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Sieben
ОглавлениеCurd war wieder einmal bei Reutmann und erzählte ihm seine Abenteuer in Thailand.
„Das tut mir herzlich Leid für sie, Herr Hofmann. Aber sie haben absolut korrekt gehandelt. Wenn sie dort in einem Gefängnis verschwunden wären, nicht auszudenken.“
„Wirklich kein angenehmer Gedanke. Ich habe eine kleine Vorahnung davon bekommen.“
„Auch für unser Unternehmen wäre das ziemlich katastrophal gewesen. Ich bin ernsthaft besorgt. Ich habe bisher Edam für eine gewissenhafte, staatliche Organisation gehalten und jetzt das.“
„Können wir herausbekommen, um wen es sich wirklich handelt?“
„Fest steht, es ist die Geheimpolizei Thailands, die ihren Schwerpunkt auf die Rauschgiftkriminalität legt, aber auch auf die wachsende Terrorismusgefahr Im Lande.“
„Vielleicht weiß der Major Phatipa..., ich kann mir den Namen nicht merken, etwas.“
„Der weiß nichts oder der sagt nichts.“ Curd war überrascht, dass Reutmann über den Major offensichtlich mehr Information hatte. „Wir haben auch schon übergeordnete Stellen kontaktiert, aber bisher nichts herausbekommen.“
„Haben wir denn einen eigenen Geheimdienst?“ Curd war sehr überrascht.
„Nun ja, wie man's nimmt. Jedenfalls haben wir einen guten Kontakt. Unser Verfassungsschutz und der MAD sind nämlich sehr interessiert, dass Minerva nicht in falsche Hände gerät.“
„Wäre es da nicht besser gewesen, Minerva nicht an Edam zu geben?“
„Für unser Land ist es wichtig, weltweit Daten zu bekommen. Das geht aber nur, wenn die nationalen Organisationen das System auch haben. Insofern ist Edam für den südostasiatischen Raum wichtig.“
„Aber offensichtlich ist es nicht kontrollierbar, wer von da Zugang bekommt.“
„Offensichtlich.“ Reutmann schaute in Gedanken versunken auf seine lederne, leere Schreibunterlage und ließ einen silbernen Füllfederhalter mit den Fingern der linken Hand rotieren. Plötzlich gab er sich einen Ruck, hielt inne und sah Curd in die Augen. „Auf jeden Fall haben sie mit ihrer Beharrlichkeit recht gehabt, keine Funktionen für die Manipulation von Daten zu erlauben.“
„Denken sie, das die, wer immer sie auch sind, uns unter Druck setzen werden?“
„Es gibt nach Ansicht der Fachleute“, Curd überlegte, wen Reutmann damit meinte, „zwei Aspekte, die wir beachten müssen. Womöglich wollen sie sich an ihnen rächen, weil sie sie gelinkt haben. Da es Profis sind, glaube ich aber eher, dass sie die Rache sein lassen und es über andere Wege versuchen werden. Zum Beispiel über ihre Mitarbeiter. Wer bei uns könnte das System verändern?“
„Nun ja, da kommt eigentlich nur das innere Team infrage, also Dave, Cora, Paul und eventuell Kevin Müller oder Bernd Sonnenberg.“
„Das sind viele. Würden sie so eine Veränderung sehen?“
„Wenn ich aufpasse, schon.“
„Dann passen sie gut auf. Und hoffen wir, dass die wirklich so professionell sind und auf Rache verzichten. Übrigens, Herr Hofmann, wer weiß im Hause eigentlich, aus welchen Personen das innere Team besteht? Außer dem Team selbst.“
„Das wäre Karl Franzen, Frau Dr. Bietigmann und evtl. Prof. Wienand. Ach ja, und Hauptkommissar Jürgen Degelein. Der hat sie beim Test kennengelernt.“
„Und sie.“
„Natürlich.“
„Wenn also ein Angriff erfolgt, dann kann das nur über die genannten Personen geschehen, korrekt?“
„Das sehe ich auch so.“
„Ach, da gibt es doch noch die Cyberkrieger von Bietigmann. Was ist mit denen?“
„Sei meinen das neue Red Team, Leonard Hermann, Hanna Ulmen und Mehmed Bauer?“
„Die Namen kannte ich nicht.“
„Die sind eigentlich völlig abgeschottet vom inneren Team. Sie hängen nur am Computer und checken Hackerangriffe aus.“
„Sie kennen also das Team nicht?“
„Wir haben sie nicht gegenseitig bekannt gemacht. Die könnten in der Kantine nebeneinander sitzen und wüssten voneinander nicht, was sie im Unternehmen machen. Die Red Team – Leute dürfen nicht einmal sagen, in welcher Organisationseinheit sie sind. Sie sind angewiesen, wenn sie gefragt werden, zu erzählen, dass sie das Gebäudemanagement softwaremäßig unterstützen.“
„Das ist eine gute Idee. Hoffentlich halten sie sich daran. Mir persönlich sind schon zu viele Leute involviert. Ja ja, ich weiß, mit weniger geht es nicht. Und noch etwas, Herr Hofmann. Ich möchte, dass wir die Gesichtserkennung integrieren. Dann könnte man auch auf die bereits umfangreichen, bestehenden Datenbanken zugreifen. Was halten sie davon?“
„Das würde die Trefferquote noch einmal anheben. Haben sie einen Hersteller im Auge?“
„Ja.“ Mehr kam nicht.
