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Drei

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Curds Ansprechpartner war ein Hauptkommissar namens Jürgen Degelein, im normalen Leben zuständig für die kriminellen Banden in München, jetzt abgestellt für das Projekt. Degelein war ein echter Münchener, eine aussterbende Spezies. Keiner für die Touristen, denn in Lederhose und mit Gamsbart war er nie zu sehen. Außer, dass ihm die Weißwurst vor zwölf Uhr mittags heilig war und er auf das Bier vom Hofbräuhaus schwor, war nicht viel Bayrisches an ihm zu bemerken. Optisch. Die sprachliche Herkunft ließ sich nicht verleugnen und für genaue Beobachter auch die Mentalität nicht. Um dieselbe mit wenigen Worten zu beschreiben: Toleranz, Jähzorn und ein Humor, den Ausländer, also alle außerhalb Ober- und Niederbayerns, nicht gleich verstanden. Weil man nie wusste, ob er etwas ernst meinte. Alles in allem also ein angenehmes Teammitglied, zumindest für Curd und Dave.

Das Testprojekt war schnell aufgebaut. Es fand in den Räumen und mit den Computern von Curds Unternehmen statt. Lediglich die Videobilder von den bereits bestehenden Überwachungskameras im Zentrum von München mussten elektronisch übermittelt werden. Und dann saßen Jürgen, Curd und Dave, die beschlossen hatten sich alle zu duzen, vor den Bildschirmen und ließen den Computer machen. Immer wieder kam in einem Fenster eine neue Zeile dazu, die ungefähr so aussah:

'Person identifiziert,1553070313, Cam 001-034, neu, ID = M145753'

So ging es ein paar Tage. Dann wurden Zeilen der folgenden Art häufiger:

'M012456 wiedererkannt, 0804090313, Cam 002- 45'

Das war ein erster kleiner Erfolg. Curd und Dave wurden spürbar entspannter.

Curd gab nach ein paar Tagen die Frage ein, wie viele Personen mehr als 5 mal identifiziert wurden. Es waren zehn Personen. Auch dieses Ergebnis war sehr vielversprechend.

Sie ließen sich das Bewegungsmuster der ersten Person anzeigen.

'M034123, 1423070313, Cam 001-14,1424070313, Cam 001-16,1427070313, Cam 001-22,1432070313, Cam 001-23,1445070313, Cam 002-21, 1446070313'

Das war noch nicht so, wie die Überwacher es brauchten, aber man musste ja nur noch den Kameras die Positionen zuordnen. Sie waren mit ihren GPS-Koordinaten gespeichert. Curd gab die Daten manuell in das Fenster einer anderen Software ein und plötzlich erschien auf dem Bildschirm der Stadtplan der Münchener Innenstadt und mit blauen Strichen eingezeichnet der Pfad von M034123 mit der eingeblendeten Angabe von Datum und Uhrzeit. Klickte man auf einen Punkt erschien ein Bild aus der Aufzeichnung. Jürgen blieb die Sprache weg. „Das ist ja phantastisch. Wird das noch automatisch und könnt ihr das für mehrere Personen gleichzeitig anzeigen?“ Dave nickte nur und machte sich eine kleine Notiz.

„Lass mal Andere sehen“, sagte Jürgen.

Der Pfad von M138444 führte von der Leopoldstraße durchs Siegestor und vorbei am Odeonsplatz über die Theatinerstraße zum Franziskaner. Von dort wieder zurück den gleichen Weg. Zwischen dem Eintritt ins Franziskaner um 21 Uhr und dem Wiederaustritt lagen drei Stunden. Curd bemerkte, dass Dave unruhig wurde und wusste sofort warum. Dave wohnte nahe der Startadresse dieses Pfades.

„Klick doch mal auf den Austritt aus dem Franziskaner“, sagte er zu Dave mit teuflischem Grinsen.

„Mach doch selber“, sagte Dave unwirsch.

Das Bild zeigte einen Mann, der sehr schwankend aus der Tür trat. Jürgen sah auf: „Aber das bist doch du, Dave, oder nicht?“

„Lösch das sofort“, zischte der nur und erntete ein schallendes Lachen.

