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Kapitel 3

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Als ich vor unserem Backsteinhaus in der Tooley Street angekommen bin, ziehe ich den Schlüssel aus meiner Tasche und schiebe ihn ins Schloss. Unser Haus ist nicht das schönste, trotzdem mag ich es. Es ist noch eines der alten Häuser, bei denen die Mieten erträglich sind, wenn man sie sich teilt. Und die Miete ist auch nur deshalb so niedrig, weil Tante Mays Familie das Haus schon lange bewohnt. Ich drücke die schwere Haustür aus dunklem Holz auf und komme in unseren schmalen Flur. Man kann von dort aus direkt ins Wohnzimmer blicken, wo Tante May auf dem Sofa sitzt und in einer Strickzeitschrift blättert. Ein beißender, etwas säuerlicher Duft steigt mir in die Nase. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sie gekocht hat – oder wie auch immer man das nennen mag.

Sie hebt den Kopf. »Hallo, Liebes. Na, wie war der Ausflug?«

»Ganz okay«, antworte ich und stelle mich in den Türrahmen. »Diese Glasplatten im Boden waren mir irgendwie nicht geheuer.«

»Echt? Dabei hast du doch sonst keine Angst.«

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung, war einfach merkwürdig.«

»Na ja, ich kann dich verstehen, für mich wäre das auch nichts. Ich frage mich, wer das braucht. Aber gut, für die Touristen ist es perfekt … Hast du Hunger? Ich habe eine Art Auflauf gemacht, und zum Nachtisch gibt’s Cookies. Der Auflauf ist selbst gemacht, die Cookies habe ich gekauft.« Wusste ich es doch. Deswegen der Geruch im ganzen Haus.

Sie bemerkt wohl, dass ich nicht wirklich weiß, was ich antworten soll, und lacht. »Im Kühlschrank habe ich auch ein paar Sandwiches für dich vorbereitet, falls du den Auflauf nicht magst. Deine Mum kommt heute leider wieder recht spät nach Hause.«

Wissend nicke ich. Mum kommt ständig spät – leider. Aber im Hotel ist immer unheimlich viel zu tun. Sie arbeitet im Langham, einem der bekanntesten Hotels der Stadt, in dem schon Monarchen und Staatsoberhäupter aller Länder genächtigt haben. Auch Oscar Wilde, Mark Twain, Angelina Jolie und Colin Farrell haben dort logiert. Ich weiß noch, wie Jill beinahe durchdrehte, als Mum davon erzählte. Sie wollte, dass Mum ihr unbedingt Bescheid gibt, wenn sich mal wieder ein Promi dort einmieten sollte.

»Danke, Tante May.« Ich gehe in die Küche und werfe einen kurzen Blick auf den Auflauf, der nicht nur merkwürdig riecht, sondern auch so aussieht. Eine Art Auflauf – ja, das trifft es in der Tat. Und so entscheide ich mich spontan für die Sandwiches und nehme mir dazu noch ein paar Cookies aus der Keksdose. Wie auf Kommando beginnt mein Magen zu knurren.

Tante May ist mittlerweile wieder in ihre Zeitschrift vertieft, und ich balanciere alles in Richtung Treppe, die hinauf in den ersten Stock führt, wo sich auch mein Zimmer befindet.

Den Treppenaufgang hat Tante May mit einer Unmenge von Fotos und Gemälden geschmückt. Ich muss zugeben, es sind wirklich hübsche Bilder darunter. Einige zeigen das alte London, andere Familienangehörige aus früheren Zeiten, unter anderem Tante Mays Schwester Kitty, die wohl bei einem U-Bahn-Unglück ums Leben kam. Tante May hat schon öfter erwähnt, dass ich sie an Kitty erinnere. Wir sehen uns tatsächlich ein bisschen ähnlich: Wir haben die gleiche Haar- und Augenfarbe. Noch dazu hat auch sie ein Muttermal am Kinn. Auf dem Foto sieht sie glücklich aus. Anfangs hatte ich beim Betrachten der Bilder oft ein mulmiges Gefühl, weil die meisten Menschen darauf schon tot sind – unter anderem mein Dad. Aber mittlerweile finde ich es schön, weil sie so nicht vergessen sind. Genauso wie Urgroßtante Claire, eine hübsche Frau, von der Tante May immer behauptet, dass ich ihr ebenfalls irgendwie ähnlich sehe. Soweit ich weiß, ist sie leider auch schon als junge Frau gestorben.