„Wenn wir das machen sollen, brauchen wir aber die Schnittstelle.“
„Kriegen sie. Ich kümmere mich darum.“ Damit musste sich Curd wohl oder übel zufrieden geben.
Nach all dem Stress, beschloss er seine Sarah sehen zu wollen und rief sie an. Sie war gleich am Telefon und auch noch in der Nähe und Zeit hatte sie auch. Sie kamen beinahe gemeinsam bei Curds Wohnung an.
„Jetzt erzähl schon. Wo warst du?“
Die Erzählung war ganz anders als die bei Reutmann. Der Schwerpunkt lag auf den Stimmungen, dem Essen und auch die Angebote zur Massage verschwieg er nicht.
„Lass dich nie auf eine Thaimassage ein, wenn du kein Masochist bist.“
„Aber am Anfang mit dem Öl, das war doch gut, oder?“ grinste Sarah.
„Die Erwartung war riesig, das darauf Folgende aber schrecklich.“
„Ich möchte das ausprobieren.“ Sie hatte ein merkwürdiges Glitzern in den Augen.
Ihre Figur war dem Thaimädchen sehr ähnlich. Sie hatte nur längere Beine. Curd konnte das alles genau beobachten, weil sie im Gegensatz zu seinem professionellen Erlebnis kein weißes Tuch umgebunden hatte. Das Öl war nicht annähernd so duftend wie das thailändische Jasminöl. Er musste, wenn er noch einmal hinkam, viel davon mitbringen. Und dem weichen, gleitenden Anfang der Massage folgte auch nicht der Sumoringerteil. Curd empfand so viel Dankbarkeit, dass er ihr anbot, sie auch und ähnlich zu massieren, was sie ohne Widerspruch hinnahm.
Sie lagen entspannt mit einem Glas Wein im Bett und störten sich nur daran, dass sie vielleicht ein bisschen zu viel Öl verwendet hatten, was ihre Haut jetzt ein wenig klebrig machte.
„Was hast du noch in Thailand gemacht, außer dich verwöhnen zu lassen?“
„Es war schon dienstlich. Das war keine Vergnügungsreise.“
„Und was war der Grund?“
„Ein technisches Problem musste bei einem Kunden behoben werden.“
„Ach so. Wie langweilig. Ich finde das mit dem Essen und dem Massieren viel aufregender.“ Und sie lachte zufrieden in sich hinein. Curds aufblitzendes Misstrauen war sofort wieder verschwunden.
Mir der Schnittstelle, die Reutmann schnell liefern ließ, konnten sie in kurzer Zeit ihre Datenstruktur erweitern und die biometrischen Gesichtsparameter in ihre Datenbank aufnehmen. Lediglich die Änderung der Software an den lokalen Geräten war etwas komplizierter. Diese mussten jetzt auch noch die Gesichter analysieren. Für Dave war das zu langweilig, weil nichts Neues zu erfinden war. So lag die Hauptlast der Arbeit bei Cora und Bernd, die die Probleme zielstrebig und ohne Umwege lösten. Die Aktualisierung der Software auf allen bisher eingesetzten Geräten war ein Kinderspiel. Diesen Mechanismus gab es bereits von Anfang an. Der Kunde merkte davon gar nichts. Es geschah über die ohnehin bestehende Satellitenverbindung jedes Geräts.
