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Kapitel 1

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Im Hier und Jetzt

London, Tower Bridge

»Aua!« Mein Kopf knallt gegen das mit weißem Stahl eingefasste Fensterglas, und ich zucke erschrocken zurück. Okay, ich habe die Scheibe übersehen. Kann ja mal passieren, oder?

Peinlich berührt reibe ich mir die Stirn. Ich dachte, ich hätte etwas aus dem Augenwinkel da unten gesehen, aber es war wohl nur eine Einbildung.

Ich denke noch darüber nach, als eine schrille Stimme an mein Ohr dringt. »Ups, da hat sich wohl jemand zu weit nach vorn gelehnt.« Die Stimme gehört unverkennbar zu Lilly Everley, hübsch, anmutig, Jungenschwarm der Schule – und eine totale Ziege.

»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, entgegne ich, während ich mir noch mal über die Stirn reibe.

Meine beste Freundin Jill, die neben mir steht, nickt mir bestärkend zu. »Also wirklich, als ob das nicht jedem mal passieren kann«, sagt sie mit einem vielsagenden Lächeln auf den frechen Lippen. Das Grün ihrer Augen funkelt mich an. Ja, sie kennt mich zu gut.

Ich boxe sie in die Seite, weil ich gestehen muss, dass das Wort »mal« bei mir wirklich untertrieben ist. Denn ich scheine ständig von einem Malheur ins andere zu tappen.

Wobei ich es wohl nicht nur auf meine Tollpatschigkeit schieben kann. Es ist vielmehr einer seltsamen Sache geschuldet, mit der ich mittlerweile gelernt habe zu leben. Schon seit ich mich erinnern kann, sehe ich hin und wieder ganz plötzlich Bilderfetzen von Paaren unter Bäumen, in alt aussehenden Anwesen, Frauen, die etwas zu suchen scheinen, oder Männern, die ich nicht zuordnen kann. Plötzlich sind sie einfach da, in meinem Kopf. Sie reißen mich aus den Dingen, die ich gerade tue, oder aus dem Schlaf und sind so mächtig, dass ich nicht dagegen ankämpfen kann. Warum ich diese Bilder sehe, weiß ich nicht, und am Anfang fand ich es zugegeben auch etwas unheimlich. Aber dann habe ich dadurch meine Liebe zum Zeichnen entdeckt, indem ich die Bilder auf Papier festgehalten habe. Mein Dad sagte immer, dass es wohl allen Künstlern so geht, dass sie Eingebungen haben. Weil sie offen sind für alles, was sie umgibt, weil die Kunst eine ganz eigene Magie ist.

Wenn ich an seine Worte denke, werde ich kurz traurig. Denn er fehlt mir. Vor etwas mehr als einem Jahr ist er bei einem Autounfall gestorben und hat eine große Leere hinterlassen, nicht nur in meinem Leben. Seitdem hat sich so vieles verändert. Mum und ich zogen von Horley, das eine gute Dreiviertelstunde von London entfernt ist, in die Stadt zu Tante May, die hier ein kleines Haus gemietet hat und uns beiden angeboten hatte, uns ein wenig unter die Arme zu greifen. Darüber bin ich zwar sehr froh, aber hin und wieder vermisse ich mein altes Leben schon, die kleine Stadt und das, was wir dort hatten.

Das einzig Gute ist, dass ich hier jetzt Jill habe. Wir kannten uns schon von früher, weil sie damals, wenn ich bei Tante May zu Besuch war, nur ein paar Häuser weiter wohnte. Und wir haben den Kontakt nie verloren. Immer wenn ich in London war, zogen wir zusammen herum und verbrachten Zeit miteinander. Jetzt, nach der Scheidung ihrer Eltern, wohnt sie zwar ein paar Blocks weiter weg bei ihrer Mum, aber Freundinnen sind wir noch immer und gehen nun zudem auf die gleiche Schule.

»Was hast du gesehen?«, flüstert Jill mir zu.

Sie kennt mich zu gut.

»Es ist albern, aber ich dachte, auf der Brüstung da unten saß ein Liebespaar. Ich hatte so ein Gefühl, dass sie auf der Flucht seien. Vor irgendwelchen Männern in Kutten.«

»Klingt spannend.« Sie grinst. »Wurden sie erwischt?«

»Nein, nicht direkt, aber sie sind hier hinuntergesprungen.« Ich blicke zu dem Vorsprung hinter dem Glas, der mich auch dazu gebracht hat, mir den Kopf anzuschlagen.