Als ich mein Zimmer betrete, schimmert das Licht von draußen herein. Während mein Blick zu dem großen Baum vor dem Fenster schweift, stelle ich den Teller auf dem hübschen geschnitzten Nachttisch ab. Ich mag dieses Zimmer. Ursprünglich war es wohl mal Tante Mays Arbeitszimmer, weswegen darin auch ein alter, massiver Schreibtisch steht. Doch nicht nur die Aussicht auf den Baum und die Straße ist schön. Auch das Bett ist groß und wirklich bequem, der Schrank ist aus hellem Holz und hat verzierte Intarsien an den Seiten.

Nachdem ich meine Tasche auf den Boden fallen gelassen und es mir im Schneidersitz auf dem Bett gemütlich gemacht habe, nehme ich mir ein Sandwich und schalte kauend den Fernseher ein. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, nicht mehr daran zu denken, aber irgendwie schweifen meine Gedanken doch immer wieder zu dem Jungen auf der Tower Bridge ab, gefolgt von den Bildern des Liebespaares, die ich gesehen habe, als sich unsere Finger berührten. Sie waren so real.

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich stehe auf und hole mein Zeichenbuch vom Schreibtisch. In den letzten Jahren habe ich viele Bilder darin verewigt. Bilder, die plötzlich vor meinem geistigen Auge auftauchten – doch niemals waren sie so überdeutlich wie heute.

Als ich durch die Seiten blättere, bleibt mein Blick auf der Zeichnung eines Liebespaares hängen. Ich habe sie schon vor längerer Zeit gemalt und schon gar nicht mehr daran gedacht. Sie zeigt die beiden umgeben von Rosen in einem prächtigen Garten sitzend. Nun fällt mir auch wieder ein, wie ich darauf gekommen bin. Das Motiv rauschte mir seinerzeit plötzlich in den Kopf, als ich auf einem Markt in Notting Hill ein Rosenshampoo kaufte. Es muss der Duft gewesen sein, der das Bild in meinem Kopf auslöste. Zu Hause musste ich es dann sofort zeichnen. Mum war ganz begeistert davon, aber sie ist sowieso immer von meinen Bildern begeistert und meint, dass ich unbedingt mal Kunst studieren oder irgendwas anderes in dieser Richtung machen soll. Was auch mein Plan ist – vorausgesetzt, wir können uns die Studiengebühren leisten. Noch weiß ich nicht genau, wohin es gehen soll, eventuell auch zu einer Zeitschrift, einem Museum oder in Richtung Grafikdesign – ich bin da noch unentschlossen. Vielleicht lasse ich es am Ende aber auch ganz bleiben. Denn zu wissen, dass Mum auch deswegen so hart arbeitet, belastet mich ungemein.

Ich blättere weiter und blicke auf die Zeichnung einer Frau. Sie sitzt vor einem mächtigen Baum mit einem Gebäude im Hintergrund und trägt ein himmelblaues Kleid mit weißer Spitze. Irgendwann war das Motiv ebenfalls einfach da, und ich erinnere mich, dass ich beim Zeichnen eine gewisse Traurigkeit spürte und das Gefühl hatte, dass die Frau auf der Suche nach etwas ist oder auf etwas wartet.

Ein anderes Bild zeigt nur eine Brosche mit einer ungewöhnlichen Form, auf der eine Art Zeichen eingraviert ist, das ich aber nicht genau erkennen konnte. Es kam mir vor einiger Zeit in den Sinn, als ich an der Themse entlangspazierte, in der Nähe des Swan Pier.

Wieder fällt mir der Ausflug von heute ein und das, was ich gesehen habe. Die Bilder waren vorher schon da, dieses Liebespaar, das sich von der Brücke stürzte. Aber als der Junge und ich uns berührten, fühlte es sich zum ersten Mal total anders an. Es war wie ein Ausschnitt, der Form annimmt. Ich denke an das Paar und diese altmodische Kleidung, die auch sie trugen, an diese merkwürdigen verhüllten Männer, von denen sie verfolgt wurden, und an die Angst, die die beiden empfanden. Und daran, wie er zu ihr sagte, es sei an der Zeit, das Jahr 1900 zu verlassen, und sie schließlich von der Brücke sprangen. All diese Bilder wirken auf mich wie kleine Zeitreisen und auch wenn ich nicht weiß, was das alles bedeutet – ich muss es festhalten. Also greife ich nach dem Zeichenstift, setze auf dem Papier an und zeichne all das, was ich gesehen habe. Ich versinke darin, lasse Skizze um Skizze aus meinen Fingern fließen. Die beiden, wie sie dasaßen und über die Stadt blickten, wie sie sich an den Händen hielten. Dieses Etui. Es sah so ähnlich aus wie das des Jungen auf der Brücke. Ich denke an den Mantel, den das Mädchen über einem spitzenbesetzten Kleid trug. Ich zeichne die Männer in den Kutten, den einen von ihnen, der etwas Goldenes an seiner Kutte hatte und richtig düster wirkte. Und schließlich den Moment, als der Junge und das Mädchen hinabstürzten. Es geht mir ganz leicht von der Hand, und ich merke nicht mal, wie die Zeit verfliegt.

