Читать книгу Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama - Franziska Schößler - Страница 15

3. Das epische Theater und die Abschaffung des Individuums (Brecht)

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Das Milieu als dramatisches Subjekt

Szondi beschreibt in seiner Theorie des modernen Dramas die Episierungstendenzen, die sich um 1900, also in den Stücken von Ibsen, Hauptmann, Strindberg, Tschechow und anderen, feststellen lassen. Diese Episierung ist ganz wesentlich auf den sich verändernden Status des (dramatischen) Subjekts zurückzuführen. Werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts naturwissenschaftliche Theorien wie z.B. Darwinismus, Vererbungslehren und Milieutheorien zu leitenden Paradigmen, an denen sich auch die Kunst orientiert, so gilt infolge dessen der Einzelne als Produkt seiner Umwelt und Vorwelt. Determination, wie sie sich bei Lenz und Büchner abzeichnet, wird zum herausragenden Grundzug des Personals, und zwar mit weitreichenden dramentechnischen Konsequenzen; das determinierende Milieu wird zum dramatischen Akteur, das Einzelleben zum Ausdruck und Effekt gesellschaftlich-ökonomischer Zustände. Szondi hält z.B. über Hauptmanns Stücke fest: „Der soziale Dramatiker versucht die dramatische Darstellung jener ökonomisch-politischen Zustände, unter deren Diktat das individuelle Leben geraten ist. Er hat Faktoren aufzuweisen, die jenseits der einzelnen Situation und der einzelnen Tat wurzeln und sie dennoch bestimmen. Dies dramatisch darstellen heißt als Vorarbeit: die Umsetzung der entfremdeten Zuständlichkeit in zwischenmenschliche Aktualität“ (Szondi 1978, 59). Damit verändert sich der Status der Figur wie der Szene: „Die dramatis personae vertreten Tausende von Menschen, die unter denselben Verhältnissen leben, ihre Situation vertritt eine durch die ökonomischen Faktoren bedingte Gleichförmigkeit. Ihr Schicksal ist Beispiel, Mittel der Aufzeigung.“ (Szondi 1978, 60)

Das analytische Drama

Wird in den Dramen des Naturalismus das Milieu dominant, so führt dies zu dramentechnischen Innovationen, wie sich z.B. an Hauptmanns Dramen ablesen lässt. Stücke, die die gesellschaftlichen Zustände in ihren Mittelpunkt stellen, tendieren vielfach zu einer analytischen Darstellungsform: Die Misere wird nach und nach enthüllt; die Situation wird wiederholt geschildert, besprochen, von Reisenden kommentiert, doch nicht unmittelbar als dramatischer Konflikt vorgestellt. Die abstrakt-anonymen Konstellationen entziehen sich einer personalisierten Konfliktstruktur, wie sie das klassische Drama mit seinen Antagonisten kennt.

Der Bote aus der Fremde

Das Geschehen in Vor Sonnenaufgang z.B. wird dadurch in Gang gesetzt, dass ein ‘Bote aus der Fremde’, nämlich Loth, erscheint, der die maroden Verhältnisse nach und nach bloßlegt. „Die Familie Krause [aus Hauptmanns Stück; Anm. v. Verf.] gelangt zu dramatischer Darstellung, indem sie sich allmählich dem Besucher enthüllt. Sie erscheint dem Leser oder Zuschauer in Loths Perspektive, als Forschungsobjekt des Wissenschaftlers. In der Maske Loths tritt also das epische Ich auf. Die dramatische Handlung selbst ist nichts anderes als die thematische Travestie des epischen Formprinzips: der Besuch Loths bei der Familie Krause gestaltet im Thematischen das formbegründende Herantreten des Epikers an seinen Gegenstand.“ (Szondi 1978, 62) Szondi schließt: „Die Erscheinung des Fremden besagt […], daß die Menschen, die durch ihn zu dramatischer Darstellung gelangen, von sich aus dazu nicht fähig wären.“ (Szondi 1978, 62) Das Geschehen folgt also einer anagnoretischen Struktur. Es geht um das sukzessive Aufdecken von Zusammenhängen. Diese grundlegend analytische Struktur lässt den Gegenstand in Form seiner Reflexion erscheinen, nicht aber unmittelbar als dramatischen Akt.