Dr. Sarah Bietigmann schickte Curd wieder nach Frankfurt. Es sollte etwas Besonderes geschehen sein, was er sich unbedingt ansehen und woran er auch beteiligt würde. Curd entschied sich, nicht weiter zu rätseln. Er kannte langsam die Interpretation des 'need to know' von Dr. Bietigmann.
Bei Emmental wurde er von Mohnkötter, der ein triumphierendes Dauerlächeln aufgesetzt hatte und einem durch und durch amerikanisch aussehenden Menschen empfangen. Alle Kopfhaare waren rasiert, der schwarze Anzug über schwarzem Rollkragen sowie sein Name Mike Malkovich, unterstrichen das Gesamtbild.
„Ist Mr. Hofmann gecleart?“ sagte er im reinsten Neuengland – Akzent.
„Er ist der Entwicklungsleiter“, antwortete Mohnkötter.
„Aber ist er gecleart?“
„Ja ja. Er ist von unserem Verfassungsschutz mit der entsprechenden Geheimhaltungsstufe versehen.“ Curd wusste gar nichts davon, aber er unterließ es, einen Kommentar dazu abzugeben.
„Okay. Dann erzähl' es ihm, Klaus“, sagte Mike.
„Halt“, unterbrach Curd. „Erst möchte ich wissen, wen ich vor mir habe.“
„What?“
„Welche Organisation vertreten sie?“
„No need to know.“
„Doch“, beharrte Curd.
Mohnkötter half. „Er muss es wissen, damit er weiß, auf wen er sich einlässt.“ Mindestens die CIA oder MI6, dachte Curd. Aber es kam noch schlimmer.
„Okay. Tell him.“
„Also nun, ja..“, stotterte Mohnkötter, „Mike ist von der NSID bei der ICE.“ Ach du grüne Neune, durchfuhr es Curd. Eine der am besten ausgestatteten Organisation weltweit. Die US Immigration and Customs Enforcement hat alles und darf alles. Und die Abteilung National Security Investigations Division hat Möglichkeiten, gegen die die CIA ein Pfadfinderclub ist.
„Und was hat das mit uns zu tun?“, Curd war sehr verunsichert.
„Jetzt ist es schon egal“, sagte Mohnkötter weiter. „Unsere Gesellschaft ist eine Gründung der ICE und sie gehört ihr auch, vollständig. Aber das muss unbedingt vertraulich bleiben. Nicht mal ihr Team darf das wissen. Kann ich mich auf sie verlassen?“
„Ja, natürlich. Ich habe nicht das geringste Interesse, dass das publik wird.“
„Okay“, sagte Mike wieder. „Erzähl es ihm.“
Mohnkötter versammelte sich, atmete tief durch und sagte: „Sie haben mit unserem System eine Terrorzelle in den USA mit Sitz in Florida aufgespürt.“
„Das ist ja großartig.“ Und Curd meinte es auch so.
„Zehn mutmaßliche Terroristen sind verhaftet worden.“
„Moslems?“
„Es waren wohl Amerikaner. Welchen Glaubens wissen sie noch nicht genau.“
„Und warum benötigten sie mich hier in Frankfurt? Nur um mir das mitzuteilen?“
„Sie werden mehr involviert, als sie sich vorstellen können.“
„Werden sie konkreter.“
„Das Material aus Minerva muss so aufbereitet werden, dass es vor einem US – Gericht Bestand hat. Mike kann ihnen das genauer erklären.“
„Wir in den USA haben strenge Regeln für die Verwendung von Computermaterial bei Gerichtsverhandlungen. Das Wichtigste ist, dass sie nichts im Original verändern dürfen. Das Originalmaterial ist im Bedarfsfall zum Vergleich bereit zu halten. Bis hier alles klar?“
„Ja, selbstverständlich. Aber was muss ich tun?“
„Sie müssen das Originalmaterial an bestimmten Stellen, die ich ihnen noch genau sagen werde, kennzeichnen mit Kommentaren, damit die Rechtsanwälte alles verstehen. Diese Kennzeichnung betrifft den Namen der Verbrecher, den Ort und ihre Handlungen dort. Diese Informationen bekommen sie von uns.“
„Kein Problem. Das mache ich.“
„Und bitte, machen sie es selbst und delegieren sie das niemandem. Wir brauchen ihre Unterschrift original und beglaubigt auf den Dokumenten.“
Curd ließ sich noch die zehn Namen geben und fuhr mit gemischten Gefühlen wieder nach Hause. Es wurde ihm bewusst, dass Minerva zunehmend selbstständig arbeitete und er hatte alles dafür getan, um das zu ermöglichen.