Als ich die fertigen Bilder betrachte, scheint alles real geworden. Wie immer ist da die Frage in meinem Kopf, wer die beiden sind und was ihre Geschichte ist, ob sie wirklich auf der Tower Bridge waren. Und vor allem, warum sie sterben mussten – oder eher wollten? Claire und Alan, so hießen sie, oder? Doch dann ermahne ich mich. Es ist nicht real, auch wenn es sich so anfühlt. Es sind nur Bilder.

Ich will den Stift gerade weglegen, als ich erneut an den Jungen denken muss. Mir war ja, als hätte ich ihn bereits gezeichnet, doch in der Mappe finde ich nichts, sooft ich sie auch durchsehe. Ich schließe die Augen, versinke in dem Moment, dann fange ich an, seine Züge zu malen. Es geht wie von selbst, als würde ich sie in- und auswendig kennen, und ich erschrecke selbst darüber. Es fühlt sich an, als würde der Moment immer und immer wieder vor mir lebendig werden.

Als ich fertig bin, starre ich einige Minuten lang auf das Bild, auf die Augen des Jungen, die Form seines Gesichts, seine vollen Lippen mit der etwas weniger ausgefüllten Oberlippe. Mein Herz schlägt heftiger in meiner Brust, und ich atme tief durch. Als wir uns berührten, war da irgendetwas in seinem Blick. Als hätte er es auch gesehen, als wäre da ein Geheimnis, das ich zu gern entschlüsseln würde.

Du bist irre, Amy Evans, eindeutig!

Das Klingeln des Telefons reißt mich zum Glück aus meinen Gedanken. Ich zucke zusammen und klappe das Buch zu. Als ich rangehe, höre ich Jills vertraute Stimme. »Hey! Na, wie oft hast du, seit du zu Hause bist, an den Jungen von der Tower Bridge gedacht? Und an diesen Nathan?«

Ich rolle mit den Augen. »Gar nicht«, antworte ich.

Doch sie lacht. »Ist klar. Und du hast ihn auch sicher nicht gemalt. Ich wette, dein Zeichenbuch liegt gerade vor dir.«

Ich muss lächeln. Jill kennt mich zu gut. »Na schön, ich habe ihn gezeichnet«, gebe ich schließlich zu.

»Wen? Nathan oder den anderen?«

»Den anderen«, sage ich, woraufhin sie kichert.

»Den du eigentlich schon mal gezeichnet hast?«

Ich seufze. »Ja, das dachte ich zumindest, aber ich habe ihn nirgendwo auf den Bildern gefunden. Vielleicht war es doch nur eine Einbildung.«

»Wie auch immer, ich habe auf alle Fälle Neuigkeiten, die ganz und gar keine Einbildung sind. Echte Neuigkeiten.

Pass auf, ich habe beim Gassigehen Mary Goose getroffen.« Mary ist die Tratschtante der Schule, arbeitet zudem bei der Schülerzeitung und hat immer die aktuellsten Informationen parat. »Nun, Mary meinte, wir bekommen zwei neue Schüler. Und jetzt rate mal, wer die beiden sind.«

Schon in der nächsten Sekunde macht es Pling, und als ich die beiden Fotos sehe, die Jill mir geschickt hat, kann ich nicht anders, als sie anzustarren. Für einen Moment bin ich völlig perplex. Auf einem der Fotos erkenne ich unschwer den dunkelhaarigen Jungen von der Tower Bridge, auf dem anderen Nathan, der mir heute die Eintrittskarten fürs Closer geschenkt hat.

»Jetzt bist du sprachlos, oder? War ich auch. Jedenfalls heißt der Junge mit der schwarzen Lederjacke, der dich so fasziniert hat, Louis Lamen, der andere Nathan, aber das weißt du ja bereits. Sein Nachname ist übrigens Kane, sein Vater ist ein gewisser Charles Kane.« Sie macht eine bedeutungsschwere Pause.