»Was? In die Themse? Das haben die nie und nimmer überlebt«, ihre Worte versetzen mir einen kleinen Stich. Ja, sie hat recht. Das ist wirklich unmöglich.

»Also, da genieße ich doch lieber die Aussicht hier oben. Mal im Ernst, das ist klasse, oder? Kaum zu glauben, dass wir schon so lange nicht mehr hier waren. Dabei leben wir doch in London. Da brauchen wir erst diesen Schulausflug, um hier raufzukommen.«

Ja, Jill hat recht, die Aussicht ist wirklich unvergleichlich.

»Auf die da könnte ich allerdings echt verzichten.« Jill deutet auf Lilly, die gerade auf die Hauptattraktion hier oben zuschwebt: einen Boden mit eingelassenen Glasplatten. Dabei streicht sie sich lasziv durch das blonde Haar und blickt hinüber zu unserem Guide, der es ihr offensichtlich angetan hat.

Lächelnd stupst Jill mich an und zeigt auf den Glasboden. »Komm, da müssen wir auch rauf. Was meinst du, sollen wir? Was die kann, können wir doch auch.« Sie zupft an meiner dunkelblauen Jacke, die zu unserer Schuluniform des St. Michael’s College gehört, einer alten Traditionsschule mitten in der Londoner City, für die Tante May das Schulgeld bezahlt, was wir uns sonst nicht leisten könnten. Aber sie wollte unbedingt, dass ich auf eine gute Schule gehe.

Ich drehe mich um, und mein Blick gleitet über den mit Holz belegten langen Gang, in den die Glasplatten eingelassen sind. Lilly genießt es sichtlich, ohne Scheu darauf auf und ab zu stolzieren – genau wie ihre Freundin Ashley, die ihr sowieso immer alles nachmachen muss. Im Gegensatz zu meinem ähnelt Lillys Gesicht dem einer Puppe: Die blonden, glatten Haare sind samtig, die Stupsnase ist klein und ihre Haut so fein wie Porzellan. Kein Wunder, dass alle Jungs auf sie stehen. Ich hingegen habe Sommersprossen im Gesicht, ein Muttermal am Kinn, und meine Haare sind braun und undefinierbar gewellt.

»Der Glasboden ist gute elf Meter lang und so belastbar, dass mindestens hundertfünfzig Menschen gleichzeitig darauf stehen könnten – oder fünf Elefanten«, erzählt der Guide nun mit einem Augenzwinkern. »Wobei wir das mit den Elefanten nicht testen konnten. Aber habt trotzdem keine Angst. Kommt ruhig alle näher und probiert es aus, es ist ein tolles Erlebnis.«

»Also, gehen wir?« Jill sieht mich erwartungsvoll an. »Wenn der Boden Elefanten aushält, dann doch auch uns.«

»Ja, warum nicht? Lass uns gehen.« Meine Stimme hört sich mutiger an, als ich es tatsächlich bin. Dennoch folge ich Jill und riskiere schließlich vom Rand aus einen Blick durch das Glas im Boden. Sofort werden meine Knie weich. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, von hier oben auf die vielen Menschen da unten hinabzuschauen – besonders nach den Bildern, die ich eben gesehen habe.

Natürlich weiß ich, dass nichts passieren kann, es waren nur Bilder, dennoch ist mir mulmig zumute. Den Glasboden zu betreten, ist doch noch etwas anderes, als nur am Rand zu stehen. Irgendwie stemmt sich mein Körper dagegen.

Jill hingegen überwindet sich bereits und wagt vorsichtig den ersten Schritt.

»Oh mein Gott, Amy, das ist der Wahnsinn. Komm her.« Während ich noch zögere, steht Jill bereits drauf, zieht ihr Handy aus der Tasche und richtet es nach oben gegen die Decke. »Ah! Da ist ein Spiegel, extra um Fotos zu machen. Schau mal, wie genial das aussieht.«

Aufgeregt schießt Jill ein paar Fotos und hält mir dann das Handy hin. Die Bilder sind echt gut, perfekt für Instagram.

»Lass uns eins zusammen machen, das können wir dann posten«, schlägt sie vor. »Kommst du?«

Ich würde ja wirklich gern, aber mir wird der Boden aus Glas immer unheimlicher. Sosehr ich auch möchte, es geht nicht.

Lilly muss uns beobachtet haben, denn sie verdreht die Augen und mustert mich abschätzig, während sie ebenfalls ihr Handy zückt. Mir egal, soll sie denken, was sie will.