Er verzog sich in sein Büro und teilte allen mit, dass er ein paar Stunden nicht gestört werden wollte. Die Pfade waren alle da, genauso wie Mike es gesagt hatte. Er benutzte eine Präsentationssoftware, um die Kartenbilder zu kopieren und dann die Kommentare in oranger Farbe anzubringen. Es ging einfacher als er dachte und er wartete darauf, dass ihm die avisierten Kommentare mitgeteilt würden. Per E-mail würden sie sie ja nicht senden. Er speicherte seinen Zwischenstand auf einen USB- Stick und löschte die Arbeiten vorsichtshalber von seinem PC. Den Stick steckte er in die Hosentasche und nahm ihn abends mit nach Hause.
Der Besuch, der am nächsten Morgen bereits auf ihn wartete, überraschte ihn. Es war Benedikt Kranz. Curd wusste nicht gleich, wie er ihn begrüßen sollte, da er doch von seiner eigentlichen Aufgabe gar nichts wissen sollte. Benedikt nahm ihm das Problem ab.
„Als Erstes würde ich vorschlagen, dass wir 'du' zueinander sagen. Das amerikanische 'sie' zusammen mit dem Vornamen gibt es ja gar nicht. Ist das in Ordnung für sie beziehungsweise für dich?“
Curd fand den Antrag merkwürdig, obwohl er rational nichts dagegen sagen konnte. Seine mütterliche Erziehung hatte ihm feste Regelungen vorgegeben, eine Art von Konditionierung, die unbewusst, aber zuverlässig funktionierte: Älterer vor Jüngerem und Frau vor Mann. Seine Gedanken schweiften zu Sarah. Sie zuerst grüßen, die Türe aufhalten, sie vor ihm gehen lassen, aber nicht beim Betreten eines Restaurants, ihr aus dem Mantel helfen, den Stuhl anbieten, aufstehen, wenn sie aufstand, alle diese Regeln waren mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Eigentlich schade, dachte er, die gute, alte Minne war doch eigentlich gar nicht so schlecht.
„Sind sie noch da, Herr Hofmann?“ Benedikt weckte ihn aus seinen Träumereien.
„Ja ja, natürlich. Ich bin einverstanden. Entschuldigung.“
Benedikt lachte. „Mein Klischee vom Entwickler als nicht von dieser Welt wird also wieder einmal bestätigt. Aber nun zur Sache: Ich habe noch eine andere Aufgabe bei der Gesellschaft. Ich bin der Kontaktmann zum Verfassungsschutz und jetzt auch zur NSID.“
„Ach, das ist ja eine Überraschung“, log Curd. „Ich gratuliere.“
„Ob das ein Grund zur Freude für mich ist, wird sich noch herausstellen.“
„Ist doch ein spannender Job, James Bond.“
„Von wegen James Bond. Ich habe weder eine Luger noch Mädchen und schon gar nicht die Lizenz zum Töten. Und so eine tolle Musik höre ich auch nicht dabei. Und was noch viel wichtiger ist: Wir wissen nicht, was böse und was gut ist. Ich sitze nur Tag und Nacht am Computer, weiter nichts.“
„Ja, Spion war früher auch spannender.“
„Ich habe die Kommentare. Wenn du einverstanden bist, arbeiten wir zusammen.“
„Na klar.“ Curd begann, sich über nichts mehr zu wundern. Sie saßen ungestört eine Stunde an Curds Computer, der die Unterlagen wieder vom USB - Stick geladen hatte, was Benedikt zu einem Kopfschütteln und Augenaufschlag zur Zimmerdecke veranlasste. Er musste aber zugeben, dass diese Methode unter den gegebenen Umständen die sicherste war. Wenn man Curd vertraute.
