Читать книгу Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama - Franziska Schößler - Страница 6
I. Gattungsbegriff
ОглавлениеWer ist tragikfähig?
Seit Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart lässt sich ein zentrales Anliegen in der deutschsprachigen Dramatik ausmachen, das mit unterschiedlichen Gattungsbezeichnungen belegt wurde – das Anliegen, die durch gesellschaftliche Entwicklungen benachteiligten, von politischen wie wirtschaftlichen Ressourcen ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten tragikfähig zu machen, d.h. als tragische Gestalten auf der Bühne zu präsentieren. Lässt sich das durch Diderot, Mercier und Lillo beeinflusste deutsche bürgerliche Trauerspiel als Versuch beschreiben, den Bürger zum Gegenstand des Mitleidens zu machen, so zeichnet sich das soziale Drama des 19. und 20. Jahrhunderts durch das Bestreben aus, dem gegen das Bürgertum scharf abgegrenzten vierten Stand, den Proletariern und Kleinbürgern, tragische Dignität zukommen zu lassen. Tertium comparationis von bürgerlichem Trauerspiel, dessen (quantitative) Marginalität (es werden hauptsächlich zwei Stücke Lessings, Kabale und Liebe von Schiller und Hebbels Maria Magdalena dazu gerechnet) vielfach betont wird (Rochow, 1999), und sozialem Drama, das bis in die Gegenwart hinein als aktuell gelten kann, ist der Versuch, gesellschaftlich eindeutig positionierte, genauer: unterprivilegierte Figuren in den Raum des tragischen Pathos zu überführen.
Die Sichtbarkeit von Randgruppen
Die auf ästhetischer Ebene gestellte Frage: „Wer ist tragikfähig?“ ist also immer zugleich auch eine gesellschaftliche, ist die Frage nach der ästhetischen Sichtbarkeit von Randgruppen, nach ihrer Partizipation am (hoch-)kulturellen Repräsentationssystem und seinen Pathosformeln, denen in besonderem Maße ästhetischer Ausdruckswert zugesprochen wird. In Hettners Ästhetischen Untersuchungen heißt es in Zusammenhang mit Hebbels bürgerlichem Trauerspiel Maria Magdalena: „Nur Könige oder bedeutende geschichtliche Helden sollten ein bedeutendes, weltbewegendes Schicksal haben? Und in der Enge häuslicher Kreise sollte kein großes, gigantisches Schicksal sein, sondern nur niedriger Jammer und prosaisches Elend? Unbegreifliche Kurzsichtigkeit! Durchzuckt ein großer Schmerz nicht alle Teile des Körpers gleichmäßig und oft den unscheinbarsten Nerv am allermächtigsten? Wo ist derjenige, der sich heut vor uns hinstellen könnte, ohne daß er stolz oder beschämt gestehen müßte, auch in seinem Inneren suche sich die furchtbare Tragödie der Gesellschaft ihr Opfer?“ (Hettner 1924, 75) Durch die Übernahme tragischer Ausdrucksformen, beispielsweise der Tragödie, wird mithin die bürgerliche Lebensform nobilitiert und mit Pathosformeln, mit Ausdrucksenergien, versehen; die neuere Forschung widmet sich entsprechend der Affekterzeugung und den Leidenschaften in diesem Genre (vgl. zu Lessing Lemke 2012; Tummuseit 2011; zu Wagner Dandoush 2004, 123–147; Alefeld 2007). Brecht hält über die ‘Veredelung‘ bürgerlichen Lebens im Trauerspiel fest: „Die Wirklichkeit betritt die Bühne, das heißt, die Klasse betritt sie, die anfängt, die Wirklichkeit zu bestimmen. Dabei tritt ein eigentümlicher Widerspruch auf. Einerseits wird die vornehme Bühne mit einem gewissen Behagen entweiht durch die ordinäre Redeweise der Plebs, aber zugleich erhält doch auch diese Plebs ihre Weihe, indem sie sich der bisher monopolisierten gehobenen Formen bedient. Sie entwickelt, das Zeremoniell der herrschenden Klasse verhöhnend, sofort ihr eigenes Pathos.“ (Brecht 1967, 362f.)
