Читать книгу Umbruch. Die Neue Zürcher Zeitung - Friedemann Bartu - Страница 8
1.3»Befreiung« vom Freisinn
ОглавлениеDie Zeitung hat sich vom Freisinn distanziert, weil man den Freisinn plötzlich als zu wenig freisinnig empfand.12
Max Frenkel,
Inlandredaktor NZZ (1987–2003)
Heute steht die liberale Schweiz im Gegenwind. Die FDP spürt das mehr als alle anderen Kräfte, die in irgendeiner Form dem liberalen Gedankengut anhängen. Seit drei Jahrzehnten schleppt sich die Regierungspartei (…) auf nationaler Ebene von einer Wahlschlappe zur nächsten (…) Das Verliererimage drückt schwer.13
Diese Untergangsprosa findet sich nicht etwa in der linken »Wochenzeitung« (WOZ), sondern in der dem Freisinn traditionell nahestehenden NZZ. Die FDP befinde sich im Gegenwind, weil sie eine wirtschaftsnahe Partei ist. Sie habe in den letzten Jahren die Zeche bezahlt für Verwerfungen, die 2007 in Amerika mit der Immobilienkrise ihren Anfang nahmen und die 2008 zur globalen Finanzkrise eskalierten.
Stolze Bankinstitute mussten mit Staatskrücken gestützt werden. So auch die UBS. In Europa wurden Rettungsschirme aufgespannt. Griechenland hing am seidenen Faden. Der damit einhergehende Reputationsschaden für die freie Marktwirtschaft schlug in der Schweizer Parteienlandschaft am heftigsten auf die FDP durch. Topverdiener haben im Wettstreit um überschwere Lohntüten und exzessive Boni das Vertrauen der Bevölkerung in die liberale Wirtschaftsordnung torpediert. Die Konkurrenz spielt dem Freisinn nur zu gern die Mitverantwortung zu: Mitgegangen, mitgehangen!14
Das waren radikale Worte aus der Feder des damaligen NZZ-Inlandchefs René Zeller. Unter dem Titel »Das liberale Feuer brennt nicht mehr« blies er 2014 dem Freisinn den Marsch. Damit trieb er die Abnabelung der Zeitung von der zunehmend als gefühlskalt wahrgenommenen Partei weiter voran. An der Falkenstrasse begann man sich gegen den Vorwurf des »mitgegangen, mitgehangen« zu wehren. Chefredaktor Bütler und dessen Vertraute erkannten die Gefahr, dass die NZZ, sollte sie an ihrer Nibelungentreue zur FDP festhalten, ebenfalls marginalisiert werden könnte. Denn der scheinbar unaufhaltsame Niedergang der FDP war seit Jahren ein Thema. Er begann mit dem Fall der Berliner Mauer und beschleunigte sich danach mit der Implosion der Sowjetunion. Beides beraubte bürgerliche Parteien teilweise ihrer raison d’être. Plötzlich wurde einem auch die Unmenschlichkeit des real existierenden Sozialismus nicht länger hautnah vorgeführt. Mehr noch: Sie geriet sogar sukzessive in Vergessenheit. Seither werden die Qualitäten eines freiheitlichen Systems nicht mehr gleich hoch gewichtet wie früher. Neue nationalistischkonservative Parteien stellen sie sogar offen in Frage.