Jill, die noch immer begeistert Fotos schießt, bekommt jetzt Gesellschaft von Thomas, ihrem heimlichen Schwarm, dessen Kumpel Charly und weiteren Klassenkameraden. Alle zeigen absolut keine Scheu, sondern haben ihren Spaß.

Ich muss mich jetzt endlich überwinden, denke ich, denn ich möchte am Ende nicht die Einzige sein, die sich nicht getraut hat. Okay, Schritt für Schritt, nehme ich mir vor, als Jill erneut zu mir an den Rand kommt und mir die Hände entgegenstreckt. »Los, ich helfe dir.«

Erleichtert greife ich zu und lasse mich schließlich zu ihr auf die Glasplatten ziehen. Mit wackeligen Beinen und klopfendem Herzen stehe ich da, versuche, mich daran zu gewöhnen und ruhig zu atmen. Das geht doch eigentlich ganz gut.

Doch dann senke ich den Blick. Unter mir fließt die Themse, dunkel und gewaltig, und ganz plötzlich geht ein Ruck durch mich hindurch. Wieder sind da diese Liebespaarbilder, wie im Schnelldurchlauf fliegen sie durch meinen Kopf. Der Sturz der beiden, die Themse. Völlig verwirrt weiche ich zurück.

»Sorry, ich kann da nicht rauf. Ich gebe auf.«

»Echt nicht? Nicht mal einen einzigen Versuch? Das ist doch wirklich nicht schlimm. Hallo, du warst bereits mit mir im Golden Eye, das ist ja mal viel höher«, sagt Jill, aber ich passe.

»Ich weiß, aber ich kann nicht, ich habe echt die Hosen voll.«

Schließlich nickt sie und sieht mich verständnisvoll an. »Na schön. Wenn du es aber doch noch versuchen willst, dann komm einfach zu uns rüber.«

»Ja, das mache ich.«

Als ich mich von der Szene abwende, begutachte ich die Panels. Eine ganze Weile betrachte ich sie, lasse dann den Blick schweifen, und entdecke ihn. Einen Jungen, der auf der gegenüberliegenden Seite an der Scheibe steht und zu mir herüberblickt. Er hat eine breite Statur, seine Augen sind blau, unglaublich blau, und seine Haare dunkel, fast schwarz und leicht verstrubbelt. Er trägt eine ebenfalls schwarze Lederjacke. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich schaffe es nicht, den Blick von ihm abzuwenden und mein Puls beginnt, schneller zu werden.

Als sich eine Hand auf meine Schulter legt, schrecke ich auf, und unwillkürlich schießt mir die Hitze in die Wangen.

»Erwischt«, raunt Jill mir grinsend ins Ohr. »Was gibt es denn da so Interessantes?«

»Nichts. Ich war nur in Gedanken.« Erneut blicke ich zu dem Jungen, doch nun ist er weg. Stattdessen steht da ein anderer Junge mit einem blauen Hemd und hellen Haaren, der etwas grimmig schaut. Ein weiterer Guide vielleicht? Als er merkt, dass ich in seine Richtung sehe, verändert sich sein Blick, seine Mimik wird weicher, und er lächelt mich an. Ob er glaubt, dass ich ihn angestarrt habe? Für ihn muss es jedenfalls so gewirkt haben.

Rasch drehe ich mich zu Jill um.

»Pass auf«, beginnt sie sogleich zu erzählen, »Thomas hat mir gerade gesagt, dass am Samstag eine richtig coole Party im Closer steigt. Wir beide müssen da auch hin. Unbedingt. Was meinst du? Erlauben deine Mum und deine Tante das? Wir müssen uns schnell entscheiden, die Eintrittskarten sind begrenzt. Aber Thomas kann vielleicht welche besorgen.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich hätte viel mehr Lust auf einen Fernsehabend. Ich wollte einfach mal relaxen. Im Moment ist so megaviel los und …«

Jill verzieht das Gesicht zu einer Schnute. »Bitte, Amy«, mit schwärmerischem Blick dreht sie eine ihrer langen roten Haarsträhnen um den Zeigefinger. Ich finde, die Farbe steht ihr gut. Vor allem weil ihre Augen grün sind. »Das wäre die Gelegenheit, Thomas näherzukommen. Also, was meinst du?«

Ich will gerade antworten, als ich ihn erneut entdecke, den Jungen mit den dunklen Haaren. Er steht nicht weit von uns entfernt, hat seine Hand an die Scheibe gelegt und wirkt dabei sehr in seinen Gedanken verloren.

