Читать книгу Unendlich funkenhell - Frau Michelle Schrenk - Страница 11
Kapitel 5
Оглавление»Was hältst du davon, wenn wir noch ein bisschen bummeln gehen? Ich habe da was Cooles auf Instagram bei KassiLondon entdeckt. Das will ich dir zeigen, soll ein absoluter Geheimtipp sein«, sagt Jill, als wir am Freitag bei strahlendem Sonnenschein aus dem Schulgebäude treten. Die Woche ist geschafft, zum Glück, denn auf den Unterricht konnte ich mich kaum konzentrieren. Meine Gedanken gaben irgendwie keine Ruhe.
»Und was ist das für ein Geheimtipp?«
»Es soll das beste Eis und Cupcakes geben und richtig tolle Süßigkeiten, und die beruhigen ja die Nerven.«
Gegen Nervennahrung habe ich in der Tat nichts. Die Tage waren mehr als aufreibend.
»Und wer weiß, vielleicht finden wir ja auch noch was Hübsches für die Party«, fährt Jill fort. »Ich bin so aufgeregt, wirklich. Das wird ein geniales Wochenende.«
Verwundert sehe ich sie an.
»Ich dachte, du hast schon einen Kleiderplan?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Hab ich auch. Aber Klamotten kann man doch nie genug haben, oder?«
Sie stoppt. »Sorry, die Sache mit dem Geld, ich bin echt blöd. Aber ein bisschen schauen? Wär das okay?«
»Schauen geht immer«, sage ich und lächle. »Und Süßigkeiten sowieso.«
Auch wenn ich nicht mehr viel Taschengeld habe, weiß ich, dass mich der kleine Bummel sicher von den vielen Gedanken über Nathan und Louis, die mich in dieser Woche immer wieder eingeholt haben, ablenken wird.
Ich weiß nicht, was das mit Louis ist, aber in den letzten Tagen hatte ich das Gefühl, dass er mir bewusst aus dem Weg geht. Immer wenn wir uns begegneten, warf er mir merkwürdige Blicke zu und wechselte sogar ab und an die Flurseite. Natürlich kann es auch sein, dass ich mir das nur eingebildet habe. Aber irgendwie lässt mich der Gedanke nicht los, dass es doch so ist und dass dieses Verhalten etwas mit mir zu tun hat.
Ob er am Ende doch auch etwas gespürt hat und mich deswegen meidet? Ich muss an die kurze Berührung denken, als er sich nach der ersten Geschichtsstunde an mir vorbeischob, und an dieses Kribbeln, das sich dabei in mir ausbreitete. Die Berührung war nur flüchtig, und auch wenn sie keine Bilder in mir hervorrief, war da doch dieses kurz aufflammende Licht.
Okay, es klingt verrückt.
Vielleicht ist er auch einfach noch immer sauer wegen des Etuis? Und wenn er mich einfach so nicht leiden kann, dann eben nicht.
Ganz anders ist da Nathan, der sich gern mit mir zu unterhalten scheint und auch durchaus charmant ist. Wir haben ein paarmal zusammen gegessen, dabei erzählte er uns einiges von seinen Reisen.
Wir fahren schließlich mit der U-Bahn zum Covent Garden.
Dort angekommen, biegen wir um eine Ecke, überqueren die Straße, bis Jill auf ein Café deutet, über dessen Eingang der Schriftzug Becci’s Sweets & Cakes & Creams prangt. »Ha, das ist es! Das Café, von dem KassiLondon geschrieben hat!«
Als wir in der ewig langen Schlange stehen – die eindeutig davon zeugt, dass der Geheimtipp wohl doch nicht mehr ganz so geheim ist –, frage ich mich, ob die Idee mit dem Eis wirklich so gut ist. »Das dauert ja ewig«, jammere ich.