Im Gegensatz zur FDP verstanden es Blocher und die SVP, das verloren gegangene Feindbild Moskau und die UdSSR durch das neue Feindbild Brüssel und die EU zu ersetzen. Mit ihrem Kampf gegen die Annäherung an Europa war die SVP sehr erfolgreich und wurde zur führenden Kraft im bürgerlichen Lager – auf Kosten der FDP. Ringier-Kolumnist Frank A. Meyer brachte es im »Blick« einmal wie folgt auf den Punkt:
Das Soziale hat der Freisinn den Sozialdemokraten überlassen, das Ökologische den Grünen – und bekämpft heftig beides, indem er Sozialdemokraten und Grüne zu seinen politischen Hauptgegnern erkoren hat. Sowas aber merkt der Wähler, gerade der sozial und ökologisch sensible freisinnige Wähler – und ist verstimmt. Dieser freisinnige Wähler, dem eine menschenfreundliche und weltoffene Schweiz am Herzen liegt, merkt ebenso, wem der Freisinn willig folgt: der SVP. Wenn Blocher ins Alphorn bläst, muht die FDP beifällig. So in der Steuerpolitik, so im Fall Swisscom, so im Fall Asylgesetz.15
»Mitgegangen, mitgehangen!« Dieser Vorwurf war der NZZ bereits in den 1980er Jahren gemacht worden: beim Rücktritt von Elisabeth Kopp, der ersten Frau im Bundesrat. Diese Freisinnige aus der Zürcher Vorortgemeinde Zumikon war 1984 gewählt worden – mit dem ungeteilten Segen der NZZ. Dabei musste sich die blitzgescheite, aber etwas farblos wirkende Juristin ihre Anerkennung in Partei und Parlament erst durch viel Fleiss und hohe Dossierkompetenz erarbeiten. In der Bevölkerung dagegen genoss sie von Beginn weg viel Sympathie, obgleich ein Damoklesschwert über ihrem Haupt schwebte: in der Person ihres Ehemannes Hans W. Kopp. Dieser erfolgreiche Rechtsanwalt war wegen seiner »Libanon Connection« in die Schlagzeilen geraten. Als Vizepräsident des Verwaltungsrates der in Dübendorf ansässigen Shakarchi Trading Company, deren Präsident der aus dem Libanon stammende Mohammed Shakarchi war, bot Hans W. Kopp viel Angriffsfläche. Vor allem nachdem 1988 der, wie sich später herausstellte, unbegründete Vorwurf aufkam, die Firma sei in kriminelle Geldwäscherei-Aktivitäten verwickelt. Rasch wurde es eng für Elisabeth Kopps Gemahl und für die Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements. Die Gerüchteküche brodelte und es hiess, die Bundesrätin habe, als sie in ihrer Behörde von einem eingeleiteten Untersuchungsverfahren gegen die Shakarchi Trading Company erfuhr, ihren Mann umgehend telefonisch zum Rücktritt aus derselben aufgefordert. Allein, die NZZ schwieg zu den sich häufenden scheinbaren Indizien gegen das Ehepaar Kopp. Das Blatt wollte oder konnte keinen Einfluss auf das Geschehen nehmen, stellte sich aber bis zuletzt hinter die Magistratin, welche enge Kontakte zu diversen NZZ-Redaktoren pflegte. Es wäre ein klarer Kommentar von höchster Stelle nötig gewesen. Doch nichts dergleichen geschah. Chefredaktor Bütler liess den Kelch an sich vorbeigehen und Inlandchef Müller erklärte sich wegen seines FDP-Nationalratsmandates als befangen. Ergo spielten die beiden den Ball dem jungen Lokalredaktor Thomas Häberling zu, der wenig mit der Sache zu tun hatte, aber schon damals als guter Diener seines Herrn, gemeint des Chefredaktors, galt. So entstand am Freitag, den 9. Dezember 1988 ein Leitartikel für die Samstagsausgabe, in dem Häberling Frau Kopp so gut es ging den Rücken stärkte. Er würdigte »die ausgezeichnete Amtsführung und die hohe persönliche Glaubwürdigkeit der Bundesrätin«, die für die Beurteilung allein ausschlaggebend sein müssten. Kopp war tags zuvor mit klarem Mehr zur Vizepräsidentin des Bundesrates gewählt worden. Für Häberling war die Angelegenheit deshalb nicht eine »Affäre Elisabeth Kopp«, sondern eine »Affäre Hans W. Kopp«. Noch ehe der Text ins Blatt gestellt war, platzte die Botschaft herein, Frau Kopp habe zugegeben, mit ihrem Mann telefoniert zu haben. Wie die Freisinnige Partei so war auch die NZZ völlig überrumpelt. An der Falkenstrasse fühlte man sich von der Magistratin verraten. Trotzdem hielt man an Häberlings Text fest und entschied, diesem bloss einen Absatz nachzuschieben, in welchem der Autor sozusagen das Gegenteil dessen schrieb, womit der Artikel begonnen hatte. Er bedauerte, dass sich die Trennung von Kopps Amtstätigkeit von den Handlungen ihres Mannes als Fiktion erwies. Das war wahrlich kein rühmlicher Auftritt für eine Zeitung vom Format der NZZ. Offenbar hatten ihr die Umarmung durch den Freisinn und die Nähe zu Elisabeth Kopp die Sprache verschlagen.