»Also?«, hakt Jill nach und ich sehe wieder zu ihr.

»Kann ich denn noch mal drüber nachdenken?«

»Okaay«, antwortet sie gedehnt. »Dann schieße ich eben noch ein paar Fotos. Aber ich sage es dir gleich: Ich nerve dich so lange, bis du nachgibst.«

»Das wäre ja mal was ganz Neues.«

Sie zwinkert mir zu, dann widmet sie sich wieder ihren Fotos und ich stehe eine Weile da. Irgendwann denke ich, dass ich es ebenfalls noch mal probieren sollte. Abrupt drehe ich mich um und stoße gegen etwas unerwartet Hartes, gefolgt von einem merkwürdigen Geräusch.

»Verdammt«, höre ich eine raue Stimme neben mir. Mein Blick fällt auf den Oberkörper, gegen den ich gestoßen bin und auf dem meine Finger jetzt Halt suchen. Ich spüre den Stoff eines Shirts, darunter Muskeln, die sich fühlbar anspannen.

Dann geht alles unglaublich schnell. Ich hebe den Kopf noch weiter, und mir stockt augenblicklich der Atem. Denn der Körper, den ich noch immer berühre, gehört zu dem dunkelhaarigen Jungen mit den blauen Augen, der mir jetzt ganz nah ist. Viel zu nah. Als unsere Blicke sich treffen, spüre ich ein Flattern im Bauch.

Eilig trete ich einen Schritt zurück, während er den Kopf schieflegt und auf den Boden zeigt. »Das darf nicht wahr sein, verdammt!« Zuerst weiß ich nicht, was er meint, aber dann entdecke ich zu unseren Füßen ein merkwürdig aussehendes, silbern schimmerndes Kästchen. Es scheint ihm zu gehören. Warum trägt man so ein Kästchen mit sich herum? Nun dämmert es mir. Der dumpfe Klang, das Geräusch. In dem Kästchen ist eine Beule, die deutlich zu sehen ist. Und ich bin wohl draufgetreten.

»Oh sorry«, stammle ich, während mein Blick an seinen Lippen hängen bleibt. Sie sind voll und geschwungen, die Unterlippe etwas mehr als die Oberlippe, was jedoch auch daran liegen könnte, dass er sie leicht verzieht. Seine Nase ist nicht ganz gerade, passt aber perfekt in sein kantiges Gesicht. Aber am eindrucksvollsten sind seine Augen. Die blauesten Augen, die ich jemals gesehen habe. Ein Wasserblau, welches mich an ein klares, türkises Meer erinnert. Doch eins irritiert mich daran: sein Blick kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe ihn nur weicher in Erinnerung.

Er ist nicht viel älter als ich, ich schätze mal höchstens ein Jahr, wenn überhaupt. Wahrscheinlich auch so um die siebzehn. Vielleicht macht ihn ja der harte Ausdruck in seinem Gesicht gerade etwas älter. Ich muss schlucken, als mir auffällt, dass ich ihn etwas zu lange anstarre.

»Bist du dann fertig?«, brummt er.

»Was?«

»Du starrst mich an.«

Sofort schießt mir die Röte auf die Wangen. »Ich starre dich nicht an.«

Er legt den Kopf schief, antwortet aber nichts. Stattdessen gleitet sein Blick über mich.

Verlegen deute ich auf das Kästchen. »Sorry, das wollte ich echt nicht. Aber ich habe dich wirklich nicht gesehen. Es ist sicher halb so wild, nur ein kleiner Sprung, schätze ich und …« Erst jetzt merke ich, wie schnell ich rede.

Er sieht mich argwöhnisch an. »Ach ja?«

Ich bücke mich rasch, um das Kästchen aufzuheben. Doch genau in diesem Augenblick geht er ebenfalls in die Knie und greift danach. Es sind nur Sekundenbruchteile, ein winziger Wimpernschlag, in dem sich unsere Fingerspitzen berühren. Doch was nun passiert, ist groß und merkwürdig zugleich. Mit einem Mal ist da ein heller zarter Glanz, wie im Zeitraffer verändert sich die Umgebung. Gebäude, die gerade noch da waren, verschwinden, werden kleiner, und inmitten von alldem ist da plötzlich wieder dieses Liebespaar, das auf der Flucht zu sein scheint. Die Bilder nehmen Form an, werden hell und ziehen mich mit sich.