Ein anderes Mal kam die Meldung:

'Person identifiziert, p = 0.5,1131090313, Cam 001-014, neu, ID = M265758'

Da war eine Meldung, die darauf hindeutete, dass die Identifizierung nicht sicher war.

Sie sahen sich das Bild an. Es waren darauf tatsächlich drei Frauen in Burkas zu sehen. Sie waren auf das bekannte Problem gestoßen. Trotzdem gab es auch für eine von ihnen später einen Pfad. Er führte vom Bayerischen Hof in die Maximilianstraße. Aber das System drückte aus, dass die Erfassung eine hohe Fehlerrate aufweisen könnte.

„Zeigt das Bild“, sagte Jürgen. Man sah die Frauen in der Maximilianstraße. Sie waren in diesem Augenblick noch da, wie die Uhrzeit ihnen mitteilte.

Jürgen griff zum Handy. „Servus, Gaby. Schnappt euch doch mal die schwarzen Säulen, die jetzt vor den Kammerspielen sind und kontrolliert die Ausweise. Die werden sie nicht herzeigen können, weil sie keine dabei haben. Dann sagt ihr ihnen was von einem Verdacht, dass mit ihren Kreditkarten betrogen worden war und nehmt sie zur Identifikation mit, okay?“

„Was war jetzt das?“, fragten Curd und Dave fast gleichzeitig.

Jürgen grinste. „Das waren die Miezen von so einem Ölprinz. Der wohnt zur Zeit mit seinem Harem im Bayerischen Hof. Hat ein ganzes Stockwerk reserviert. Die Mäuse dürfen shoppen. Nicht, dass es das Markenzeug in ihrer Heimat nicht gäbe. Aber sie sollen auch mal an die frische Luft. Sie sind natürlich umzingelt von Bodyguards, früher hieß das Haremswächter. Ob die Guards Eunuchen sind, weiß ich nicht.“ Jürgen prustete dabei vor Lachen. „Aber was ich weiß ist, dass sie ihre Schützlinge nicht allein lassen dürfen. Wir dürfen aber nur jemand mitnehmen, wenn wir einen Verdacht haben. Die Bodyguards verdächtigen wir aber nicht. Das gibt richtig schönen Ärger. Der Prinz wird sich beim OB beschweren und der wird nicht wissen, wie er sich herauswinden soll, weil ja alles nach deutschem Recht korrekt ist. Also wird er es auf den Polizeipräsidenten schieben und der wird meinem Chef das Leben schwer machen. Gut, gell?“

„Und deinen Chef kannst du nicht leiden?“

„Doch schon.“

„Was jetzt?“

„Der hält das schon aus.“

„Aber du bekommst selber Ärger.“

„Kein Problem. Ich sag einfach, euer System hat einen Verdacht geäußert und es funktioniert noch nicht so richtig.“

„Aber so etwas kann unser System doch gar nicht, einen Verdacht äußern.“

„Na und. Des weiß der doch ned.“

Curd und Dave schüttelten den Kopf und Jürgen konnte nicht mit dem Grinsen aufhören.

Dave wurde jetzt ungewohnt ernst.

„Hast du was gegen Moslems, Jürgen.“

„Naa (= nein), wieso fragst du?“

„Ja deswegen.“

„Mein bester Freund ist ein Türke. Mit dem geh ich aufn Berg klettern. Der ist prima, außer dass er kein Bier trinkt. Aber die Moslems sollen sich, wenn sie hier sind, nach unseren Gesetzen richten. Und bei uns sind Frauen absolut gleich zu behandeln. Das ist die Antwort.“

„Also keine Burka tragen?“

„Wenn sie es selber wollen, warum nicht. Aber wenn sie volljährig sind, behandeln wir sie, wie wir erwachsene Menschen behandeln. Und dazu gehört auch, dass sie sich selbst ausweisen können und im Falle eines Falles mit uns mitkommen. So einfach ist das.“