Jill wirft mir einen mahnenden Blick zu. »Ab und an muss man für so geheime Geheimtipps eben auch anstehen.«
Tolle Logik, denke ich und lasse meinen Blick schweifen. Dabei fällt mir ein Mann auf, der mich auf merkwürdige Weise mustert. Erst bin ich mir nicht sicher, ob er mich wirklich ansieht, aber er tut es. Er trägt ein braunes Tweedjackett, die etwas spärlichen grauen Haare hat er zur Seite gekämmt. Auffallend an seinem Outfit ist die rote Fliege, wodurch es irgendwie schick wirkt. Immer wieder blickt er zu Boden, fast so, als hätte er etwas verloren, das er jetzt verzweifelt sucht. Dann sieht er wieder zu mir und winkt mir sogar zu.
Okay, das ist etwas gruselig.
Irgendwann kann ich ihn nicht mehr ignorieren, und nachdem wir sowieso so lange warten müssen, stupse ich Jill an. »Der Mann da drüben, ich glaube, der sucht was.«
Sie sieht zu ihm.
»Ja, kann sein, schau nicht hin. Man soll kleine Kinder und alte Leute nicht anstarren, sonst kriegt man sie nicht mehr los.«
Wieder sieht er zu mir und winkt.
»Ich weiß nicht. Er tut mir leid, er wirkt so allein. Weißt du was, ich komme gleich wieder, nur einen Moment.«
»Amy, nein …«
Doch ohne Jills weitere Antwort abzuwarten, löse ich mich aus der Schlange und gehe auf den Mann zu. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, frage ich, woraufhin er nickt und irgendetwas vor sich hin murmelt, das ich nicht verstehe.
»Ähm, was? Suchen Sie etwas, Sir?«, versuche ich es noch einmal, und jetzt sieht er zu mir auf. Er hat blaue Augen, die von faltiger Haut umgeben sind. Sie wirken ein bisschen trüb – zuerst. Denn als er mich sieht, weiten sie sich und beginnen, ein wenig zu strahlen.
»Ach, ich suche nach dem Anhänger. Er ist doch so wichtig, und ich habe versprochen, auf ihn aufzupassen, damit sie ihn nicht bekommen. Die Fänger wollen ihn, aber jetzt ist er weg, und ich suche schon die ganze Zeit danach. Kannst du ihn sehen? Er muss hier irgendwo sein.«
Ein Anhänger? Irritiert sehe ich jetzt ebenfalls zu Boden.
»Wie konnte ich ihn nur verlieren? Die Fänger dürfen ihn nicht kriegen. Der Fluch, jetzt wird er …«
»Welche Fänger? Und welcher Fluch?«, frage ich, doch er murmelt nur irgendetwas.
Ja, ich sollte gehen, aber es scheint ihm wichtig zu sein.
»Ein Anhänger also. Okay, ich helfe Ihnen. Wie sieht er denn aus?«
»Das weißt du doch, Caroline.« Er sieht mich an. »Er ist rund und blau, und darin befindet sich eine Blume.«
Caroline? Okay, ich weiß nicht, denke ich, während ich beginne, mit den Augen sorgfältig den Boden abzusuchen. Ich finde nichts außer einem verrosteten Geldstück, Kaugummi und einem Plastikdeckel.
Als ich den Kopf hebe, winkt Jill mir zu. Mittlerweile steht sie schon ziemlich weit vorn in der Schlange. Sie hat recht. Was in aller Welt mache ich denn da? Ich sollte zu ihr zurückgehen, bevor wir an die Reihe kommen.
Ich räuspere mich. »Tut mir leid, Sir, aber da ist nichts. Sind Sie denn ganz allein hier?«
»Ach, Caroline«, sagt er und seufzt kurz. Sein Blick ist ganz sanft geworden. »Dass du wieder da bist, das macht mich so froh. Ich wusste, sie kriegen euch nicht klein. Ihr wart dem Rätsel schon auf der Spur. Natürlich verrate ich nichts. Aber wo … wo ist denn Will? Er ist doch sonst immer bei dir. Auch wenn ihr nicht dürft, ich …«
Er wirkt zunehmend verwirrt, und ich bekomme ein merkwürdiges Gefühl bei dem Gedanken, ihn jetzt einfach hier allein stehen zu lassen. Wer weiß, wo er hingehört. Am Ende ist er aus dem Altenheim weggelaufen oder so. »Sir, wissen Sie, wo Sie wohnen?«, frage ich ihn deshalb.