Als sie fertig waren, waren nur noch die Karten vom Original hinzuzufügen, dann konnten sie gemütlich essen gehen, ins Franziskaner, wie Curd vorschlug.
Es kam nicht dazu. Als Curd sich bei Minerva angemeldet hatte, staunte Benedikt über die Heftigkeit mit der er auf Tastatur und Maus herumklickte und über die zunehmende Blässe in Curds Gesicht.
„Was ist denn los? Hast du die Bedienung vergessen?“ Die Antwort war ein noch nervöseres Herumhacken.
„Nun, sag schon, was ist los?“
„Ich brauche Dave.“
„Wir sollten aber nicht eine weitere Person hinzuziehen.“
„Hier geht es ums System selbst.“ Und er holte Dave übers Telefon.
Dave schlenderte herein. Benedikt wurde ihm als Mitarbeiter von Emmental vorgestellt.“
„Wieso Emmental? Was soll das heißen?“ fragte Dave. Curd winkte ungeduldig ab.
„Dave, wurde am System gerade etwas gemacht? Ich meine mit der Datenbank?“
„Nein, die haben wir schon lange nicht mehr angetastet.“
„Kann beim Backup etwas schief gelaufen sein?“
„Was soll denn da schief laufen. Das läuft im Hintergrund, und das schon lange ohne Probleme.“
„Kann mir einer von euch jetzt endlich sagen, was los ist?“ Benedikt wurde jetzt berufsmäßig unruhig.
„Würde mich auch interessieren“, ergänzte Dave gelassen.
„Die Orignale sind weg.“
„Was? Wie? Welche Originale?“ Benedikt wirkte gar nicht mehr cool.
„Du weißt genau, welche ich meine. Sie sind verschwunden. Mit den Personen. Nichts mehr da. Sie sind nicht mehr existent.“ Curd hatte tatsächlich Schweißtropfen auf der Stirn, weil ihm langsam bewusst wurde, welche Konsequenzen das haben würde. Benedikt sagte gar nichts.
„Kann ich wieder an die Arbeit gehen? Ihr werdet es mir schon sagen, wenn ihr etwas von mir braucht.“ Dave war wirklich nie aus der Ruhe zu bringen. Er beschränkte sich mental auf seine Algorithmen, die Außenwelt berührte ihn nicht. Der regelmäßige Rotwein unterstützte diese gesundheitsfördernde Einstellung.
Benedikt sagte noch immer nichts.
„Ich muss noch einmal suchen. Vielleicht habe ich nur falsche Eingaben gemacht.“ Curd glaubte selbst nicht, was er sagte. Sein Inneres wollte nur noch nicht akzeptieren, dass ein wahrer Albtraum nahte.
„Kommst du mit spazieren? Ist das beste Rezept, hat mein Vater immer gesagt.“ Benedikts Vorschlag war ausgezeichnet, etwas Anderes fiel Curd ohnehin nicht ein.
Sie gingen schweigend durch den Hofgarten zum Teehaus am Anfang des Englischen Gartens ohne die vielen Menschen aller Größen und Rassen zu registrieren, die glücklich und entspannt umherspazierten, höchstens mit kleinen Alltagssorgen belastet.
„Der Prozess darf nicht platzen.“ Das war ein Statement, fand Curd und der Beginn einer kreativen Phase zur Beherrschung des Geschehenen.
„Ich habe keine, nicht die geringste Ahnung, wie das passieren konnte.“
„Diese Frage ist im Moment nicht relevant. Darum kümmern wir uns später.“ Benedikt war gar nicht schlecht geschult. „Hast du eine Idee?“
Curd ging einige Schritte schweigend weiter. „Hab ich“, sagte er dann.