Die Absage an Individualität

Brecht (zur Biographie Brechts vgl. Knopf 2013 und Parker 2014), der Cheftheoretiker des epischen Theaters im 20. Jahrhundert, knüpft an diese Aufkündigung des Dramatischen an, setzt sich jedoch dezidiert von der Idee der Determiniertheit ab und reflektiert die Produktions- wie Rezeptionsbedingungen der bürgerlichen ‘kulinarischen‘ Theatertradition, die auf Illusionismus und Identifikation basiert und im Naturalismus fortgeführt wird. Gegen das Theater Lessingscher Provenienz setzt Brecht das epische Theater, das auf Grundlage des dialektischen Materialismus (Hecht 1986, 49) das bürgerliche Individuum als obsoletes Prinzip hinter sich lässt. „In der Ökonomie einer rein merkantilen Kultur definiert sich das Individuum ausschließlich als Vertragspartner innerhalb gesellschaftlicher Strukturen jeder Art.“ (Berg, Jeske 1998, 71f.) Auf Grundlage der Lektüre von Karl Marx‘ Theorie der Praxis (Knopf 2011) entstehen die theoretischen Äußerungen Brechts in enger Auseinandersetzung mit seiner praktischen Arbeit, lassen sich also auch als Schauspieltheorie lesen; das Spiel, die Aufführung, wird im Verhältnis zum Lesetext aufgewertet (Hecht 1986, 57). Deshalb wird vom „epischen Theater“, nicht vom „epischen Drama“ gesprochen.

Der Weg zum epischen Theater

Hecht rekonstruiert Brechts Weg zum epischen Theater wie folgt (Hecht 1962): In dem Aufsatz Über Stoffe und Form (1929) verwirft Brecht zunächst das klassische Drama, genauer: das gehobene Versmaß, die festgelegte Akteinteilung, den gradlinigen Handlungsverlauf, die eindeutigen, festgelegten Helden und die Determinierung durch das Schicksal. In dem Beitrag Letzte Etappe: „Ödipus“ wird der Begriff „episch“ dann positiv als Berichtsgestus bestimmt sowie das Konzept eines theatralischen Gestariums entworfen, nach dem Stoffe grundsätzlich Gestencharakter besitzen. Helene Weigels Schauspiel wird als nicht-identifikatorisches Spiel gelobt; die Haltungen werden als rituelle vorgeführt und enthalten eine Stellungnahme zum Geschehen. In den Versuche-Heften ab 1930 wird die Theorie des epischen Theaters weiterentwickelt, ebenso in den Anmerkungen zur „Mutter“ (Hecht 1986, 64f.); das berühmte Schema, das aristotelische und epische Form gegenüberstellt, findet sich in den Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1931; 2. Fassung 1938; abgedruckt u.a. in Kersting 1959, 51; Szondi 1978, 106f.). Brecht versucht das bürgerliche Drama der Identifikation und des Mitleids wie das damit verbundene Programm (bürgerlicher) Individualität vor allem deshalb zu überwinden, weil diese Theaterform gesellschaftliche Machtverhältnisse zementiere – beispielsweise, indem auf der Bühne der Schein von Autonomie und Tatkraft evoziert wird, die Guckkastenbühne jedoch die Passivität der Theaterzuschauer affirmiert, die sich im Alltag als Unterwerfung unter die Produktionsverhältnisse äußert.

Die Absage an die Illusionsdramatik

Die illusionistische Bühne des bürgerlichen Theaters schottet sich als Unterhaltungs- und Bildungsinstanz von der konkreten Realität gesellschaftlicher Missverhältnisse ab, so die Kritik Brechts, propagiere zudem eherne Gesetze, schicksalhafte, überzeitliche Zusammenhänge, die sich dem menschlichen Zugriff zu entziehen scheinen, wo doch Veränderung möglich wäre. Dem Drama Brechts hingegen ist an der konsequenten Historisierung von gesellschaftlichen Entfremdungszuständen gelegen. Generalthema seines Theaters ist, der wissenschaftlich-soziologischen Ausrichtung des epischen Theaters entsprechend, der gesellschaftliche „‘Unterbau’ der Taten in dessen dinglicher Entfremdung“ (Szondi 1978, 108). Es geht Brecht um die Demonstration spezifischer historischer Zustände, die das Handeln der Figuren bedingen, jedoch zu verändern wären.