„Stört es dich, dass man ihr Gesicht nicht sieht?“

„Als Polizist schon, ansonsten ist mir das Wurscht. So schön sind sie auch wieder nicht. Einmal haben wir bei einer Überprüfung, keine Sorge, das machen bei uns nur Frauen, bei einer ziemlichen Schreckschraube eine hübsche, kleine, silberne Berreta gefunden mit vollem Magazin, 15 Schuss. Sie sagte, das wäre zu ihrem Schutz vor den geilen, westlich verdorbenen Männern. Das ist schon sehr nahe an dem, was wir immer befürchten, oder?“

„Das seh' ich allerdings auch so“, sagte Curd. „Ich möchte nicht in der Haut der Gesetzgeber stecken. Ich wüsste nicht, wie man das ordentlich regeln soll.“

Nach vier Wochen des Testens und Verbesserns wurde der Versuch beendet. Einmal war sogar der Bewegungspfad eines Verdächtigen sichtbar geworden, den Jürgen auf dem Film erkannte. Er nannte ihn Messerkarle, weil er auffällig oft und aggressiv mit seinem Klappmesser herumfuchtelte. Das System bestätigte Jürgens Kenntnis, wo der Typ wohnte und in welche Stammkneipen er regelmäßig ging. Man konnte ihm übrigens nie etwas vorwerfen, außer dass er eventuell zu einer Bande gehörte, die nach Auftrag Autos klaute. Jürgen erzählte, dass die Chefs der Bande in einem der GUS – Staaten residierten und nie nach Deutschland kamen. Sie teilten nur ihren Ausführenden mit, welche Autos oder Ersatzteile gerade benötigt wurden. Das Ausspähen und Stehlen machten dann die lokalen Mitglieder. Hie und da würden sie einen erwischen und aus dem Verkehr ziehen. Sie gestanden sogar die Namen ihrer Auftraggeber. Eine Anfrage bei den Polizeibehörden verschiedener osteuropäischer Staaten führte aber nur zur Meldung, dass diese Personen nicht bekannt wären. Die unteren Chargen hierzulande würden immer wieder schnell nachwachsen. Auch die ausgeklügelten Sicherheitsmechanismen der Luxusschlitten wären nach kürzester Zeit unwirksam. Sie hätten wohl auch Werksspione bei den Herstellern, mutmaßte Jürgen.

Jürgen schrieb einen Bericht, in dem er das System bezüglich seines Potentials zur Verbrechensbekämpfung und zum Schutz der Bevölkerung in den höchsten Tönen lobte. Der Bericht wurde von den Marketingleuten aufgesogen und alle waren zufrieden.

Curd war wieder einmal bei Reutmann.

„Was ist an dem Bericht von diesem Hauptkommissar wahr und was ist erfunden, Herr Hofmann? Bitte berichten sie mir ungeschönt.“

„Erfunden ist gar nichts. Er hat ja auch nichts Konkretes hineingeschrieben. Degelein würde einen prima Politiker abgeben.“

„Gut. Dann frage ich anders: Kann man das System, so wie es ist, guten Gewissens verkaufen?“

„Jein...“

„Eine unwürdige Antwort. Also nein. Und warum nicht?“

„Zwei Punkte sehe ich: Wir haben noch keine wirklich relevanten, großen Mengen getestet.“

„Okay, und zweitens?“

„Die Fehlerquote liegt derzeit bei etwa zwei Prozent. Das ist technisch schon bemerkenswert, aber für einen Einsatz viel zu gefährlich.“

„Wieso gefährlich? Das verstehe ich nicht.“

„Unschuldige und Unbeteiligte werden verdächtigt.“

„Ach so, das meinen sie. Welchen Wert können sie erreichen?“

„So wie es aussieht, kommen wir bald unter 0,5 Prozent.“

„Ihr Entwickler seid zurecht unbeliebt bei uns Managern. 'So wie es aussieht' und 'bald'. Damit kann ich nichts anfangen. Ist denn 0,5 Prozent wenigstens ausreichend ihrer Meinung nach?“

„Bei einer Milliarde gespeicherter Menschen sind das immerhin 5 Millionen Falsche. Ich denke, das ist nicht gut genug.“