Projektionsstrukturen
Zu berücksichtigen ist, dass es in aller Regel bürgerliche Autoren sind, die sich zum Sprachrohr von Minoritäten machen; damit werden die Unterprivilegierten zum Gegenstand projektiver Zuschreibungen (Bogdal 1978, 1991). Vor allem im Kontext der sozialen Dramen manifestiert sich neben dem Interesse der Autoren an Verfallserscheinungen, Abstiegsgeschichten und plebejischem Milieu die Berührungsangst mit eben dieser Sphäre. Die Geschichte des bürgerlichen Trauerspiels und des sozialen Dramas bleibt also im Wesentlichen eine des Bürgertums und seiner Ausdrucksformen.
Das Problem der Fallhöhe
Dieses Ringen um Pathos ließe sich umgekehrt auch als Suche nach bedeutungsstiftenden Konfliktstoffen beschreiben, die der bürgerlichen Lebensform auf den ersten Blick nicht genuin zu sein scheinen. Bereits Herder weist auf das ästhetische Dilemma hin, „daß je geordneter die Menschen und die Staaten werden, der Zunder zur tragischen Flamme sich mindre.“ (Herder 1877/1913, 389) Ist die bürgerliche Kultur „und war stets vornehmlich Erwerbskultur“, wie sich mit Dosenheimer formulieren ließe (Dosenheimer 1949, 10), so lässt sich die pathetische Erhabenheit dieser Existenz durchaus in Frage stellen, wie beispielsweise Schopenhauer und Grillparzer anregen. „Schopenhauer will zwar das bürgerliche Trauerspiel keineswegs unbedingt verwerfen, auch sei das Objekt, wodurch menschliche Leidenschaften ins Spiel gesetzt werden, gleichgültig, ‘und Bauernhöfe leisten so viel wie Königreiche’. Trotzdem seien Personen von großer Macht und Ansehen eher für die Tragödie, ‘nicht weil der Rang dem Handelnden oder Leidenden mehr Würde gibt’, sondern weil ‘von der Höhe der Fall am tiefsten ist. Den bürgerlichen Personen fehlt es demnach an Fallhöhe’.“ (Dosenheimer 1949, 13) Es ist also das Gesetz der Fallhöhe, das gegen eine bürgerliche Tragödienproduktion Einspruch erhebt. Die ‘bürgerliche Tragödie’ steht unter dem Legitimationsdruck, das tragische Konfliktpotenzial bürgerlicher Existenz plausibel zu machen. Entsprechend wird über die Jahrhunderte hinweg wiederholt die Debatte aufflackern, woher das bürgerliche Drama seinen Konfliktstoff beziehe – aus äußeren Determinanten oder aber aus immanenten Strukturen; letzteres erhebt Hebbel zum Maßstab eines gelungenen bürgerlichen Trauerspiels.
Aufgrund der andersartigen Konfliktstruktur grenzt der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann die Tragödie vom bürgerlichen Trauerspiel ab, das aus einer durchkalkulierten Folge unglücklicher Umstände entstehe. In der Zeit des bürgerlichen Trauerspiels habe man zwar die Potenziale tragischer Kunst genau gekannt, sich jedoch aufgrund sehr bewusster ästhetischer und ideologischer Optionen gegen sie entschieden und melodramatische bürgerliche Familienszenen entworfen. Ein Beispiel dafür sei Lessings Stück Emilia Galotti, das „nach allgemeinem Urteil mehr einer ausgerechneten Unglücksmaschine als einer tragischen Dichtung gleicht“ (Lehmann 2013, 64).