Ein Junge und ein Mädchen, die auf der Tower Bridge sitzen.

»Alan«, sagt sie und sieht ihn an. »Was glaubst du, wie es in der Zukunft sein wird?« Ihre Finger verweben sich zart mit seinen, dann zieht sie ein kleines silberfarbenes Etui aus ihrer Manteltasche und betrachtet es nachdenklich. »Es war so schön in Paris, und jetzt soll das alles vorbei sein? Einfach zu Ende?«

»Mach dir keine Sorgen«, antwortet er, »es wird sicherlich alles gut werden. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.«

»Das klingt aber schön«, sagt sie und er lächelt.

»Ja, ist von einem gewissen Oscar Wilde, hab ihn neulich getroffen. Netter Mann.«

Sie lächelt.

»Klingt nach Worten, an die man sich mal erinnern könnte«, sagt sie und atmet tief durch.

»Meinst du, man wird sich an uns erinnern?«

»Ja, natürlich glaube ich das.«

Seine Stimme ganz nah an ihrem Ohr zu spüren, wirbelt die Gefühle in ihrem Bauch umher, und sein Atem schenkt ihr ein wenig von der vertrauten Wärme, die sie gerade so dringend braucht. »Ich hoffe es«, sagt sie so sehnsuchtsvoll, als würden die beiden nicht hier oben in schwindelerregender Höhe auf der Tower Bridge sitzen und in die Dunkelheit der Stadt unter ihnen blicken.

»Ja, es wird so sein.« Er stupst sie mit der Nase an. »Auch wenn wir es nicht herausfinden, unsere Nachfahren werden es tun. Und sie werden das Rätsel lösen. Das ist ein Trost. Also sei jetzt nicht traurig, ja?«

Sie seufzt. Er hat recht, dennoch ist das alles leichter gesagt als getan, wenn man am Abgrund steht und weiß, dass nichts mehr von einem übrig bleiben wird, als ein Echo in der Zeit.

»Sieh nur, es wird Tag«, sagt er leise.

Und tatsächlich, ganz langsam erwacht London zum Leben, und die Strahlen der Morgensonne tränken den Himmel in ein leichtes Gold. Jedes Dach, jeder Weg und natürlich auch die Themse werden nun vom warmen Licht überzogen.

Doch zu schnell geht der Moment vorbei, denn plötzlich sind da Geräusche. Es kracht, Gepolter ist zu hören. Sie sind da, sie haben sie gefunden.

Er steht auf, reicht ihr die Hand und zieht sie fest an sich, während sie den Kopf an seine Brust legt. Sein Herz schlägt schnell, so schnell wie ihres.

»Wenn es schon sein muss, dann hier. Hier an diesem Ort, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind«, flüstert sie.

Dann steigen sie auf das Gitter und klettern über die Brüstung der Brücke. Der Wind wird stärker. Als sie schließlich hinunter auf die Themse blicken, lächelt Alan. Sein Finger wandert unter ihr Kinn, dann beugt er sich zu ihr, und ihre Lippen verschmelzen hauchzart zu einem Kuss. »Ich liebe dich, Claire, aber es wird Zeit, das Jahr 1900 zu verlassen.«

»Jetzt schon?«

Er tippt mit dem Zeigefinger erst an ihre Brust, dann an seine, bevor er seine Finger mit ihren verhakt. »Was auch immer geschieht, du und ich, wir sind unendlich, für alle Zeit. Wo du bist, da bin auch ich. Ich komme immer wieder zu dir zurück, so soll es sein.«

»Und ich zu dir«, raunt sie ihm zu, während sie seine Augen betrachtet, das wuschelige Haar, das sie so sehr an ihm liebt.

Erneut poltert es, der Wind wird stärker, unerbittlich, zerrt er an ihnen.

Und mit einem Mal sind sie da. Männer, verhüllt von Kutten. Einer von ihnen trägt etwas Goldenes an seinem Umhang, ein merkwürdiges Zeichen, durch das er unter den anderen hervorsticht. »Nein!«, ruft er noch.

Nun geht alles ganz schnell. Claire und Alan stürzen hinab in die Tiefe, das kalte Wasser der Themse umhüllt sie, und es bleibt nichts als Schwärze zurück.

Doch die Dunkelheit ist nicht von Dauer, denn nach einigen Minuten steigen zwei Funken aus dem Wasser, ein blauer und ein roter. Kurz strahlen sie hell auf, ehe sie in der Weite verschwinden.