„Und was machen sie und ihre Entwickler mit diesem Problem?“

„Besser werden.“

„Meine Güte, Herr Hofmann. Wo müssen wir hin? Nun werden sie doch einmal konkret.“

„Dave und Cora Stein arbeiten an besseren Algorithmen. Ich denke, wir schaffen es, unter 0,5 Promille zu kommen und das wäre akzeptabel. Wenn wir nicht zu viele Burkas haben. Die versauen den Schnitt.“

„Gut, das ist ein Wort. Wir wollen nämlich verkaufen. Damit uns nicht bald das Geld ausgeht. Wir wollen Ihnen ja ihr gutes Gehalt weiter zahlen können.“ So kannte Curd Reutmann gar nicht. Der finanzielle Druck wurde anscheinend größer. Die Shareholder haben wieder einmal gemurrt, weil sie Angst um ihre Dividende und den Wert ihrer Einlagen hatten.

„Ich verstehe. An wen verkaufen?“

„Wir haben beschlossen, die wirklichen Namen nicht zu nennen. Der Kunde heißt bei uns 'Emmental'.“

„Ein Käse, wie witzig.“

„Sie werden alle Käsenamen bekommen. Das ist ein Vorschlag von der Sicherheit und vom Marketing und wurde im Vorstand beschlossen.“

„Ist der Kunde eine Firma oder öffentlich.“

„Der Kunde heißt Emmental. Und mit ihrer Fragerei machen sie sich höchstens verdächtig.“

„Und sind sie sicher, dass die ordnungsgemäß damit umgehen werden?“

„Oje, Herr Hofmann. Erzeugen sie doch bitte keine Probleme, wo keine sind. In den Verträgen mit uns steht eine Klausel, die den Kunden verpflichtet, die jeweiligen Landesgesetze strikt einzuhalten. Es ist aber nicht unsere Aufgabe, das zu überprüfen. Wir könnten das auch gar nicht, weil wir als private Firma nicht dazu autorisiert wären.

„Gefällt mir nicht.“

„Nun ist aber gut. Überlassen sie das mal den Fachleuten.“

„Die Moral?“

„Ich verstehe sie ja. Aber wir sitzen beide in diesem Boot und das auch noch freiwillig. Für grundsätzliche Bedenken ist es jetzt eindeutig zu spät.“

„Haben sie denn Einfluss darauf, wer das System bekommt?“

„Grundsätzlich ja.“

„Also nicht wirklich?“

„Wenn ich mich gegen einen lukrativen Auftrag stellen würde, wäre das so ziemlich meine letzte Aktion auf diesem Posten. Das lass' ich lieber. Es kommt bestimmt nichts Besseres nach.“

„Vielen Dank für die Offenheit, Herr Reutmann. Ich weiß das sehr zu schätzen.“

„Übrigens, Herr Hofmann, Es gibt noch einen Beschluss des Vorstands. Der hat uns sehr viel Mühe und Zeit gekostet und auch noch viel Geld, weil wir eine äußerst renommierte, also schweineteure Beratungsfirma hinzugezogen haben..“

„Sie machen mich neugierig.“

„Sie erfahren es als Erster außerhalb des Vorstands. Aber bitte: Absolutes Stillschweigen. Versprochen?“

„Ja, natürlich. Wenn es nichts Strafbares ist.“

„Quatsch. Ihr Baby wird 'Minerva' heißen.“

„Minerva, unter anderem die Schutzgöttin Roms?“

„Sie sind ja richtig gebildet oder machen sie Kreuzworträtsel? Ja, genau die und genau deswegen.“

„Originell.“ Beide mussten lächeln.