Brechts Kleines Organon für das Theater

Im Kleinen Organon für das Theater (1948), einer Zusammenfassung der dramaturgischen, dialogisch angelegten Schrift Der Messingkauf, werden die Konsequenzen der neuen Theaterform präzisiert; die Konzepte, die im Messingkauf dialektisch entwickelt werden, sind hier in handliche, lehrhafte Sätze gefasst (Knopf 1980, 458), die jedoch nicht über die Offenheit des Konzeptes hinwegtäuschen sollten (Müller 1972, 47). Zu berücksichtigen ist dabei, dass das Verhältnis zwischen Brechts Theorie und seinen Dramen grundsätzlich als prekär gilt; keinesfalls kommt beides zur Deckung (Hörnigk 1999, 235). Zu berücksichtigen ist ebenso, dass in den Nachträgen zum Organon der Begriff des epischen Theaters ausdrücklich verabschiedet wird, weil er zu Missverständnissen Anlass gibt; an seine Stelle rückt das „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“.

Über die Zuschauer des traditionellen Theaters heißt es im Kleinen Organon zunächst: „Untereinander verkehren sie [die Zuschauer; Anm. v. Verf.] kaum, ihr Beisammensein ist wie das von lauter Schlafenden, aber solchen, die unruhig träumen, weil sie, wie das Volk von den Albträumern sagt, auf dem Rücken liegen. Sie haben freilich ihre Augen offen, aber sie schauen nicht, sie stieren, wie sie auch nicht hören, sondern lauschen. […] Schauen und Hören sind Tätigkeiten, mitunter vergnügliche, aber diese Leute scheinen von jeder Tätigkeit entbunden und wie solche, mit denen etwas gemacht wird“ (Brecht 1964, 23f.) – vornehmlich, weil sie sich mit dem Bühnengeschehen identifizieren. Diese Form von Identifikation, die darauf zurückzuführen ist, dass der Zuschauer „in den Besitz ganz bestimmter Empfindungen zu kommen“ wünscht (Brecht 1964, 25), ist allein in einem Theater möglich, das die Widersprüche der Wirklichkeit durch harmonische Scheinbilder verdeckt und die Katastrophen als notwendige erscheinen lässt: „Das Theater, wie wir es vorfinden, zeigt die Struktur der Gesellschaft (abgebildet auf der Bühne) nicht als beeinflußbar durch die Gesellschaft (im Zuschauerraum).“

Historisierung der Konflikte

(Brecht 1964, 27) Das historische Feld, das auf der Bühne vorgestellt wird, sollte deshalb, so Brechts Forderung, als dynamisches präsentiert werden, d.h. in seiner historischen Bedingtheit; allein diese Relativierung verhindere Einfühlung sowie eine programmatische, überzeitliche Didaktik. Szondi führt aus: „Der Vorgang auf der Bühne füllt die Aufführung nicht mehr vollständig aus, wie einst die dramatische, bei dem das historische Moment der Aufführung deshalb untergehen mußte […]. Der Vorgang ist jetzt Erzählgegenstand der Bühne, sie verhält sich zu ihm wie der Epiker zu seinem Gegenstand: das Gegenüber beider ergibt erst die Ganzheit des Werks. Ebenso wird der Zuschauer nicht außerhalb des Spiels gelassen, ins Spiel aber auch nicht suggestiv hineingerissen (‘illudiert’), so daß er aufhörte, Zuschauer zu sein, sondern er wird dem Vorgang als Zuschauer gegenübergesetzt, der Vorgang wird ihm als Gegenstand seiner Betrachtung dargeboten.“ (Szondi 1978, 107)

Vermeidung von Identifikation

Auf diese Weise kann der Zuschauer „nicht schlechthin fühlen: ‘So würde ich auch handeln’, sondern kann höchstens sagen: ‘Wenn ich unter solchen Umständen gelebt hätte’“ (Brecht 1964, 29f.). Für das Bühnengeschehen bedeutet dieses Konzept, dass diverse historische Zustände überlagert werden, um einen (dynamisch-dialektischen) Widerspruch zu provozieren (Boner 1995, 80f.), um also die ausgesparten Varianten möglichen Handelns in Erscheinung treten zu lassen: „Das historisierende Abbild wird etwas von den Skizzen an sich haben, die um die herausgearbeitete Figur herum noch die Spuren anderer Bewegungen und Züge aufweisen. Oder man denke an einen Mann, der in einem Tal eine Rede hält, in der er mitunter seine Meinung ändert oder lediglich Sätze spricht, die sich widersprechen, so daß das Echo, mitsprechend, die Konfrontation der Sätze vornimmt.“ (Brecht 1964, 31) Werkzeug dieser Möglichkeitsdramaturgie ist unter anderem die Geste, die in Brechts Theatertheorie zentral ist (Benjamin 1966, 9; ebenso Heinze 1992).