In der Folge kam es, wie es kommen musste: Die Bundesrätin gab am folgenden Montag ihren Rücktritt auf Ende Februar 1989 bekannt. Sie betonte dabei, dass sie »weder rechtlich noch moralisch irgendeine Schuld« treffe. Die Öffentlichkeit war empört über den Fall des beliebtesten Mitglieds der Landesregierung. Ihr Zorn richtete sich auch gegen die Medien, die mit Leserbriefen überflutet wurden. Der NZZ warf man vor, sich mit der FDP solidarisiert und zusammen mit dem »Tages-Anzeiger« Kopps Rücktritt forciert zu haben. Ein klarer Fall von »mitgegangen, mitgehangen«! Am Tag nach der Rücktrittsankündigung meldete sich der NZZ-Chefredaktor zu Wort. Bütler hatte sich zuvor nicht gegenüber dem Freisinn exponieren und schon gar nicht dessen erste Bundesrätin angreifen wollen, welche Jahre danach vom Bundesgericht in allen Anklagepunkten freigesprochen wurde.
Dennoch: Die »Affäre Kopp« schlug eine Furche zwischen Zeitung und Partei; auch wenn einige Inlandredaktoren, vor allem die für die Parteipolitik zuständigen, noch dermassen stark mit der FDP verbandelt waren, dass sie die Tragweite der Ereignisse nicht wahrhaben wollten. Zu lange waren »Inland« und Freisinn eine Art Schicksalsgemeinschaft. Etliche Redaktoren hatten politische Ämter für die FDP inne. Chefredaktor Willy Bretscher sass von 1951 bis 1967 für den Zürcher Freisinn im Nationalrat. Das war im Zeitalter der »Parteizeitungen« nichts Ungewöhnliches. Damals war das »Vaterland« die Stimme der CVP, das »Volksrecht« das Meinungsblatt der SP und die NZZ, wenn auch nie ein Parteiblatt, so doch der FDP sehr nahestehend. Einmal waren gleich vier NZZ-Redaktoren mit einem FDP-Ticket in den Zürcher Kantonsrat gewählt worden: die drei »Inländer« Walter Diggelmann, Richard Reich und Kurt Müller, sowie Martin Schlappner, der für Film und Tourismus Verantwortliche. Das aber war Chefredaktor Luchsinger zu viel des Guten, und so musste Schlappner wieder von seinem politischen Amt zurücktreten. Lokalredaktor Rudolf Bolli, der Jahre später in den Kantonsrat gewählt wurde, war einmal Mitglied der »Propaganda«-Abteilung der FDP, ein heute undenkbarer Zustand. Sein Kollege Andreas Honegger sass sogar als FDP-Mann im Zürcher Kantonsrat und berichtete gleichzeitig für die NZZ über dieses Gremium. NZZ-Inlandkorrespondent Jörg Kiefer betätigte sich in Solothurn regelmässig als FDP-Wahlkampfleiter. Wegen solcher Interessenskongruenz wurde die NZZ gerne als »Alpen-Prawda« oder als helvetischer »Osservatore Romano«, als schweizerisches Äquivalent zum Sprachrohr des Vatikans abgetan. Bis der Chefredaktor eines Tages entschied, NZZ-Journalisten dürften keine neuen politischen Ämter auf Kantons- oder Bundesebene mehr annehmen und nur noch ihre Mandate zu Ende führen.
In der Inlandredaktion standen sich in den 1990er Jahren zwei Lager gegenüber. Das kleinere sah die FDP als Verbündete, bei der die liberale Haltung der Zeitung am besten aufgehoben sei. Das grössere plädierte dagegen für eine moderne, von der Partei unabhängige Redaktion. Bütler stellte sich hinter die zweite Gruppe, die längst nicht alles gut fand, was mit dem Etikett »Freisinn« versehen war. Inlandredaktor Walter Schiesser kümmerte sich schon früh um Umweltanliegen aus liberaler Sicht. Weil diese Anliegen aber in der FDP eher stiefmütterlich behandelt wurden, bildete sich später eine neue politische Kraft, die Grünliberalen, welche die Umwelt ins Zentrum ihrer Politik stellen.