„Na ja, einen Namen braucht das Produkt schon. Und er könnte schlimmer sein“, Reutmann lächelte weiter. „Einer hat sogar SWAPAP vorgeschlagen, 'System to Watch Persons at All Places'. Gut, nicht?“

„Ich bin beeindruckt von der qualifizierten Arbeit der Vorstände.“

„Nun werden sie mal nicht sarkastisch. Schließlich gehöre ich auch dazu.“

„Verzeihung, Herr Reutmann. Da bin ich wohl übers Ziel hinausgeschossen.“

„Schon gut. Sie haben ja recht. Aber was sollen wir armen Abgehobenen auch beitragen. Wir haben ja keine Ahnung davon, was ihr Fachleute macht. Für irgendwas müssen wir gut sein.“

„Die richtigen Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen.“

„Daran erinnere ich mich manchmal. Aber richtig ist heute nur, wenn einer seinen Platz behalten kann oder noch höher aufsteigt. Und das bedeutet zu allererst: Keine Fehler machen. Diese Priorisierung ist heute weit verbreitet. Die Anpassung an die Wirkmechanismen des Systems hat sie erzeugt.“

„Aber Fehler muss man doch nicht fürchten. Im Gegenteil: Am meisten lernt man doch daraus.“

„Grundsätzlich richtig. Aber sie vergessen das Gerangel an der Spitze der Pyramide. Ein Fehler ist das Beste, was einem Konkurrenten in den Schoß fallen kann.“

„Aber so kann doch nie etwas Vernünftiges herauskommen.“

„Dafür haben wir Leute wie sie. Die idealistisch genug sind weiterzumachen, auch wenn die Manager sich nur um sich selbst kümmern. Sie tragen ein großes Unternehmen. Wir sind auswechselbar.“

„Komisches System.“

„Darüber hab ich viel nachgedacht. Aber es ist wohl eine direkte Folge der Größe. Komplexe Produkte wie Autos oder Flugzeuge kann man nicht in einem mittelständischen Betrieb herstellen.“

„Das ist mir klar. Ich denke, das Problem sind die verschiedenen technischen Disziplinen, von der Computer – Software über die Elektronik bis hin zum Bearbeiten von Materialien oder noch schlimmer die Mischkonzerne. Wenn die Töchter aus völlig verschiedene Branchen sind, können die Manager nur noch auf die Finanzen schauen, schon weil sie vom Geschäft nichts verstehen können. Es geht also bei solchen Konzernen ausschließlich ums Geld.“

„Aber sie können mit ihrer Stärke kranke Töchter wieder gesund machen, was die alleine nicht schaffen würden.“

„Sie könnten, ja, das stimmt. Aber sie tun es nicht. Kranke Töchter werden abgestoßen oder abgewickelt, ein Euphemismus für 'pleite gehen lassen und Mitarbeiter loswerden', damit der Verdienst nicht geschmälert wird und die Shareholder nicht auf weitere Millionen verzichten müssen.“

„Möglicherweise gibt es ohne diesen unangenehmen Vorgang keinen Fortschritt. Aber denken Sie sich eine neue Ordnung aus, Herr Hofmann und schreiben sie ein Buch. Ich werde das dann genüsslich im Ruhestand auf meinem Ohrensessel lesen und denken, der hat aber recht.“

„Schon verstanden. Also machen wir weiter.“

„Bis zum nächsten Mal, Herr Hofmann. Ich freue mich schon darauf.“ Reutmann tat Curd tatsächlich ein wenig leid. Er dachte und fühlte richtig und er wollte diese Rolle haben, um etwas besser zu machen. Und jetzt spürte er, dass auch er nur ein Rad in der Maschinerie ist, die keinen Schöpfer hatte, sondern eine evolutionäre Entwicklung war. Sie würde Bestand haben, so lange sie für die Mächtigen so gut lief.

„Ich habe ein halbes Promille versprochen, in ein paar Wochen.“

„Bist du wahnsinnig? Das schaffen wir nicht.“ Dave drehte die Augen zur Decke bei so viel Ignoranz.

„Was meinst du, Cora?“

Cora, klein, zäh und extrem sportlich, ihre Leidenschaft war Freeclimbing, grinste. „Willst du uns ausspielen? Gelingt dir nicht.“

Curd dachte, es würde schon gelingen, so verschieden wie die beiden sind.