„Na also. Und wie lautet die Idee?“
„Erstens: Ich habe gestern die Originale gesehen. Sie waren also da, genau wie Mike es berichtet hat. Du hast die Folien mit den Kopien der Kartenbilder heute gesehen. Ich habe sie von den Originalen kopiert.“
„Klar hast du das. Aber du weißt ja selbst, was das wert ist, wenn sie übermalt sind mit den Kommentaren.“
„Weiß ich. Aber ich habe die Originale auch auf dem Stick.“
„Sieht man da das Datum mit dem Zeitpunkt der Kopie?“
„Ja.“
„Das muss weg.“
„Wäre eine Fälschung und bringt nichts.“
„Stimmt auch wieder.“
„Wir machen es so. Wir nehmen die Kopien der Originalkarten und unterschreiben, dass sie unverändert vom Original stammen.“
„Das Problem ist nur, dass Mike merken wird, dass die Daten weg sind.“
„Warum sollte er noch einmal nachsehen? Er hat doch bestimmt Besseres zu tun.“
„Zu riskant. Wir weihen ihn ein.“
„Und du oder wir haben die gesamte NSID auf dem Hals.“
„Das ist zu vermuten. Aber ihn nicht einweihen, wäre schlimmer, viel schlimmer.“
Die blitzartig gegründete Task Force traf sich bei Reutmann. Sie bestand aus Curd, Benedikt, Dr. Bietigmann und Mike. Überraschend war auch der Verantwortliche für die 'Firmendokumentation', Walter Meier anwesend. Curd fragte nicht und konzentrierte sich auf die Sitzung. Mike eröffnete.
„Es ist ungeheuerlich, was da passiert ist. Bitte erklären sie es so genau wie möglich.“
Dr. Bietigmann antwortete. Sie war offensichtlich gut vorbereitet. „Es wurden keine Fehler in der Software oder der Bedienung festgestellt. Die Funktionalität, Daten zu löschen oder zu verändern, steht mittlerweile nur einem Teil des inneren Teams zur Verfügung. Es sind dies Dr. Hofmann, Dave McMillan, Bernd Sonnenberg, Kevin Müller, Paul Lorenz und Cora Stein. Alle wurden von uns von Anfang an geheimdienstlich überprüft. Die Auswertungen der protokollierten Zugriffe ergab nicht den geringsten Hinweis auf eine Manipulation. Wir haben jetzt unser Red Team beauftragt, nach möglicher Schadsoftware gezielt zu suchen, die der Verursacher sein könnte. Interesse an einer solchen Schadsoftware könnten viele haben und wir schließen auch die Amerikaner nicht aus.“ Der Angriff war gut, kam aber bei Mike nicht gut an.
„Unsinn. Ich erwarte im Auftrag meiner Organisation einen baldigen Erfolg und Bericht. Jetzt müssen wir uns um den Prozess kümmern. Wie machen wir das?“
„Wir haben die Originaldaten mit den Verdächtigen gesichert und sie stehen damit zur Verfügung.“ Curd war der Meinung, dass er die Antwort geben müsse.
Mike machte ein indifferentes Gesicht, sagte aber dann: „Damit muss es wohl gehen. Wir sehen uns in Fort Lauderdale. Seien sie gut. Ich muss jetzt zu meinem Flug. Auf Wiedersehen und finden sie heraus, was geschehen ist, im eigenen Interesse.“
„Was heißt das? Wir sollen gut sein in Fort Lauderdale“, fragte Curd ein wenig naiv.
„Dort ist der Prozess“, antwortete Dr. Bietigmann.
„Ach so“, sagte Curd.
„Und sie werden dabei sein müssen.“
„Was? Ich? Wieso ich?“
„Weil sie Schuld sind, dass es nicht so gelaufen ist, wie wir alle gewünscht haben. Nein, natürlich nicht deswegen. Sie kennen das System am besten und sie waren ohnehin dafür vorgesehen. Außerdem vertraut ihnen Mike.“
„Ich hab ja auch gar nichts gemacht. Ich fahr' da nicht hin.“
„Jetzt sind sie doch nicht so kindisch“, sagte Reutmann und schien noch verärgerter zu sein, als er ohnehin schon war. „Sie verantworten den Schlamassel, schon vergessen?“
„Hmm. Und was soll ich da machen?“
„Schwören, dass sie die Originaldaten verwendet haben.“
„Habe ich ja auch.“
„Na also, dann ist das ja kein Problem. An die Arbeit. Jeder weiß, was zu tun ist. Diesmal will ich Schuldige haben und Köpfe müssen rollen.“ Reutmann war sehr ärgerlich.