Wirkliche Aufbruchstimmung kam nach dem Rücktritt von Inland-Chef Kurt Müller im Jahre 1990 auf. Und besonders unter Matthias Saxer, der 1994 als erster Parteiloser zum Leiter dieses Ressorts ernannt wurde. Weil der ideologische Fächer in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges auch bei der NZZ weiter als zuvor geöffnet war, konnte sich Saxer einen Namen als vorurteilsloser Journalist machen. Unter seiner Führung distanzierte sich die Inlandredaktion weiter von der Partei, so dass alt FDP-Bundesrat Rudolf Friedrich und Ex-Inlandchef Kurt Müller eines schönen Tages in der NZZ auftauchten, um diese Entfremdung zu beklagen. Beim 225. Geburtstag der NZZ stellte VR-Präsident Meyer im Januar 2005 fest:
Die NZZ ist älter als die Freisinnige Partei im Kanton Zürich oder die FDP auf eidgenössischer Ebene. Seit ihrer Gründung ist die NZZ eigenen Werten verpflichtet. (…) Natürlich vertreten wir zum Teil die gleichen wie die Freisinnig Demokratische Partei. Aber: Die NZZ ist ein Meinungsblatt und kein Parteiblatt. (…) Die NZZ fühlt sich nicht der FDP verpflichtet, sondern ist ein Blatt mit qualitativ und politisch hohem Anspruch, das sich an der liberalen Denkweise orientiert.16
Eng war die Verbindung mit dem Freisinn im Aktionariat: Bis Mitte der 1990er Jahre konnte nur Aktionär werden, wer Mitglied der FDP war. So verlangten es die Vinkulierungsbestimmungen. Als Folge davon sassen ausnahmslos Freisinnige im NZZ-Verwaltungsrat, vornehm »Komitee« genannt. Wie sehr man damals die Vinkulierung respektierte, das Wort stammt ab vom Lateinischen »vinculum« und bedeutet Fessel, musste Lokalredaktor Wilfried Spinner erfahren. Er hatte von einem Verwandten eine NZZ-Aktie geerbt, wurde aber nie als stimmberechtigter Teilhaber ins Aktienregister aufgenommen, weil er nicht FDP-Mitglied war. Dies, obgleich Spinner seine ganze berufliche Laufbahn (1958–1991) bei der NZZ verbrachte. Heutzutage wäre er anerkannter Aktionär. Seit 1996 reicht ein Bekenntnis zu einer freisinnig-demokratischen Grundhaltung. Eine Zugehörigkeit zur FDP ist nicht mehr erforderlich, eine Mitgliedschaft bei einer anderen Partei allerdings auch nicht gestattet. Die Dinge sind also in Bewegung geraten. Trotzdem benötigte die »Befreiung« vom Freisinn Zeit. Schliesslich stand von 1988 bis 1999 Ulrich Bremi, seines Zeichens FDP-Nationalrat, FDP-Fraktionspräsident und Präsident des Zürcher Freisinns, an der Spitze des NZZ-Verwaltungsrates. Der erfolgreiche Unternehmer war die personifizierte Symbiose von Zeitung und Partei. Mit ihm auf der Kommandobrücke war es für das Blatt schwierig, sich aus dem Fahrwasser der FDP herauszumanövrieren; obschon Bremi die statutarisch verbriefte Unabhängigkeit der Redaktion voll respektierte. 1988 brachte er mit dem Luzerner Unternehmer und späteren FDP-Bundesrat Kaspar Villiger ein weiteres politisches Schwergewicht als ersten Nicht-Zürcher Freisinnigen in den NZZ-Verwaltungsrat.