„Weich mir nicht aus. Was ist deine Meinung?“

Sie sah Dave nicht an, also gab es auch keine Hierarchie zwischen beiden. Daves genialisches, anarchisches Gehirn traf auf nüchterne Intelligenz und unbedingte Zielstrebigkeit. Cora sortierte manche von Daves Ideen als unbrauchbar aus, aber es blieben noch immer genug für ausgezeichnete Lösungen.

Nach eine kurzen Pause antwortete sie. „Dave hatte die Idee, mit Hilfe von Algorithmen wie sie in der Zukunftsforschung benutzt werden, die einzelnen Parameter besser zu verknüpfen. Den tatsächlichen Erfolg müssten wir aber in einem Feldtest ermitteln.“

„Wenn ich Zukunftsforschung schon höre“, wandte Curd ein. „Die haben ja noch nie recht gehabt.“

„Die haben aber auch keine belastbaren Basisdaten. Dave wollte nicht daran gehen, weil die Methode für uns sehr mühsam und aufwändig ist. Dave liebt mehr das Elegante, was für ihn gleichbedeutend mit 'schnell erledigt' ist. Er hat einfach zu viele Ideen und hat Angst sie wieder zu vergessen, wenn er sie nicht gleich umsetzen kann.“

„Was ist die Lösung?“

„Wir, das heißt, Kevin, Bernd und ich, machen das und fragen Dave nur, wenn wir nicht weiterkommen. In ein paar Wochen haben wir das.“

„Ich bin nur einverstanden, wenn ihr mich damit in Ruhe lasst. Ich muss die Datenbank überdenken. Mit der kommerziellen Version geht mir das zu langsam.“ Eifersucht war nicht Daves Triebkraft. Sein höchstes Glück war es, über seine Zeit selbst zu bestimmen und sie nicht mit irdischen Problemen zu verschwenden.

„Also dann, meine Goldstückchen, macht das so. Und wenn es fertig ist, feiern wir.“

„Du denkst aber nicht an eine Grillparty an der Isar, oder?“ Dave hasste nichts mehr, als dieses grölende 'sich um ein Feuer scharen'. Das war für ihn der Ausdruck einer atavistischen Verhaltensprogrammierung, die in seinen Genen gottlob nicht mehr präsent war.

„Nein, ich wollte Champagner und Beluga Malossol Kaviar auftischen und eine Striptease – Tänzerin soll dann aus einer Torte hervorspringen. Das ist doch ein Riesenspaß?“

„Igitt, allein schon so etwas zu denken und dann auch noch zu äußern ist bezeichnend für deine verkommene Geisteshaltung. Arbeite an dir, Curd, arbeite hart. Du kannst es besser.“

„Was ist mit Striptease? Ich muss doch sehr bitten, meine Herren. Und das in Anwesenheit einer Frau.“

Die das sagte, stand plötzlich und unerwartet in der Tür, groß, blasshäutig und schwarzhaarig in einem ebenso tief schwarzen, eng sitzenden Hosenanzug, korrekt bis zum Hals mit einer Brosche geschlossener, grauer Seidenbluse und undurchdringlichem Gesichtsausdruck. Sie sah aus, wie die oberste Sicherheitschefin des MI6 in einem James Bond - Film. Aber Dr. Bietigmann war nur die Sicherheitschefin des Projekts. Ihr spontaner Besuch war ungewöhnlich, weil er noch nie vorgekommen war. Irgend etwas Besonderes musste passiert sein. Alle drei waren kurz sprachlos und scannten ihre letzten Tätigkeiten nach Fehlern durch. Cora fand als Erste die Sprache wieder.

„Das war eine ironische Bemerkung von Dr. Hofmann ohne Bezug zum Projekt, Frau Dr. Bietigmann.“

Man spürte auch bei Cora, dass sie großen Respekt hatte und sich nicht sicher war, ob die 'Frau zu Frau' – Regeln bei Sarah Bietigmann relevant waren. Sie bekam auch keinen Hinweis darauf.