Er lächelt und schüttelt ganz leicht den Kopf. »Dass du mich das fragst … Das weißt du doch.«
Das ist der Moment, in dem mir endgültig klar wird, dass ich ihn nicht allein lassen darf. »Wollen Sie vielleicht auch ein Eis?«
Er beginnt zu strahlen. »Ja, sehr gern. Aber warum siezt du mich eigentlich?«
Ohne weiter darauf einzugehen, beschließe ich, ihn mit zu Jill zu nehmen.
»Was ist denn los?«, raunt sie mir zu, als ich mich zusammen mit ihm wieder in die Schlange einreihe.
»Tut mir leid. Der Mann ist echt total verwirrt und ganz allein. Er nennt mich Caroline und sucht nach irgendeinem Anhänger. Wenn wir unser Eis gegessen haben, bringen wir ihn zur Polizei. Sicher wird er schon von jemandem vermisst«, flüstere ich und Jill will gerade was sagen, als auf einmal neben uns eine junge Frau auftaucht, die sichtlich außer Atem ist. Sie trägt Sneakers und eine kurze helle Hose, und ihre hellbraunen Locken kringeln sich ungebändigt um ihr Gesicht. »Gott sei Dank, Grandpa! Was machst du denn hier? Du sollst doch nicht einfach abhauen.« Vor Erschöpfung lässt sie den Oberkörper nach vorn fallen und stützt ihre Hände auf den Knien ab.
»Wieso denn abhauen? Ich bin mit Caroline unterwegs. Wir wollten nur ein Eis essen und dann weiter nach dem Anhänger suchen. Ich habe ihn doch verloren.«
Die Frau sieht zwischen Jill und mir hin und her, dabei atmet sie erneut tief durch und seufzt. Es sieht so aus, als würde sie nicht zum ersten Mal in dieser Situation stecken. »Das tut mir so leid, Mädels. Ich hoffe, er hat euch nicht allzu sehr belästigt.« Sie beugt sich ein wenig nach vorn und spricht nun merklich leiser weiter. »Er ist krank, wisst ihr. Und es war mein Fehler, ich hätte ihn nicht aus den Augen lassen dürfen. Aber es war so viel los heute. Ich war am Aufräumen und habe vergessen, die Tür abzuschließen, als ich die letzte Kiste hereingetragen hatte.« Sie winkt ab. »Jetzt quatsche ich euch auch noch voll.«
Ich lächle ihr zu. »Schon okay. Er hat uns nicht belästigt. Ich bin ja zu ihm hingegangen, ich dachte, er sucht etwas.«
»Ach, in letzter Zeit sucht er immer etwas. Oder er erzählt von Leuten, die nicht älter werden, und andere merkwürdige Geschichten. Ich denke, es liegt daran, dass er ein leidenschaftlicher Antiquitäten- und Buchhändler war. Bestimmt vermischt er deswegen immer Fiktion und Wirklichkeit. Neulich hat er eine Frau für Wendy aus Peter Pan gehalten. Und dieser Anhänger, er war schon regelrecht wütend deswegen. Ich habe keine Ahnung, was für einen Anhänger er meint. Aber ich will euch damit nicht nerven. Jetzt rede ich schon wieder so viel.« Sie streckt uns die Hand entgegen. »Ich bin übrigens Sally Bookbloom – vielleicht habt ihr Bookbloom’s, den kleinen Laden am Ende der Straße mit den grünen Verzierungen an der Fassade, schon mal gesehen. Früher hieß er Barney’s nach meinem Grandpa.« Sie deutet auf den Mann. »Doch jetzt gehört er mir. Also, falls ihr mal auf der Suche nach außergewöhnlichen Geschenken, Büchern, Kunst- oder Zeichenutensilien seid, kommt gern vorbei. Etwas chaotisch ist es zwar bei uns noch, weil wir erst seit gut acht Wochen hier und noch am Herumräumen sind, aber das wird.«
Ich mag Sally mit ihrer offenen Art. Sie wirkt wirklich nett. »Das machen wir gern«, sage ich, »vielen Dank.«
»Komm, Grandpa, wir gehen, ja? Ich helfe dir zu Hause wieder beim Suchen. Ich glaube, ich habe ihn in einem der Regale gesehen.« Sie verabschiedet sich von uns, dann greift sie ihren Großvater am Ellbogen und zieht ihn mit sich, während er noch ein bisschen deswegen meckert, dass er jetzt kein Eis bekommt.