Letztlich waren es aber der Untergang der Swissair sowie der darauffolgende Prozess, die zu einem Umdenken an der Falkenstrasse führten. Der mit dem Ende der Airline einsetzende Macht- und Ansehensverlust der FDP war nicht mehr rückgängig zu machen. 2007 standen 19 prominente Angeklagte vor Gericht, darunter auch die Zürcher FDP-Ständerätin und NZZ-Verwaltungsrätin Vreni Spoerry, die seit 1988 auch im obersten Gremium der Swissair einsass. Die grosse Mehrheit der Angeklagten waren Manager und Verwaltungsräte ohne Parteibuch. Trotzdem lastete die öffentliche Meinung – angeheizt von Christoph Blocher – das Ende der Swissair dem Zürcher Wirtschaftsfreisinn an, der in der Folge innerparteilich viel von seiner einst dominanten Stellung verlor. Die Freisinnige Partei der Schweiz wurde ebenfalls an der Urne abgestraft, so dass der »Alten Tante« die Umarmung durch die FDP immer lästiger wurde. Die Partei sei längst nicht mehr der liberale Stosstrupp, der sie in der Vergangenheit einmal gewesen war. Sie habe viel von ihrer Skepsis gegenüber dem Staat verloren, und auch ihre einstige Zentralismusfeindlichkeit sei ihr abhanden gekommen. Wie die meisten Parteien verwässere sie ihr Programm, um für möglichst viele Bürger wählbar zu sein. Damit liessen sich zwar Wahlen gewinnen, doch freier und wettbewerbsfähiger werde die Schweiz dadurch nicht, beanstandete NZZ-Wirtschaftschef Gerhard Schwarz.
Dagegen konterte FDP Präsident Franz Steinegger: Das Elend seiner Partei habe ab den 1980er Jahren mit dem Wahlslogan »Weniger Staat – mehr Freiheit« begonnen. Ein Motto, welches aus einem NZZ-Leitartikel hätte stammen können. Zwar gewann die FDP 1983 im Nationalrat nochmals drei Sitze, doch danach ging es bergab. Liegt die Schuld für den Absturz tatsächlich in diesem programmatischen Gegensatzpaar? Ist das liberale, wenn nicht libertäre Programm unpopulär geworden? Haben die Freisinnigen damit zu ihrem eigenen Schaden der SVP den Boden bereitet? Fragen über Fragen, die NZZ-Inlandredaktor Christoph Wehrli einmal rückblickend stellte, ohne eine Antwort zu liefern. Denn: Es ist das Eine, im geschützten Redaktionsraum das Hohelied auf den Liberalismus anzustimmen. Und das Andere, sich als Partei mit liberaler Ausrichtung an der Urne zu behaupten und attraktiv zu bleiben für eine sich verändernde Gesellschaft wie die der Schweiz: zunehmend pluralistisch und multikulturell. In den Augen der Kritiker war die FDP zu lange vom eigenen Erfolg geblendet, abgehoben und auf die »alte Schweiz« fixiert. Sie habe die Zeichen an der Wand nicht gesehen, orientierungslos gewirkt und sehr lange gebraucht, um in der »neuen Schweiz« anzukommen. Bei den Nationalratswahlen von 1991 zog die SVP erstmals rechts an der FDP vorbei und hängte diese in den Jahren danach weiter ab. Der klassische Freisinn sei dem Tode geweiht, heisst es im Buch »Der Fall FDP« aus dem Jahr 2015:
Die grosse Zeit der FDP ist für immer vorbei. Nie mehr wird die Partei eine solche Macht in diesem Land haben wie zu ihrer Blütezeit. Nie mehr wird sie den Diskurs so prägen wie damals. Die FDP als staatstragende Partei gibt es nicht mehr.17
Kehren wir für einen Moment zurück ins »Damals«, in die Anfangsjahre von Elisabeth Kopps politischer Karriere. Unter ihrer Führung war in Zumikon ein neues Gemeindehaus gebaut worden, das 1.5 Meter höher war als erlaubt. Weil dieser Umstand an der Gemeindeversammlung zur Sprache gekommen war, griff der NZZ-Berichterstatter die Verfehlung im Blatt auf. Kaum hatte Kopp den Artikel gelesen, kontaktierte sie den Chefredaktor und meinte, die Zeitung habe sich eine schwere Entgleisung zu Schulden kommen lassen. Es sei doch nicht ihre Aufgabe, der eigenen Partei in den Rücken zu fallen. Doch Luchsinger liess sich nicht beirren und wollte wissen, ob die Story wahr sei. Als ihm Kopp versicherte, dass dem so war, antwortete er sinngemäss: Dann ist doch alles in Ordnung, warum regen Sie sich auf? Luchsinger deckte seine Leute, solange deren Geschichten zutrafen und keine rechtlichen Angriffsflächen boten. Er mag mitunter schroff, ja cholerisch gewesen sein, doch seine Mitarbeiter konnten sich (fast immer) auf ihn verlassen.