Die Familie als Sujet
Das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama lassen sich noch in anderer Hinsicht, in Hinsicht auf ihr Sujet – die Familie –, verbinden. Bereits Szondi hält in seiner Vorlesung Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert fest, dass Diderots Père de famille am Anfang einer Tradition stehe, „welche die Geschichte des neueren Dramas wesentlich mitbestimmt hat: der Tradition des Familiendramas, man denke an Hebbels Maria Magdalena, an Strindbergs Vater, Tschechows Drei Schwestern […] – einer Tradition, in der das, was Diderot als höchstes Gut gilt, als der einzige Ort, an dem der Mensch glücklich sein kann [gemeint ist die Familie; Anm. v. Verf.], allmählich zur Hölle pervertiert.“ (Szondi 1973, 126) Jenseits des gemeinsamen Themas Familie führt eine weitere Linie von der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels zum sozialen Drama: „Moderne Dramatiker, die sich von bloß privaten Themen abwenden wollten und dezidiert politische Wirkungen anstrebten [wie z.B. Brecht, Hacks, Kipphardt, Bruckner, die Adaptionen von Lenz’ und Wagners Stücken vornehmen; Anm. v. Verf.], konnten an diese Texte anknüpfen“ (Jacobs 1983, 297) – gemeint sind die bürgerlichen Trauerspiele des 18. Jahrhunderts. Die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels vermag also auch zum sozialen Drama mit politischer Zielrichtung transformiert zu werden. Das Trauerspiel, wird es nicht streng an „normgebenden Mustern orientiert“ (Jacobs 1983, 294), entfaltet eine ganze Genealogie an dramatischen Varianten, die ihren Fokus im (tragischen) Familialen wie in der gesellschaftlichen Depravation finden. Mit McInnes, der ebenfalls eine Linie vom Sturm und Drang zu den Dramen des Jungen Deutschland und Hauptmann zieht, ist jedoch festzuhalten: „It is not possible, however, to see this as a clear, unbroken development. Looking at the period as a whole, the concern with social drama, critical and creative, appears indeed as rather fitful and fragmented.” (McInnes 1976, 1)
Gesellschaftliche Umstrukturierungen
Die Geschichte des bürgerlichen Trauerspiels und des sozialen Dramas kann dabei aus zweifacher Perspektive präsentiert werden. Zum einen lassen sich diese Gattungen auf Verschiebungen und Umschichtungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zurückführen, zumindest indirekt. So können die Stücke des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts als Indikatoren der krisenhaften Formation des Bürgertums gelesen werden, das sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts als (wirtschafts-)liberalistisches zu etablieren beginnt; die gesellschaftliche Hierarchie verschiebt sich vom Stand zur Klasse und wird durch neue Ordnungsfunktionen wie z.B. das naturalisierte Geschlechtermodell organisiert. Stehen in den bürgerlichen Trauerspielen wie Emilia Galotti die Standesgegensätze auf dem Prüfstand und spielen diese auch noch in Lenzens Drama Der Hofmeister eine Rolle, so tritt die ökonomische Misere als Movens der dramatischen Entwicklung zunehmend in den Vordergrund. In Büchners Woyzeck, einem Drama, dem „die Entdeckung des Geringen“ gelingt, wie Elias Canetti betont (Canetti 1975, 220f.), ist die Ökonomie zum Schicksal, zum Fatum, geworden.
Ökonomie als dramatisches Subjekt
„Die Armut steht im Woyzeck logisch an dem Ort, an dem in der attischen Tragödie das ‘Schicksal’ steht: sie ist die Prämisse des tragischen Syllogismus.“ (Glück 1984, 194) Das bürgerliche Trauerspiel wie das soziale Drama gewähren also Einsicht in die ‘Anatomie’ der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft, das heißt auch in ihre disziplinatorischen wie normalisierenden Mechanismen, um mit Foucault zu sprechen. Die Tatsache, dass das bürgerliche Trauerspiel zum Ende des 18. Jahrhunderts nahezu verschwindet und das soziale Drama im Verlauf des 19. Jahrhunderts an dessen Stelle tritt, lässt sich dabei auf die ‘Konsolidierung’ bürgerlicher Werte und die Zementierung ökonomisch sanktionierter Grenzziehungen zurückführen. Nicht mehr der dritte Stand muss sich um die Partizipation an ästhetischen Pathosformeln bemühen, sondern die Repräsentanz des vierten ‘Standes’, genauer: der Bauern, Arbeiter, Kleinbürger und Angestellten, wird zum Einspruch gegen etablierte Ausdruckssysteme. Dem sozialen Anliegen dieser Dramenformen (vgl. zu einer Definition des Sozialen Elm 2004, 11–20) entspricht, dass sich Autoren und Autorinnen immer wieder, und zwar bis ins 20. Jahrhundert hinein, mit dem Mitleidsethos Lessings auseinandersetzen und den Schwund dieser Haltung diagnostizieren, die die ‘bürgerliche Monadologie’, die Abtrennung der Individuen voneinander, kompensieren sollte. Oder aber das Mitleidsethos Lessingscher Provenienz wird als affirmative Ideologie eines bürgerlichen Illusionstheaters entlarvt, das mit den gesellschaftlich-sozialen Realitäten (trotz entgegengesetzter Behauptung) nichts gemein hat – so verdeutlicht die immanente Poetik in Büchners Woyzeck ebenso wie die theoretischen Überlegungen Brechts.