Mittlerweile sind wir endlich an der Reihe, und ich hoffe echt, dass sich das lange Warten gelohnt hat. Zumindest sieht alles ziemlich gut aus. Jill bestellt einen Becher Eis, und ich entscheide mich dann doch für einen gefüllten Muffin, der, laut der Bloggerin, der Knaller sein soll.
Auf einer Bank in der Nähe lassen wir uns schließlich nieder. Schon der erste Bissen schmeckt himmlisch.
»Mmh«, schwärmt Jill, während sie sich einen Löffel Karamelleis in den Mund schiebt. »Das ist richtig gut, oder? Also, KassiLondon hat echt nicht übertrieben mit ihren Tipps, das muss man sagen. Du musst ihr unbedingt auch folgen. Okay, die Wartezeit war jetzt nicht so toll, aber wenigstens hat es sich gelohnt.«
Eine Weile sagt keine von uns etwas, weil wir mit unseren Leckereien beschäftigt sind.
»Verflucht gut«, seufzt Jill nur irgendwann und ich denke bei dem Wort verflucht an den alten Mann und das, was er gesagt hat. Ob er es merkt, dass er nicht mehr in der Lage ist, alles richtig zu unterscheiden, und auf andere etwas verrückt wirkt? Aber das muss ich gerade sagen: Wie wirke ich wohl auf Jill mit den Bildern, die ich sehe und auf Papier festhalte?
Es liegt mir auf der Zunge, aber ich beschieße, heute mal nichts darüber zu sagen. Dies sollte schließlich eine Ablenkung sein.
Als wir fertig sind, reden wir noch ein bisschen über die Schule, über das anstehende Wochenende und machen uns dann auf den Weg zur U-Bahn.
Jill hat eine Nachricht von ihrem Dad bekommen, dass sie noch auf einen Geburtstag gehen und sie nicht trödeln soll – und ich habe auch nichts dagegen, mich daheim etwas auszuruhen. Wir sind schon fast bei der U-Bahn, als wir an einem Laden vorbeikommen, der mir gleich ins Auge sticht. Bookbloom’s steht auf dem Schild über der Tür. Sofort fallen mir der alte Mann und seine Enkelin wieder ein. Ob die beiden gut nach Hause gekommen sind?
»Das müsste das Geschäft sein, von dem die Frau vorhin gesprochen hat, oder?«, frage ich.
Jill lässt ihre Augen ebenfalls über das Ladenschild wandern und nickt.
»Was meinst du? Wollen wir kurz reingehen?«
»Sorry, ich muss doch los. Aber geh du doch ruhig noch rein!«
»Okay, nur ein bisschen stöbern.«
Wir umarmen uns, bevor sich Jill in Richtung U-Bahn verabschiedet und ich die Ladentür öffne. Wie bei den meisten Läden in London erklingt ein helles Glöckchen über meinem Kopf, und mir schlägt ein Duft entgegen, den ich liebe. Der Duft nach Papier und alter Zeit. Es ist beinahe, als würde das Geschäft Tausende von Erinnerungen in sich tragen. Sofort fühle ich mich hier wohl – mehr als das.
Kurz sehe ich mich um, doch dann tritt schon die Frau von vorhin hinter die Ladentheke, Sally.
Sie lächelt mich an. »Oh, hallo, so schnell sieht man sich wieder.«
Ich nicke. »Ja. Ich dachte, ich schau mal rein.«
»Und deine Freundin? Hatte sie Angst vor meinem Grandpa?«
Sie verzieht das Gesicht und ich muss lachen. »Nein, sie hatte nur schon was vor.«
»Gut. Brauchst du was Bestimmtes oder willst du dich einfach mal umsehen?«
Ich winke ab. »Ich sehe mich nur ein bisschen um, wenn das recht ist. Habt ihr Zeichenstifte?«
»Klar, einfach dort nach hinten gehen, da sind sie irgendwo.« Sally deutet in Richtung einer Regalreihe, vor der einige Kartons stehen, und grinst.
