische Geschehen auslöst. Zum anderen können große Zeitsprünge zwischen den einzelnen Ereignissen herrschen, die den Kausalnexus zwischen den Szenen sprengen und die Figuren einer reinen, erinnerungslosen Gegenwart ausliefern – Zeichen ihrer (Handlungs-)Ohnmacht. „Diese Gegenwart schluckt die verbindenden Rückwärts- und Vorwärtsbezüge, die der Person ermöglichten, sich und das Geschehen im Stadium der Entwicklung zu sehen. Sie schluckt den Abstand, der der Person ermöglichte, das Jetzt einzugliedern in Zusammenhänge, es zu messen an Vergangenem und Kommendem, an Erlebtem und Geplantem.“ (Klotz 1968, 123f.)

Pluralisierung der Sprachbereiche

Der Vielfalt der Orte und Zeitsequenzen entspricht im offenen Drama die der Sprachbereiche. Die Figuren werden durch ihre Rede sozial verortet – durch Dialekte –, zudem durch Spracheigentümlichkeiten charakterisiert – durch Idiolekte. Über Aposiopesen, Anakoluthe und Ellipsen, also über Abbrüche und unvollständige Sätze, wird unstilisierte, alltägliche Mündlichkeit inszeniert; der naturalistische Dialog nimmt z.B. „die Aufnahmen späterer Phonogrammarchive vorweg“ (Szondi 1978, 66). Dabei zeichnet sich bereits in Lenzens Stücken ein Phänomen ab, das bis in das 20. Jahrhundert hinein virulent sein wird und von Horváth mit dem Begriff Bildungsjargon belegt wird: Die Figuren beherrschen ihre Sprache nicht. Sie sprechen in fremden Zungen, machen Anleihen an elaborierte Sprachbereiche und entlarven sich durch den falschen Gebrauch von Begriffen. Dieser Konflikt zwischen Anspruch und Vermögen, der durch Katachresen, also schiefe Bilder, durch den Zusammenprall von abstrakten und konkreten Formulierungen, durch die Montage von Sprichwörtern und pseudowissenschaftlichen Wendungen kenntlich wird, zeichnet gemeinhin Figuren aus, die gesellschaftlich aufzusteigen versuchen und mit ihrer permanenten Degradierung rechnen – Sprache fungiert als symbolisches Kapital.

Sprache als symbolisches Kapital

Die Figuren der sozialen Dramen und bürgerlichen Trauerspiele verfügen vielfach nicht über eine eigene Sprache, sind nicht im Besitz einer authentisch-individualisierenden Ausdrucksform. Auch in Büchners bürgerlichem Trauerspiel Woyzeck z.B. sprechen die Figuren in fremden Zungen, die das soziale Milieu charakterisieren. Es werden Bibelsprüche (Klotz 1968, 199f.) eingearbeitet, volkstümliche Lieder, Märchen und Sprichwörter (Klotz 1968, 213f.); die Figuren demonstrieren ein „unbewußte[s] Sprechen“ (Klotz 1968, 220). Deutlich wird jedoch auch die Tatsache, dass sie nicht im Besitz einer identitätsstiftenden Sprache sind, die Authentizität für sich in Anspruch nehmen kann.

Universalisierung der Komödie

Hält Lenz also in seiner Tragödientheorie an dem großen Einzelnen fest, wie ihn die Genie-Epoche propagiert, so formuliert seine Komödientheorie nicht nur die Absage an dieses Individualitätsmodell, sondern leistet zugleich eine universalisierende Öffnung der Gattung; zum Personal können Vertreter aller Schichten werden, und zwar im Kontext gegenseitiger Abhängigkeiten und grundsätzlicher Determination. In Zusammenhang mit dieser gesellschaftlichen Öffnung entwickelt Lenz eine offene Struktur, die für das soziale Drama der nächsten beiden Jahrhunderte als vorbildlich gelten kann, wobei sich die Poetik der Determination, wie sie Lenz entwirft, in den folgenden Jahrhunderten im Spannungsfeld von Identifikationstheater (Hauptmann), das Lessings Mitleidsethos folgt (Szondi 1978, 78), und seiner Aufhebung (Brecht) bewegen wird.

Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama

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