»Louis Lamen«, flüstere ich. Sein Name geht mir ganz leicht von der Zunge. Sofort muss ich wieder an unsere Begegnung denken. Nein, ich muss mich wieder fangen!

»Genau, Louis Lamen und Nathan Kane. Nathan gehört zu den Kanes, du verstehst?«

»Ähm, nein.«

»Ach, Amy, das ist eine ganz bekannte, alteingesessene Familie. Denen gehört vieles in London, unter anderem dieses riesige Anwesen aus dem achtzehnten Jahrhundert in der Nähe dieser einen Kirche. Warte, wie heißt die noch?« Sie schnippt so laut mit den Fingern, dass ich es durchs Telefon hören kann. »St. Appel’s Church, ja genau. Da steht auch dieses eine Haus mit diesem megaalten Baum davor. Der ist Hunderte von Jahren alt, hab ich mal gelesen.« Jill ist nun voll in ihrem Element, wie immer, wenn es um bekannte Persönlichkeiten geht, doch mir sagt das alles nichts. »Na ja, ist ja auch egal«, meint sie, als ich keine Antwort gebe. »Jedenfalls ist Nathan eine gute Partie und offensichtlich an dir interessiert.«

Ich starre auf sein Bild, auf dem er wirklich gut aussieht. Dann scrolle ich nach unten zu Louis’ Foto, und in meinem Bauch beginnt es sofort wieder zu kribbeln und zu ziehen.

»Aber jetzt sag schon, das sind doch Neuigkeiten, oder?«, hakt Jill nach.

»Allerdings«, entgegne ich nur, weil ich noch immer nicht meinen Blick von Louis abwenden kann.

»Mary hat erzählt, dass dieser Louis eigentlich nicht von hier ist. Er muss wohl auch schon Ärger gemacht haben. Angeblich ist es noch gar nicht ganz sicher, dass er auf der Schule bleiben darf, warum weiß ich allerdings nicht. Aber ich bin dran.«

Ich betrachte noch immer das Foto, doch dann klicke ich es weg.

»Ich hoffe, du kannst jetzt noch schlafen.« Wieder kichert Jill, und ich verdrehe die Augen.

»Natürlich kann ich noch schlafen. Und wenn schon, dann kommen die beiden eben auf unsere Schule. Ich meine, was heißt das schon? Nathan ist vielleicht reich, aber ein ganz normaler Typ. Und Louis auch, das denke ich zumindest mal.«

»Wenn auch mit einer schwierigen Vergangenheit«, gibt sie zu bedenken.

Ich muss schlucken. Eine schwierige Vergangenheit – wer hat die nicht? Ich muss wieder an den Ausdruck in seinem Gesicht denken, als er sagte, dass dieses Etui nicht zu ersetzen sei. Wie traurig er dabei aussah.

»Jeder hat sein Päckchen zu tragen«, kommt es über meine Lippen, ohne lange nachzudenken. »Also sollte man nie voreilige Schlüsse ziehen.«

Nachdem wir das Gespräch beendet haben, klicke ich mich durch Netflix, ich starte einige Trailer, aber irgendwie hab ich auf nichts richtig Lust und nach einer Weile werden meine Augen schwer.

Nachdem ich das Licht gelöscht habe, betrachte ich die vielen Leuchtsterne, die über meinem Kopf funkeln. Ich habe sie bei unserem Einzug zusammen mit Mum an die Decke geklebt. »Wenn du nicht schlafen kannst, dann zähle die Sterne, das beruhigt«, sagte sie mir damals. Schon oft hat mir das beim Einschlafen geholfen.

Heute jedoch bringt es mir nichts. Obwohl ich so viel erlebt habe und mir vor Erschöpfung die Augen zufallen, geben meine Gedanken einfach keine Ruhe. Die beiden Jungs kommen also auf unsere Schule. Nathan und Louis. Nathan, der mir die Eintrittskarten fürs Closer gegeben hat, und Louis Lamen, der Junge, der mich so fasziniert hat.

Mir fallen seine wasserblauen Augen ein, diese Funken zwischen uns, als sich unsere Finger berührten, und die Bilder von dem Liebespaar, das sich von der Brücke stürzte. Da war irgendwas, die Frage ist, was. Ist es am Ende doch Schicksal?

Ich schüttle den Kopf. Ja genau, du wirst noch total paranoid, Amy.

Unendlich funkenhell

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