»Irgendwo klingt gut.«
»Ja, es ist wie gesagt noch etwas chaotisch, aber am Ende des Ganges müsstest du welche finden. Kurz bevor der Bereich mit den alten Büchern beginnt, haben wir alles Mögliche an Kunstbedarf: Zeichenstifte, Leinwände, Pergament …«
»Super, dann schaue ich dort mal.«
»Mach das. Ich muss noch mal kurz in den Keller, ein paar Kartons verstauen. Nachdem Grandpa ausgebüxt ist, komme ich erst jetzt dazu, jetzt schläft er, es war echt aufregend für ihn«, sagt sie und verschwindet durch eine Tür, vor der ein roter Samtvorhang hängt.
Ich hingegen schlendere in den hinteren Teil des Ladens und muss zugeben, dass ich es hier sehr schön finde. Es ist beinahe wie eine große Fundgrube – zwar wirklich etwas chaotisch, wie Sally gesagt hat, und vieles steht herum, ohne dass dahinter ein System zu erkennen ist, trotzdem hat es seinen Charme. Mit etwas Ordnung könnte man daraus echt ein tolles Geschäft machen.
Vor dem Bereich mit den Leinwänden und Stiften bleibe ich stehen. Ich bin ganz überrascht von der großen Auswahl und mustere alles andächtig. Es gibt Stifte von Milon, einer guten Marke, von der ich allerdings nur träumen kann. Da ich mir nicht annähernd etwas davon leisten kann, genieße ich es, mich einfach nur umzusehen und all die Eindrücke in mich aufzunehmen.
Ich gehe einen Gang weiter, in dem sich auch ein paar gemütliche Sitzgelegenheiten befinden, und lasse meinen Blick über die vielen Regale mit Büchern wandern. Es gibt alte Bücher, so wie Sally gesagt hat, und auch neue, die auf einem Tisch ausgestellt sind. Wunderhübsche bunte Cover leuchten mir entgegen.
Schließlich finde ich eine alte Ausgabe von Oliver Twist. Die Seiten sind schon vergilbt, und ich lasse das dünne Papier durch meine Finger wandern. Eine Weile sehe ich das Buch noch an, doch dann entdecke ich ein anderes, das mich interessiert. Es hat einen schwarzen Ledereinband und wirkt irgendwie faszinierend und geheimnisvoll, was vielleicht an den verschlungenen goldenen Verzierungen auf dem Rand liegt.
Gerade will ich danach greifen, als ich ein kurzes, dumpfes Geräusch höre und gleich darauf auf dem Boden einen Stift entdecke, der in meine Richtung rollt. Ich bücke mich danach, sehe um die Ecke, weil ich wissen will, wo der Stift herkommt, und zucke heftig zusammen. Denn da sitzt Louis in einem der Sessel. Sofort beginnt es wieder, in meinem Magen zu kribbeln. Das Geräusch kam wohl von dem Buch, das jetzt am Boden liegt.
Das Bildniss des Dorian Gray – Oscar Wilde. Ich sehe zum Buch und wieder zu Louis. Was macht er denn hier?
Mit geschlossenen Augen sitzt er da, den Kopf schief gelegt, vor sich auf dem Schoß ein weiteres Buch. Die schwarzen Haare hängen ihm in die Stirn. Zuerst vermute ich, dass er schläft, aber dann sehe ich, dass er Kopfhörer im Ohr hat. Wobei ich dennoch nicht ausschließen kann, dass er eingeschlafen ist. Ich stehe wie festgewachsen da, und wieder schaffe ich es nicht, die Augen von ihm abzuwenden. Die Ärmel des hellen Hemdes, das zur Schuluniform gehört, hat er hochgekrempelt, und ich kann deutlich erkennen, wie schön seine Unterarme sind. Ich versuche krampfhaft, meine Augen abzuwenden, doch es gelingt mir nicht so ohne Weiteres.
Als ich einen Blick auf das Buch in seinem Schoß werfe, entdecke ich darin ein Bild, das Louis anscheinend unter einen Text gezeichnet hat und das ein Paar zeigt. Ich kann es nicht deutlich erkennen, aber das Motiv kommt mir irgendwie bekannt vor. Unsinn, ermahne ich mich, aber meine Neugier lässt mich noch etwas näher herangehen. Als Louis plötzlich tief einatmet, trete ich jedoch rasch wieder zurück.