Innerästhetische Revisionen
Darüber hinaus lässt sich die Geschichte des bürgerlichen Trauerspiels und des sozialen Dramas auch als die Suche nach neuen Ausdrucksformen beschreiben, als eine Folge von innerästhetischen Revisionen und Überschreitungen: Die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels fußt auf einem Verstoß gegen die klassizistische Regelpoetik, die die niederen Stände eindeutig der Komödie zuordnet; Lessings Trauerspiel lässt sich als Transformation der klassischen Tragödie lesen, auf die es bezogen bleibt. Zu berücksichtigen wäre also, in welcher Weise die Stücke auf Vorgänger und Traditionen rekurrieren. Dieser Blickwinkel bietet sich auch im Kontext des 20. Jahrhunderts an, da es wiederholt zu kommentierenden Gattungszitaten, ja Persiflagen des bürgerlichen Trauerspiels kommt wie beispielsweise bei Kroetz und Fassbinder. Zugleich bieten die beiden Gattungen einen Einblick in diverse dramentechnische Strategien, in spezifische Bauformen des Dramas, die, z.T. jedenfalls, als Verstoß gegen etablierte Gattungsnormen zu beschreiben sind.
Dramenformen
Insgesamt reichen die dramatischen Formen von der Guckkastenbühne, also einem Illusionismus, wie ihn Diderot zur Propagierung bürgerlicher Werte entwickelt, bis zu offenen Bühnenarrangements, die sich an Jahrmarktsspektakeln orientieren (Woyzeck), Liedeinlagen integrieren oder auch Kurzszenen montieren (Lenz). Die niedrige soziale Stellung der dramatis personae, ihre Sprachohnmacht, ihre Determiniertheit, bringt vor allem im sozialen Drama offene Formen mit sich. Steht ein handlungs- und sprachunfähiges Objekt den abstrakten Verhältnissen gegenüber, geht es also eigentlich nicht um die Tragik-, sondern die „Quälfertigkeit“ der Figur, wie es Hugo Aust nennt (Aust, Haida, Hein 1989, 286), so tendiert das soziale Drama grundsätzlich zu epischen Formen, wie sie Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas beschrieben hat; es weist offene wie analytische Strukturen auf und zeichnet sich durch eine innovative Sprachpraxis aus, die beispielsweise im Naturalismus als phonographischer Stil bezeichnet wird. Entwickelt wird in den sozialen Dramen also eine Poetik aus dem Geist der Determiniertheit.
Das neue Volksstück
Das soziale Drama weist nicht nur eine gewisse Nähe zum bürgerlichen Trauerspiel auf (Elm 2004), sondern lässt sich auch vom neueren, kritischen Volksstück, dem ebenfalls an sozialen Themen gelegen ist, nicht eindeutig abgrenzen. Den Autoren und Autorinnen der 1920er und 1930er Jahre z.B. gilt das Volksstück als „unbeschönigende, entlarvende Darstellung der alltäglichen, modernen, geschlossenen Gesellschaft (unter besonderer Berücksichtigung ihrer schwachen Exponenten) auf ästhetisch hohem Niveau“ (Aust, Haida, Hein 1989, 283). Damit ist diese Gattung für eine Geschichte der sozialen Dramatik gleichermaßen relevant, zumal das Volksstück ähnlich wie das soziale Drama – Hauptmanns Rose Bernd z.B. – zuweilen ausdrücklich an die Tradition des bürgerlichen Trauerspiels anknüpft. Im Folgenden werden also auch diejenigen Stücke berücksichtigt, die gemeinhin dem neuen Volksstück zugeordnet werden, die Dramen von Horváth, Fleißer, Kroetz und Fassbinder.
Wird in der vorliegenden Untersuchung insgesamt an dem relativ standardisierten Kanon von bürgerlichem Trauerspiel und sozialem Drama festgehalten, obgleich die Forschung immer wieder auf das Problem der Auswahl hingewiesen hat, so deshalb, weil damit die komplexesten Dramen erfasst sind, die zwar einerseits die Gattung etablieren, andererseits aber das damit verbundene Ethos einer Kritik unterziehen. Anders als die grassierende Trivialdramatik zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, die das Tugend-Laster-Schema ungebrochen reproduziert, formulieren die Dramen der Höhenkammliteratur, obgleich sie die kulturelle Identität des Bürgertums sichern, eine Kritik an eben dieser gesellschaftlichen Ordnung.