Das galt besonders für die Wirtschaftsredaktion, deren liberales Credo sich nicht immer mit dem eher wettbewerbsfeindlichen Verhalten gewisser Freisinniger vertrug. Willy Linder, der langjährige Chef der Wirtschaft, erhielt von Luchsinger Carte blanche. Im Gegenzug trug er die volle Verantwortung für seine Mitarbeiter. So passierte es regelmässig, dass der Chefredaktor schnurstracks auf Linders Büros zusteuerte, um sich über einen Text im Wirtschaftsteil zu beklagen, beziehungsweise um Klagen von aussen weiterzuleiten. Es wäre Luchsinger nie in den Sinn gekommen, sich direkt an den Autor zu wenden. Eine regelmässige Zielscheibe solcher Kritik war Wirtschaftsredaktor Heinz Bitterli, ein überzeugter Liberaler, der sich um die Dossiers »Detailhandel« und »Wettbewerb« kümmerte. Mehr als einmal stand Linder mit der Aufforderung bei ihm an der Tür, er solle bei Luchsinger reinschauen, dieser wolle sich mit ihm unterhalten. Zwei solcher »Unterhaltungen« waren besonders pikant. Bei der ersten ging es um die Usego-Gruppe, eine Detailhandelsgesellschaft, die in Schieflage geraten war. Vorsitzender war Dr. Paul Bürgi, seines Zeichens FDP-Präsident, FDP-Nationalrat, später Ständerat und sogar einmal hoffnungsvoller Bewerber für einen Sitz im Bundesrat. An der Generalversammlung war Bürgi aber wegen seiner schwachen Leistung von den Usego-Aktionären abgekanzelt worden. Als Bitterli kurz darauf zufällig Bürgi im Zug begegnete, soll sich dieser wenig einsichtig gezeigt haben: Das sei wie Militär, wie im Panzer, da müsse man einfach die Augen und die Haube zumachen und unten durch. Dem erfahrenen NZZ-Journalisten schien dies keine Strategie, um Usego aus dem Schlamassel herauszuführen. Also schrieb er einen Kommentar, in welchem er Bürgis Rücktritt forderte. Aus Überzeugung, dass dies der beste Weg für eine Sanierung von Usego sei.
Am nächsten Morgen läutete das Telefon in Luchsingers Büro und ein aufgebrachter Bürgi war am Apparat. Die beiden Männer waren befreundet und der enervierte Anrufer wollte wissen, was er nach dem Kommentar in der NZZ tun solle, um seine politische Karriere nicht zu gefährden. All dies erfuhr Bitterli später von seinem Vorgesetzten, Willy Linder, der ihn, wie gewohnt, bat, zum Chefredaktor zu gehen. Dort wurde er mit beleidigter Stimme empfangen und aufgefordert, sein Vorgehen zu begründen, was Bitterli nicht schwerfiel. Anschliessend meinte Luchsinger lakonisch, er sei anderer Meinung und gebe Bürgi recht: Der Kapitän dürfe das sinkende Schiff nicht verlassen. Damit war die Sache für Bitterli erledigt. Für Bürgi aber läutete der NZZ-Kommentar das Ende von dessen Ambitionen ein.