Was mache ich da? Mich geht es schließlich nichts an, was er in das Buch geschrieben oder gezeichnet hat. Ich sollte mich lieber umdrehen und gehen, bevor er mich noch entdeckt. Aber ich kann nicht anders, ich beuge mich weiter vor, um noch mehr von dem Bild zu sehen, was mir schließlich auch gelingt. Es zeigt ein Paar auf einer Wiese umgeben von Rosen. Mein Puls schießt in die Höhe. Ich bin mir ganz sicher, dass es dem Bild, das ich schon mal gezeichnet habe, ähnelt, nur ist das Motiv aus einer anderen Perspektive dargestellt.
Während ich mich kopfschüttelnd frage, ob ich mir das wohl auch nur einbilde, gelingt es mir, einen weiteren Blick auf das Buch zu erhaschen. Louis hat darin wohl auch Briefe gesammelt und noch andere Bilder, die ich allerdings nicht erkennen kann. Kann es sein, dass es eine Art Tagebuch ist? Ein Buch zur Recherche? Oder ein Sammelbuch? Ich versuche, etwas von dem Text zu entziffern. Nicht bestätigt, muss geprüft werden, steht da.
Doch plötzlich geht alles ganz schnell. Louis bewegt sich, das Buch fällt zu Boden, ich stolpere in meiner ganzen Panik nach vorn und falle – natürlich – auf ihn drauf. Er öffnet die Augen, sein Blick trifft meinen. Es ist eine Sekunde, mehr nicht. Aber in genau dieser Sekunde sind wir uns plötzlich sehr nah. Als ich registriere, wie nah, will ich mich rasch aufrichten und greife an seinen Oberschenkel – leider etwas zu weit oben. Er verzieht das Gesicht, und mir schießt sofort die Röte auf die Wangen, nachdem mir klar wird, wo sich meine Hände gerade befinden.
»Oh Gott, tut mir leid«, stammle ich und will aufstehen, doch er hält mich an der Taille fest.
»Du schon wieder.« Seine Augen fixieren mich eindringlich, während ich auf seinem Schoß kauere und mein Herz zu rasen beginnt. »Suchst du was Bestimmtes?«
»Nein.« Ich schlucke und kann die Hitze, die ich gerade spüre, nicht leugnen.
Kurz sehen wir uns noch an, seine Finger noch spürbar an meiner Taille schicken ein Kribbeln durch meinen Körper. Ich muss aufstehen, denke ich, dann löse ich mich aus seinem Griff. Schnell, ich sollte mich ablenken. Ich will ihm helfen, das Buch aufzuheben, aber er schiebt mich weg, bückt sich nach dem Buch und klappt es hastig zu. Trotzdem kann ich noch die Jahreszahl auf dem Bild erkennen: 1887.
Der Stift, der mir bei meinem Sturz aus der Hand geglitten ist, liegt noch immer am Boden. Ich hebe ihn auf und halte ihn Louis entgegen. »Ääh, hier, ich glaube, der gehört dir auch und das Buch von Oscar Wilde«, sage ich, weil mir nichts anderes einfällt und die Situation mehr als unangenehm ist.
Er zieht eine Augenbraue nach oben. »Was machst du eigentlich hier? Verfolgst du mich?«
»Was? Nein, warum sollte ich? Und woher soll ich denn wissen, dass du hier sitzt und vor dich hin schläfst?«
Er packt das Buch in seine Tasche, dann kommt er auf mich zu. Als er nach dem Stift greift und unsere Fingerspitzen sich erneut kurz berühren, passiert es wieder. Wieder ist da dieser kurze, aber spürbare Schlag sowie ein Licht, gefolgt von Bilderfetzen, die mit einem Mal so greifbar sind und durch den Raum zu schweben scheinen. Sie zeigen einen jungen Mann und eine junge Frau, die aus einem brennenden Gebäude flüchten. Es ist so real, dass ich beinahe schon die Hitze spüre.