Vom Flug nach Fort Lauderdale blieb ihm nur das endlose Wasser des Atlantik in Erinnerung. Und dass er sich wunderte, doch immer wieder einmal ein Schiff zu sehen, dass gegen die aufgewühlten Wellen kämpfen musste. Von oben sah das ganz harmlos aus. Aber die Schaumkronen waren deutlich zu erkennen.
Am Flughafen wurde er schon abgeholt von Menschen, die er nicht kannte. Genauso gut hätten das auch Entführer sein können, ein Gedanke, der ihn kurz erschreckte. Das Gebäude, vor dem er herausgelassen wurde, beruhigte ihn. 'Court of justice' schien schon das Richtige zu sein. Drinnen musste er einfach nur warten. Mehrere Stunden. Die hatten auch keine Ahnung von langen Flügen und jet lags. Der Normalamerikaner war ja auch schließlich nie außerhalb seines von Gott gesegneten Landes der Freiheit unterwegs. Wenigstens bekam er etwas zu trinken, was braun aussah und von denen Kaffee genannt wurde.
Endlich wurde er aufgerufen. Er war gerade ein wenig eingenickt und fühlte sich nicht besonders fit. Er betrat den ehrwürdigen Saal und der ehrwürdige Richter begrüßte ihn mit einem kurzen Kopfnicken und ein ehrwürdiger Saaldiener schob ihm eine englische Bibel hin. Er musste schwören und wurde darauf hingewiesen, wie schrecklich es für ihn werden könnte, wenn er einen Meineid leistete. Schon klar, dachte er. Habe ich auch nicht vor. Seine Ermüdung war recht praktisch, weil sie ihm ein gewisses Maß an Gleichgültigkeit bescherte. Jetzt irgendein Bett und sofort einschlafen, das wäre guter life style. Aber so weit war es noch lange nicht.
Er wurde als Erstes vom Staatsanwalt befragt. Curd erzählte von Minerva ohne technische Details zu erwähnen und von den Pfaden, mit denen die Angeklagten gefunden wurden. Die Zehn saßen mit gesenktem Blick da, waren gut gekleidet und gepflegt. Die Demut und Achtung vor dem hohen Gericht kommt bei den Geschworenen gut an, wusste Curd aus den beliebten amerikanischen Gerichtsfilmen. Deswegen wusste er auch, dass der Staatsanwalt mit dem Satz 'keine weiteren Fragen' weitergeben würde an den Anwalt. Der war alt, dick, solariumgebräunt, weißhaarig und sehr reich aussehend. Der Goldschmuck an seinen fleischigen Händen blendete fast. Es war wirklich wie im Film, zumal auch die Geschworenen aus einem politisch korrekten, repräsentativen Mix aller amerikanischen Rassen zusammengesetzt waren, Engländer, Hispanos, Indianer, Chinesen und so fort und auch noch Frauen und Männer sowie das Alter im richtigen demografischen Verhältnis. Er musste fast lachen, obwohl das jetzt nicht angebracht gewesen wäre.
„Mr. Hofmann, ist es korrekt, dass sie die Daten aus einem System namens Minerva ausgewertet haben?“
Curd dachte, es sei besser, immer gut zu überlegen und äußerst korrekte Antworten zu geben. Also sagte er: „Nein, Hochwürden...“
„Hochwürden ist der Richter, ich bin nur der Anwalt. Aber das können sie als Ausländer ja nicht so genau wissen.“
„Nein, Herr Anwalt, ich habe das nicht ausgewertet, sondern das macht das System selbst.“
„Sie wollen damit sagen, dass der Staatsanwalt es einer Computersoftware überlässt zu entscheiden, ob diese braven Mitbürger“, und er deutete mit einer großen Geste auf die Angeklagten, „Verbrecher sind.“
„Ich denke, dass es auch noch andere Gründe gibt, sie für schuldig zu halten.“ Dass das ein Fehler war, merkte er sofort.
„So, welche denn?“
„Das weiß ich nicht.“
„Warum erwähnen sie dann anderes Belastungsmaterial?“
„Ich habe gedacht...“
„Bitte entschuldigen Sie, Mr. Hofmann, aber sie sollen hier nur die Wahrheit sagen.“
„Einspruch“, krähte der Staatsanwalt.