Mit einem Ruck zieht es mich zurück. »Scheiße, was war das?«, flüstere ich. Das Gefühl ist noch immer so greifbar, die Bilder beinahe real. Genauso wie die Spannung, die plötzlich in die Gesichtszüge des Jungen mir gegenüber tritt. Wie lange war ich in den Bildern versunken? Er mustert mich für ein paar Augenblicke, bevor er sich abwendet und sich dem Kästchen widmet.

»Scheiße, allerdings, du sagst es.«

»Hast du es auch gesehen?«, frage ich atemlos.

Doch er verzieht das Gesicht. »Keine Ahnung, wovon du redest, aber wenn du das hier meinst …« Er deutet auf das Kästchen. »Ja, das habe ich gesehen. Ich bin ja nicht blind. Da ist ein Riesenriss im Etui!«

Etui? Wer benutzt dieses Wort? Er hat also echt nichts von diesen Bildern mitbekommen? Nichts von dem Paar, dem Licht, nichts von Alan und Claire, die sich allem Anschein nach hier hinuntergestürzt haben?

»Nein, ich spreche von dem Liebespaar. Und dieses … Leuchten?«, frage ich und ärgere mich sogleich, weil er mich ansieht, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Im Blau seiner Augen blitzt Verwunderung auf.

»Ähm, nein?«

Okay, ich muss total bescheuert auf ihn wirken. Warum sollte er auch etwas gesehen haben?

»Klingt verrückt, oder?«

»Nein, das klingt total plausibel«, antwortet er, während sich Überheblichkeit in seinen Blick mischt. »Du warst also von mir geblendet? Alles klar!«

Blödmann, das habe ich doch gar nicht gesagt!

»Ha, ha, sehr lustig. Kann man das nicht irgendwie ersetzen?«

Daraufhin beugt er sich plötzlich zu mir vor, weiter, noch weiter.

Sein Atem streicht beinahe über meine Lippen, so nah ist er mir jetzt.

Mein Herzschlag beschleunigt sich. Was tut er da? In meiner Brust hämmert es immer heftiger. Irritiert hebe ich die Hand.

»Ähm, was tust du da? Damit ersetzt man das Kästchen nicht!«

Er sieht mich fragend an.

»Hä? Was glaubst du, das ich tue?«

»Mich küssen?«

»Dich küssen?!«

Ich sehe ihn an. »Kam mir irgendwie so vor.«

Er lacht.

»Mach dir mal keine Sorgen, dass hatte ich nicht vor. Du hast da einen Fleck am Kinn.«

»Das ist ein Muttermal.«

Blödmann.

Ist das peinlich! Mein Puls rast, Adrenalin strömt durch meinen Körper.

Er grinst. »Und nein: Dieses Etui kann man nicht ersetzen, niemand kann das.« Sein Blick verdunkelt sich, und ich habe das Gefühl, dass dieses Etui ihm wirklich wichtig ist. Als mein Blick wieder auf das Etui fällt, durchfährt mich plötzlich ein starkes Gefühl, das einem Déjà-vu gleichkommt. Habe ich das Etui nicht eben in diesen Bildern auch gesehen? Kann das wirklich sein?

»Es tut mir leid, ehrlich«, sage ich, jetzt wieder etwas ruhiger.

Er steckt das Etui ein, dann streicht er sich mit den Fingern durch die Haare. »Pass das nächste Mal einfach besser auf.« Schließlich wendet er sich ab, und mein Herz klopft noch immer viel zu schnell.

Was war das denn bitte? So etwas habe ich noch nie erlebt. Diese Berührung, die Bilder, dieser Lichterwirrwarr. Er mag mich zwar für blöd halten, aber das alles war wirklich da. Oder? Und noch dazu kam er mir so bekannt vor.

»Wer war das denn?« Jills Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ja, wer war das denn?

»Wenn ich das wüsste. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, ihn zu kennen«, flüstere ich und sie sieht mich fragend an. Noch immer kreisen die Gedanken durch meinen Kopf. Dann wird mir schlagartig etwas klar. »Ich weiß nicht, ob ich bescheuert bin, aber der Junge …«

»Was ist mit ihm?«

»Ich weiß, das klingt verrückt. Aber … Jill, ich weiß jetzt, warum er mir bekannt vorkommt.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Okay, und woher?«

Ich hole tief Luft. »Ich glaube, ich habe ihn schon mal gezeichnet.«

Unendlich funkenhell

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