Ich reiße mich los, aber das Kribbeln ist noch immer da. »Das ist so heftig«, murmle ich. Es rutscht mir einfach so heraus, und ich bereue es auch sofort.
Er sieht mich merkwürdig an. »Ja, das ist allerdings heftig.«
Er macht noch einen Schritt auf mich zu und ist mir nun wieder so nah, dass mein ganzer Körper unter Strom zu stehen scheint. Ich weiß nicht, ob es vor Aufregung ist, weil Louis so dicht vor mir steht, oder weil er mich so ansieht und ich seinen Duft erneut in der Nase habe, diese Mischung aus Zedernholz und frischer Wäsche. Er riecht gut. Mist.
»Ich frag mich, warum«, meint er.
»Warum, was?«
»Warum du mich beobachtest. Die ganze Woche schon.«
»Was? Nehm dich mal nicht so wichtig. Das habe ich sicher nicht«, antworte ich bestimmt.
»Ach ja? Und wie nennst du das dann?«
»Das nenne ich einkaufen. Ich kann hier sein, solange ich will. Oder gehört dir der Laden etwa?«
Er blickt an mir vorbei und beginnt zu schmunzeln.
Bevor ich noch etwas entgegnen kann, taucht Sally hinter uns auf. »Alles okay hier? Belästigst du etwa unsere Kundin, Louis?«
Unsere Kundin? Sie kennt ihn? Gehört er etwa tatsächlich zum Laden?
»Nein, das tue ich nicht«, entgegnet er mit ziemlich finsterer Miene.
Doch Sally scheint ihm das nicht abzunehmen. Sie mustert ihn skeptisch. »Das hoffe ich für dich. Reicht ja, dass Grandpa heute schon sein Unwesen mit der jungen Dame getrieben hat.« Sie sieht mich entschuldigend an. »Tut mir echt leid, mein Neffe ist ab und zu etwas mürrisch, vor allem wenn er aus dem Schlaf aufwacht, da ist er ein richtiger Sonnenschein.« Sie grinst, und ich grinse zurück.
»Ja, Sonnenschein trifft es gut«, bekräftige ich.
Louis’ Blick wird noch eisiger. »Ich habe nicht geschlafen.«
Sally tippt ihm an die Brust. »Hast du wohl. Oder warum bist du sonst so unfreundlich?«
»Es ist alles gut«, sage ich. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass Louis Ärger mit seiner Tante bekommt. »Er hat mich nicht belästigt, wirklich.«
Louis nickt. »Eben. Ich wurde eher von ihr belästigt. Und zwar unsittlich.«
Sallys Augen weiten sich, und ich glaube echt, mich verhört zu haben. Sofort steigt mir die Röte auf die Wangen. »Nein, nein, so würde ich das jetzt auch nicht nennen«, verteidige ich mich rasch. »Ich bin gestolpert und auf ihn … draufgefallen.
»Mal wieder«, ich sehe zu Louis. Das musste jetzt sein.
»Und war ja auch nicht aus Absicht oder so. Und außerdem …« Die Worte sprudeln aus mir heraus, und meine Wangen werden heiß. Was tue ich da?
»Hörst du?«, fällt er mir ins Wort. »Sie leugnet es nicht mal«, sagt er an Sally gewandt.
Glücklicherweise ergreift Sally nun die Initiative. »Stopp, stopp, stopp. Keine Ahnung, was hier los ist, Leute. Aber beruhigt euch mal, das ist ja schrecklich. Louis, musst du nicht los? Du hast doch versprochen, eine Bestellung wegzubringen. Ich bezahle dich schließlich nicht dafür, dass du hier herumsitzt, schläfst und mir die Kunden vergraulst. Also raus mit dir, Mrs Rosewood wartet schon. Ich kümmere mich um …« Sie sieht mich fragend an. »Wie war noch mal dein Name?«
»Amy«, antwortet Louis an meiner Stelle. »Und du bezahlst mich gar nicht, Tante Sally.«
»Doch, mit Essen, Unterkunft und ganz viel Liebe.« Sie wird ein wenig rot, und Louis zieht eine Augenbraue nach oben. »Aber jetzt los, raus mit dir!«
Mir entgeht nicht, dass Louis mir noch einen genervten Blick zuwirft, der mich aus dem Blau seiner Augen trifft. Als er an mir vorbeigeht, streift er meine Schulter. Das Gefühl seiner Berührung ist so intensiv, dass sich abermals Hitze in mir breitmacht. Als hätte er es bemerkt, zuckt auch er kurz zusammen. Doch dann geht er weiter, schnurstracks in Richtung Tür.