Die Geste

Geste meint im Kontext von Brechts materialistischer Konzeption nicht den Ausdruck von Innerlichkeit, sondern ist Chiffre realen Verhaltens im sozial-intersubjektiven Raum; sie ist dasjenige physische Zeichen, das reale Einstellungen und Haltungen dokumentiert (Knopf 1980, 392). Die Geste kann damit zu dem Ort werden, an dem sich Verhaltensmöglichkeiten ankündigen und überlagern. Brecht bildet also gesellschaftliche Verhältnisse als physische ab, wobei der Körper sowohl als Metapher als auch als buchstäbliches (Kampf-)Feld fungiert. Entsprechend betont die neuere Brechtforschung, die den rationalistischen Deutungen der 1970er und 1980er Jahre entgegen arbeitet, die Bedeutung von Physis in Brechts Texten (Lethen 1994, 170f.), die sich der theoretischen Überformung entzieht, ja diese unterläuft. Lethen erklärt in einem von Hörnigk herausgegebenen Gespräch: „Brecht läßt in seinen Stücken das Pathos des politischen Existenzialismus am Körper scheitern, der gegen den Rationalismus der politischen Diktate interveniert.“ (Hörnigk 1999, 226)

V-Effekte

Die Spielweise, die die gesellschaftlichen Widersprüche fassbar werden lässt, „beruht auf dem Verfremdungseffekt (V-Effekt). Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen lässt“ (Brecht 1964, 32), wobei diese Verfremdungen „den gesellschaftlich beeinflußbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten wegnehmen [sollen], der sie heute vor dem Eingriff bewahrt“ (Brecht 1964, 33). Brechts Ziel ist es, das Vertraute unvertraut erscheinen zu lassen, ein Effekt, der durch diverse Verfahren zu bewerkstelligen ist (Vaßen 2012). Der Schauspieler kann z.B. seine Figur demonstrieren, also zeigen, dass sie nicht lediglich erlebt ist (Brecht 1964, 36) – Brecht scheint eine Doppelstrategie im Auge zu haben, Identifikation und Distanz. Eine solche Spielweise ermöglicht es auch, dass der Zuschauer „eine Frau, während er sie sprechen hört, im Geist noch anders sprechen hören [kann], sagen wir in ein paar Wochen“ (Brecht 1964, 38). Brecht entwickelt eine Vielzahl solcher Verfremdungsstrategien, die sich auch in seinen Dramentexten niederschlagen, z.B. Zitieren und Referieren – der Schauspieler lässt deutlich werden, dass er einen Text zitiert –, z.B. das Überführen eines Sachverhalts in die Vergangenheit, um Distanz herzustellen, z.B. das Mitsprechen von Spielanweisungen sowie Kommentaren und anderes mehr (Knopf 1980, 388f.).

Der Widerspruch als theatralisches Mittel

Ein weiterer Zentralbegriff der Brechtschen Dramatik ist der des Widerspruchs, der u.a. die Kontrastierung der theatralischen Mittel mit sich bringt. Brecht ist an der radikalen Trennung und Ausdifferenzierung der theatralischen Elemente gelegen (Berg, Jeske 1998, 100; Hecht 1986, 74); die theatralischen Mittel sollten sich nicht im Sinne eines rauschhaften Gesamtkunstwerks verbinden, sondern gegeneinander Einspruch erheben, sich relativieren und Lücken kenntlich werden lassen. Die Künste sollten sich „gegenseitig verfremden“ (Brecht 1964, 56). Bereits in seinen frühen dramatischen Versuchen setzt Brecht, angeregt durch Karl Valentin, Prosa, Vers, Musik und Gesang gegeneinander, um einer starren Bühnendramaturgie zu entgehen (Berg, Jeske 1998, 73).

Tat versus Charakter

Und auch die Tat und der Charakter, zwei Größen, die Lessing kausalgenetisch verknüpft hatte, werden separiert und im Sinne des Widerspruchs aufeinander bezogen: „Es ist eine zu große Vereinfachung, wenn man die Taten auf den Charakter und den Charakter auf die Taten abpaßt; die Widersprüche, welche Taten und Charakter wirklicher Menschen aufweisen, lassen sich so nicht aufzeigen.“ (Brecht 1964, 39) Oder – dialektisch formuliert –: „Die Einheit der Figur wird nämlich durch die Art gebildet, in der sich ihre einzelnen Eigenschaften widersprechen.“ (Brecht 1964, 40) Für die Aufführung bringt dieses Konzept mit sich, dass die Inszenierung als Konstruktion zu erscheinen habe: „Die Teile der Fabel sind also sorgfältig gegeneinander zu setzen, indem ihnen ihre eigene Struktur, eines Stückchens im Stück, gegeben wird.