„Zur Sache. Wir haben ein Problem zu lösen, ein technisches, also kein wirkliches. Unsere Serviceleute bei Emmental können das noch nicht richtig. Ich denke, sie verstehen das System nicht genügend.“

Curd fühlte sich wie von einer Dampfwalze überrollt. „Welche Serviceleute denn? Und was heißt, die haben ein Problem bei Emmental? Ich verstehe gar nichts mehr, und ihr?“ Er hatte sich fragend an Dave und Cora gewandt, die nur entgeistert den Kopf schüttelten.

„Wir beide, Herr Dr. Hofmann, fliegen morgen früh nach Frankfurt und lösen das Problem. Der Kunde ist schon misstrauisch, was die Funktionstüchtigkeit angeht.“

„Jetzt mal der Reihe nach. Es ist also ein System bei einem Kunden, genannt Emmental?“

„Hab ich mich in irgendeiner Weise unklar ausgedrückt?“

„Und es gibt von uns Serviceleute, die dort tätig sind?“

„Das könnte man aus meinen Worten korrekt schließen, ja.“ Sie lachte kein bisschen dabei.

„Und wer sind diese Serviceleute, wenn ich fragen darf, und wer hat sie eingearbeitet?“

„Serviceleute eben. Eingearbeitet hat sie Herr Lorenz. Nur, um ihre Erinnerung aufzufrischen, Paul Lorenz aus ihrem Team.“

„Davon weiß ich aber nichts.“

„Kann schon sein. Ist aber nicht mein Problem und tut auch nichts zur Sache.“

„Aber das System funktioniert doch noch gar nicht mit der nötigen Sicherheit.“

„Sie können jederzeit updaten. Steht im Vertrag.“

„Aber, aber....“

„Ihr Flug ist 0630 morgen früh, Ticket am Lufthansa - Schalter Terminal 2. Seien sie pünktlich.“

„Wer ist noch dabei?“

Sarah Bietigmann seufzte ungehalten. „Mein Satz lautete: 'Wir zwei fliegen morgen' und so weiter.“

„Was muss ich vorbereiten?“

„Vergessen sie ihr Großhirn nicht. Also dann, bis morgen.“ Und weg war sie. Lautlos.

„Holt mir sofort Paul.“

Cora kam mit ihm zurück.

„Du hast den Service eingearbeitet? Von wem hattest du den Auftrag dazu?“

Paul Lorenz war Physiker, einer von der typischen Art der in sich gekehrten Experimentalphysiker ohne erkennbare andere Interessen. Kein Nerd im üblichen Sinne, dazu fehlte ihm der Mut, ein Außenseiter zu sein. Er war optimal angepasst, seine sandfarbenen, kurzen Haare, der blasse Teint und der ebenfalls sandfarbene Anzug machten ihn nahezu unsichtbar. Seine sachlichen Präsentationen wurden vom Management geschätzt. Zeigten sie doch, dass er keine Ambitionen auf eine Karriere hatte und damit völlig ungefährlich war.

„Den Auftrag hatte ich vom Vertriebsleiter, dem Josef Müller.“

„Und wen hast du eingearbeitet?“

„Drei Techniker waren das aus seiner Organisation.“

„Kennen wir die?“

„Nein, ich hab die vorher noch nie gesehen.“

„Denkst du, die haben das alles verstanden?“

„Nein, sicher nicht. Dazu haben sie zu wenig Basiswissen. Ich hab ihnen die Bedienung erklärt und in groben Zügen, wie die Systemteile zusammenarbeiten. Ich hatte aber das Gefühl, es interessierte die nicht besonders, wie es funktioniert.“

„Na prima.“

„Die Sicherheitsabteilung hat mir mitgeteilt, dass diese Leute auch gar nicht so genau verstehen sollen, wie das System aufgebaut ist.“

„Das ist ja toll. Wir sind so geheim, dass wir selbst nicht wissen, was es ist.“ Dave lachte schallend.

„Und wo sind diese Leute jetzt?“ fragte Curd weiter.

„Das weiß ich nicht. Der Müller hat nur gesagt, die Einarbeitung sei ein Teil der Verkaufsvorbereitung.“

Paul wusste offensichtlich nichts von Emmental und Curd beschloss zu schweigen.

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