„Stattgegeben“, antwortete der Richter mit sonorer Stimme, „bleiben sie bei den Fragen, die sie dem Zeugen stellen wollen und die er auch beantworten kann.“ Es war wirklich wie im Kino.
„Verzeihung, hohes Gericht, ich dachte nur, es kämen noch Dinge zur Sprache, über die der Zeuge Auskunft geben kann. Noch einmal meine Frage, Mr. Hofmann. Hat das System gesagt, dass meine Mandanten schuldig sind?“
„Nein, natürlich nicht. Aber es zeigt, wo sich die Angeklagten zu welchem Zeitpunkt befunden haben und wie lange sie jeweils dort waren.“
„Würde das System das auch von ihnen zeigen?“
„Selbstverständlich.“
„Und deswegen sind sie auch schuldig, oder?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Wie unterscheidet das System gut oder böse?“
„Das tut es gar nicht. Wie gesagt, es zeigt nur....“
„Das haben sie eben schon gesagt. Halten wir fest, das System zeichnet von praktisch jedem Menschen auf, wo er war und wie lange er dort war?“
„Grundsätzlich ist das richtig.“
„Nur grundsätzlich? Also gibt es Ausnahmen.“
„Ja, keine Software ist vollkommen fehlerfrei.“ Das war der nächste Fehler und Curd wusste es gleich. Ein Scheißtag bahnte sich an.
„Können sie das genauer charakterisieren?“
„Wir haben eine Fehlerquote von unter 0,5 Promille. Das ist schon sehr genau.“
„Aber eben nicht ganz genau.“
„Es ist so, Herr Anwalt: Selbst wenn eine der Personen falsch ermittelt wurde, bei zehn Personen ist der Fehler so unwahrscheinlich, dass man praktisch davon ausgehen kann, dass das Ergebnis zu hundert Prozent richtig ist. Und da die Angeklagten sich alle in einer Wohnung aufgehalten haben, in der terroristisches Material gefunden wurde, ist der Schluss auf ihre Schuld doch korrekt.“ Curd wurde langsam zornig.
„Sie rechnen uns da irgend etwas Statistisches vor und jeder weiß, wie leicht man Statistiken fälschen kann und sie äußern schon wieder Vermutungen. Das alles ist nicht recht glaubwürdig, oder?“
„Sie haben aber jetzt etwas verwechselt. Was sie mit Statistiken meinen, ist etwas ganz anderes. Diese kann man sehr leicht manipulieren oder zumindest so darstellen, dass etwas herauskommt, was man will. Hab' ich selber schon oft gemacht. Hier ist es wie gesagt etwas ganz Anderes. Das kann man doch nicht vergleichen.“
„Ich halte fest: Sie haben ausgesagt, dass man Statistiken manipulieren kann und dass sie das selbst schon oft gemacht haben. Finden sie, dass uns unter diesem Licht betrachtet, ihre Aussagen überzeugen werden.“
„Aber es geht doch gar nicht um mich.“
„Sondern?“
„Um die Auswertungen des Systems Minerva. Die habe ich ihnen vorgelegt.“
„Die sie aber gemacht haben?“
„Nein, das System hat die gemacht.“
„Jetzt verwirren sie uns. Wer hat diese Folien gemacht?“
„Ja, ich.“
„Gerade noch haben sie gesagt, dass wäre ihr System gewesen.“
„Einspruch.“
„Stattgegeben. Herr Anwalt, sie verwirren den Zeugen. Bitte stellen sie klare Fragen.“
„Jawohl, Euer Ehren. Mr. Hofmann, wenn ich jetzt beantragen würde, dass wir ihre sogenannten Originalunterlagen in ihrem System im Original sehen wollen, würden wir sie dann finden?“
Das war die Bombe. Aus heiterstem Himmel und völlig unerwartet für alle. Nur einer der Angeklagten grinste triumphierend. Er und der Anwalt wussten, dass der Schuss getroffen hatte.
Curd war sofort klar, er hatte nur die Wahl zwischen Meineid oder Katastrophe. Er wählte die Katastrophe. Ins Gefängnis wollte er nicht schon wieder. Nicht einmal in Amerika.