Die Inszenierung als Konstruktion

Man einigt sich zu diesem Zweck am besten auf Titel“ (Brecht 1964, 50). Realisiert wird diese ‘Dekonstruktion’ der Fabel durch „die musikalischen Adressen an das Publikum in den Liedern“, durch die projizierten Zwischentexte, Chöre, Songs oder die Ausrufe der Zeitungsverkäufer im Saal (Brecht 1964, 53). Brecht geht also über die traditionellen Theatermittel einer bürgerlichen Bühnenpraxis weit hinaus (Hecht 1972, 180). In Bezug auf den Raum verlangt dieses Theaterkonzept die Aufgabe eines mimetischen Illusionismus. Dem Bühnenbildner, den Brecht bezeichnenderweise Bühnenbauer nennt, eröffnen sich unzählige Möglichkeiten, „wenn er beim Aufbau der Schauplätze nicht mehr die Illusion eines Raumes oder einer Gegend erzielen muß. Da genügen Andeutungen, jedoch müssen sie mehr geschichtlich oder gesellschaftlich Interessantes aussagen, als es die aktuale Gegend tut.“ (Brecht 1964, 55) Wichtig ist Brecht, „daß die Bühne Bilder entwirft, die die Benutzung von Umwelt und Dingen in ihrer Funktion zeigen“ (Knopf 1980, 399).

Ent- und Verfremdung

Diese Mittel sind allesamt auf ein Ziel ausgerichtet, nämlich die Selbstentfremdung des Menschen im kapitalistischen Zeitalter vorzuführen und die gesellschaftlichen Determinanten als veränderbare erscheinen zu lassen. „Durch diese Verfremdungen erhält der Subjekt-Objekt-Gegensatz, der am Ursprung des Epischen Theaters steht: die Selbstentfremdung des Menschen, dem das eigene gesellschaftliche Sein gegenständlich geworden ist, in allen Schichten des Werks seinen formalen Niederschlag und wird so zu dessen allgemeinem Formprinzip.“ (Szondi 1978, 110) Das soziale Drama Brechts, und als solches kann sein episches Theater eindeutig bezeichnet werden, soll entfremdete Haltungen durch Verfremdung kenntlich werden lassen, damit zugleich alternative Handlungsmodelle, die die gesellschaftliche Determiniertheit, die gesellschaftlichen Unterwerfungsstrukturen, aufsprengen. In Brechts Theater werden also zum einen die Gesetze der Entfremdung sichtbar gemacht – freilich jenseits eines ehernen Schicksals –, zum anderen geht es darum, diese als überwindbare zu demonstrieren. Die Zuschauer sollen in „eingreifendes Denken“ eingeübt werden, das Reflexion mit Handeln verbindet (Gilcher-Holtey 2007, 86–124). Ein Determinismusgedanke, wie er im Naturalismus vertreten wird, gilt Brecht entsprechend geradezu als fatal. Brecht verfolgt also insgesamt das Ziel, einerseits den Status determinierter Figuren sichtbar zu machen, diesen Status andererseits als überwindbaren fassbar werden zu lassen.

Tragödie als Komödie

Zu überlegen bleibt, in wieweit der traditionelle Tragödienbegriff für Brecht Relevanz besitzt (Hörnigk 1999, 222). Brechts ‘Lustspiele und Komödien’ ließen sich als aufgehobene Trauerspiele beschreiben, in denen die obsolete Tragödie in die Komödie umschlägt. Während seiner Arbeit an dem frühen Stück Mann ist Mann, das die „Abschaffung des Charakterkopfes“, des bürgerlichen Individuums, durchführt, spricht er von der „ungeheuerlichen Mischung von Tragik und Komik […], welche darin besteht, daß ein Mann dargestellt wird, der nach solchen Manipulationen an ihm noch lebt. […]. Mann ist Mann ist also ein Lustspiel, obwohl die Thematik – die Vernichtung des autonomen Individuums – nach den Kategorien des traditionellen Kunst- und Wirklichkeitsverständnisses ein Trauerspiel erwarten ließ: die Wahl der Gattung ist eine gesellschaftliche Stellungnahme.“ (Müller 1984, 100) Komödiantisch ist das Geschehen deshalb, weil eine objektiv überlebte, wenngleich subjektiv noch weiterhin verbindliche Form historischer Realität verabschiedet wird (Müller 1984, 100). Entsprechend wird in Brechts Stücken wiederholt über die (gesellschaftliche) Funktion der Tragödie nachgedacht, beispielsweise in Die heilige Johanna der Schlachthöfe.

Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama

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