»Tut mir leid, falls er unfreundlich war«, sagt Sally zu mir, nachdem er verschwunden ist. »Er ist noch nicht wirklich hier angekommen. Und dann das mit Grandpa, dass wir den Laden für ihn übernehmen. Der Stress in der Schule. Alles hat sich verändert. Also nimm es ihm nicht übel.«
Ich nicke und fühle plötzlich mit Louis. Denn ich weiß, wie es ist, wenn so viel Neues auf einen einstürzt.
»Hast du wenigstens was gefunden?«, reißt mich Sally aus meinen Gedanken zurück.
Ich deute auf das Regal neben mir. »Ihr habt tolle Bücher, aber auch Zeichenstifte. Ich habe mich direkt verliebt.«
»Ehrlich?« Sie lächelt.
Okay, das war jetzt nicht so toll ausgedrückt, Amy. »In die Sachen, meine ich«, füge ich schnell hinzu.
»Klar, in was denn sonst?« Sie zwinkert mir zu. »Ich muss ja gestehen, dass ich von dem Kunstbedarf nicht sonderlich viel Ahnung habe. Das alles ist auch noch recht neu für mich. Aber schön zu hören, dass dir das Sortiment gefällt. Du kennst dich damit aus?«
»Ein wenig. Ich zeichne gern und habe mich schon immer mit Kunst beschäftigt, was an meinem Dad lag. Er war auch sehr an Kunst interessiert, ich habe das sozusagen im Blut.«
»War?«
Ich atme tief durch. »Er ist gestorben.«
»Das tut mir leid.« Sie streckt mir ihre Hand entgegen, und ich ergreife sie.
»Danke.«
»Aber das mit dem Zeichnen ist toll. Ich beneide ja jeden, der ein solches Talent hat. Willst du denn ein paar Stifte mitnehmen?«
»Um ehrlich zu sein, würde ich das gern, aber im Moment habe ich nicht so viel Taschengeld.«
»Klar, kein Problem.« Sie nickt. »Du und Louis, ihr kennt euch?«
Was soll ich denn darauf antworten? »Na ja, als kennen würde ich das nicht gerade bezeichnen, wir sind uns schon mal begegnet. Und er geht neuerdings auf meine Schule.«
Sie seufzt und streicht sich eine Locke aus der Stirn. »Ja, und ich hoffe, das bleibt auch so.«
Ich frage mich, ob sie von der Sache mit Mr Kane weiß. Aber ich beschließe, es jetzt auch nicht anzusprechen, das würde mir irgendwie komisch vorkommen.
»Weißt du, Louis ist etwas temperamentvoll«, fährt sie fort. »Doch glaub mir, egal was man über ihn sagt oder erzählt, er hat ein gutes Herz. Auch wenn er das nicht hören darf. Aber na ja, ich rede zu viel. Um auf die Stifte zurückzukommen: Wenn du willst, suche ich dir ein paar heraus, die du haben kannst. Wir haben bestimmt noch irgendwo Muster hier. So als kleine Entschädigung für meine verrückten Männer. Wenn du mir deine Nummer gibst, kann ich dich anrufen, sobald ich sie zusammengesucht habe. Was meinst du?«
»Ehrlich?«
Sie lächelt. »Ja, ehrlich. Also?«
»Danke, das ist sehr nett, aber eigentlich nicht nötig.«
»Ich möchte es aber gern. Also, ich melde mich dann bei dir.«
Nachdem ich ihr noch meine Nummer aufgeschrieben und den Laden verlassen habe, denke ich auf dem Nachhauseweg darüber nach, wie nett Sally doch ist – ganz im Gegensatz zu ihrem Neffen. Und doch schlägt mein Herz bei dem Gedanken an ihn ein bisschen schneller.