Beim zweiten Fall hatte Bitterli sich mit Rudolph R. Sprüngli angelegt, dem Patron der gleichnamigen Schokoladenfabrik, der zudem Präsident bei Hürlimann-Bier war. Als überzeugter Gegner von Kartellen geriet der NZZ-Redaktor rasch in Konflikt mit dem der FDP angehörenden Sprüngli, der nicht nur vom Schokolade- und Bierkartell, sondern auch vom Mineralwasser- und Süssgetränkekartell betroffen war. Der einflussreiche Unternehmer und NZZ-Aktionär zitierte Bitterli eines Tages zu einem Mittagessen ins »Eden au Lac«. Dort eröffnete er dem streitbaren Journalisten, dass dessen Tage bei der NZZ gezählt sein könnten, wenn er auf seinen kartellkritischen Positionen verharre. Bereits zuvor hatte Sprüngli bei Luchsinger interveniert. Das war für den Chefredaktor insofern unangenehm, als er mit Sprüngli im gleichen Rotary-Club sass und sich nun für den nächsten Club-Anlass rüsten musste. Er bat deshalb den Wirtschaftschef, ihm auf einem A4-Blatt in verständlicher Sprache die ordnungspolitische Position der NZZ zu Wettbewerb und Kartellen aufzuzeichnen. Linder reichte die Strafaufgabe an Bitterli weiter, der sicherstellte, dass sein Boss das Konzentrat rechtzeitig dem Chefredaktor übergeben konnte. Als Luchsinger später am Rotarier-Tisch neben Sprüngli sass und dieser Vorwürfe gegen die NZZ vorbrachte, soll der Chefredaktor sich von seiner cholerischen Seite gezeigt haben. Er habe Sprüngli gepredigt, was auf dem A4-Blatt stand, und ihn danach aufgefordert, die Meinungsfreiheit der NZZ zu respektieren. Diese Beispiele zeigen: Die Wirtschaftsredaktion riskierte immer wieder mal einen Konflikt mit dem Freisinn, was auch ihr Verhältnis zur Inlandredaktion belastete. Leitartikel der Wirtschaft waren längst nicht immer deckungsgleich mit denen der Inlandredaktion. Ein Grund dafür war auch: In der Wirtschaft dominierte der ordnungspolitische Aspekt, wie ihn die reine Lehre vorgibt, während im Inland der politischpragmatische zählte.
Seit dem Austritt der St. Galler FDP-Ständerätin und späteren Magistratin Karin Keller-Sutter aus dem NZZ-Verwaltungsrat im Jahr 2016 ist der Freisinn dort nicht mehr vertreten. Die FDP ist nur noch mit ihrer ehemaligen Urner Nationalrätin Gabi Huber im neuen, zahnlosen Beirat zur Qualitätskontrolle präsent. Die Zeitung konnte sich also von der Partei emanzipieren. »Hat sie überhaupt noch den freisinnigen Geist verinnerlicht?«, fragte an der NZZ-GV 2019 der Generalsekretär der FDP der Stadt Zürich. Ihm war aufgestossen, dass das Blatt bei der Präsentation des FDP-Wahlprogrammes durch Abwesenheit glänzte, dagegen bei einem ähnlichen Anlass der Grünliberalen teilnahm und erst noch darüber berichtete. Was man an der Falkenstrasse vom politischen Kurs der FDP hielt, legte Inlandchef Michael Schoenenberger 2018 in einem Kommentar dar:
In einer immer dichter besiedelten Schweiz werden die Themen Zuwanderung und Integration, Verkehr, Raumplanung und Umweltschutz mit Garantie immer wichtiger. Sollte die FDP das Thema Zuwanderung dauerhaft der SVP und die Ökologie dauerhaft den Grünliberalen überlassen, begeht sie einen schweren Fehler. Und ganz zentral sollte sich die FDP um die sogenannten Frauenthemen, nennen wir sie hier Familienthemen, kümmern. Sie soll nicht zur Familienpartei werden, aber als Wirtschaftspartei, welche die Berufstätigkeit beider Geschlechter einfordert, muss sie Antworten für Eltern liefern. Dazu gehört ein klares Bekenntnis zu Tagesschulen, beispielsweise. Kurzum: Die FDP hat nicht nur jene Themen aufzunehmen, welche die Wirtschaft und deren Verbände beschäftigen. Sie hat sich zunehmend auch um das tägliche Leben der Menschen zu kümmern.«18
Ähnlich sah es die »geschasste« Bundesrätin Elisabeth Kopp:
Man kann nicht ein Wahlprogramm aufstellen, ohne Energie, Klima und Umwelt zu thematisieren. Dieses Thema brennt den Menschen unter den Nägeln.19
Deshalb würde sie heute, so Kopp, gar nicht mehr der Freisinnigen Partei der Schweiz beitreten, sondern den Grünliberalen.