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Sechs

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Curds Erfolg kam auf kuriose Weise zustande. Er hatte lediglich in den Büros von Emmental einmal kurz einen Mann gesehen, dessen Aussehen sehr markant, sehr braun, aber indogermanisch war. Er war also kein Afrikaner, kein Asiate und kein Europäer, ein Inder oder Pakistani vielleicht. Er konnte ihn schon nach zwei Millisekunden nicht leiden. Grund war seine arrogante Selbstsicherheit in der Körpersprache, die ausdrückte, dass er sich allen überlegen fühlte.

Wieder zu Hause benutzte er Minerva und forschte nach Bewegungspfaden ein- und ausgehend von Emmental. Er wurde schnell fündig. Und einen Namen hatte Minerva dem Unsympathischen auch schon zugeordnet. Er hieß Pravin Raichand. Er bat Dr. Bietigmann zu sich und nannte ihr den Namen. Sie notierte ihn.

Dave platzte herein und strahlte. „Wir haben sie, Frau Dr. Bietigmann.“

Bietigmann war etwas ungehalten und fragte: „Was haben sie?“

„Na sie, sie sind im System. Schauen sie mal.“ Er setzte sich an Curds Bildschirm und klickte ein paar Mal. Sie sahen einen Pfad.

„Wollen Sie wissen, wo sie überall gewesen sind?“, grinste Dave.

„Das weiß ich selber. Bitte löschen sie mich aus dem System.“

„So einfach ist das nicht“, wandte Curd ein.

„Es muss aber sein und erzählen sie mir nicht, dass sie nicht in der Lage sind, mich zu entfernen.“

„Natürlich können wir das“, beruhigte sie Dave. Und nach ein paar weiteren Klicks sagte er: „So, bitte. Sie sind nicht mehr existent.“

Einige Tage später kam sie wieder in Curds Büro. „Wir wissen jetzt, wer Jupiter ist.“

„Und?“

„Braucht sie nicht zu interessieren. Der Name, den sie gefunden haben, hat uns hingeführt. Nur so viel, Jupiter und Edam sind identisch.“

„Oha. Und was machen wir jetzt?“

„Unsere Anwälte sind schon informiert. Emmental wird diesen Kunden nicht beliefern dürfen.“

„Wissen die das schon?“

„Ich denke nicht. Und sie sollten bald wieder in Frankfurt sein, ich möchte die Reaktion erfahren.“

„Die würde mich auch interessieren.“

Wie beim letzten Mal kam Dave überraschend ins Büro. Heute grinste er geradezu diabolisch. „Ich habe gesehen, dass sie bei Curd sind, Frau Dr. Bietigmann. Ich muss ihnen leider sagen, dass sie wieder im System sind. Die alten Pfade sind zwar weg, aber sie bewegen sich ja immer noch und schon haben wir sie wieder.“

„Löschen, löschen, aber schnell.“

„Dann werden sie bald wieder da sein.“

„Kann man da nichts machen?“

„Eine Funktion einbauen, die nach ihrem Namen sucht und dann die Daten löscht? Das wäre aber recht problematisch. Wo soll das hinführen? Über kurz oder lang bekämen wir dann eine riesige Liste solcher Namen, die das System nicht speichern soll. So eine Funktion sollten wir nicht einbauen. Sie würde dazu führen, dass Minerva wertlos wird. Und vergessen sie nicht: Wenn wir ihren Namen nicht haben, sondern nur eine ID, können wir nichts löschen, weil es keine Kriterien gibt, nach denen wir suchen könnten. Aber auf den Bildern ihres Bewegungspfades sind sie zu identifizieren. Von jedem, der sie persönlich kennt oder ein Foto von ihnen hat.“

„Das ist eine Katastrophe.“

„So funktioniert das System.“

„Was können wir tun?“

„Nicht in falsche Hände geben“, sagte Curd.

Einige Tage später berichtete Karl, dass es auf der Vorstandssitzung heiß hergegangen wäre, aber man sich für den Auftrag an Edam entschieden hatte.

„Was ganz merkwürdig war, Dr. Bietigmann hat sich sehr darum bemüht, dass der Vorstand gegen diesen Auftrag entscheidet.“

„Sehr interessant. Wer ist denn nun Edam?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“

„Lieber Karl, ich brauche dringend ein Gespräch mit den Chefs. Es geht um Grundsätzliches.“

„Kannst du genauer werden?“

„Es geht um die Datenbankfunktionen.“

„Davon versteh' ich nichts. Und die Bosse noch weniger.“

„Sie werden verstehen, was ich ihnen sagen will.“

„Okay, ich organisier' das.“

„Was ist denn so wichtig und dringend, Herr Hofmann?“, fragte als erster Professor Wienand. Sie waren alle da und sie waren ungehalten wegen der Störung ihres durchgeplanten Tagesablaufs.

„Es geht um die Frage, wie wir mit den Datenbankfunktionen umgehen sollen.“

„Sie wollen doch nicht im Ernst sagen, dass wir uns darum kümmern sollen.“

„Doch, es ist eine wichtige Entscheidung zu treffen.“

„Also gut, versuchen sie es uns zu erklären.“ Reutmann hasste es, wenn eine Besprechung drohte, emotional zu werden.

„In der Datenbank selbst sind alle Personendaten gespeichert. Es ist eine relationale Datenbank, so dass man die Daten einer Person mit vielen anderen Kriterien verknüpfen kann, auch mit anderen Datenbanksystemen.“

„Halten sie jetzt eine Vorlesung über Informatik, oder was?“ Der CFO, seines Zeichens Diplom-Kaufmann Werner Förster und entsprechend elegant gekleidet, war offensichtlich angewidert, weil man seine wertvolle Zeit verschwendete mit kleinlichen, technischen Details. Förster hatte eine ausgeprägte Antipathie gegen alle Naturwissenschaftler, die er abschätzig Techniker nannte und die in seinen Augen vom wirklichen Leben nichts verstanden und nie etwas zu Ende brachten. Curd ließ sich nicht irritieren und fuhr fort.

„Wenn man auf diese Ebene direkten Zugriff hat, kann man alles machen: Löschen, Hinzufügen Manipulieren eben. Deswegen haben wir über diese Schicht Funktionen über dem reinen SQL aufgebaut, die die Datenbank nicht nur schützen, sondern in der wir bestimmen, was man damit machen kann. Kein Kunde, kein Anwender kann diese Ebene durchdringen und auf die Originaldaten direkt zugreifen. Außerdem sind die Originaldaten verschlüsselt.“

„Ja, klingt doch gut. Und wo ist das Problem?“ Wienands Einwurf wurde heftig benickt. Sie alle waren in Eile, wollten sich wichtigen Dingen zuwenden und warteten immer noch auf den Grund des Treffens.

„Ich gebe ihnen ein Beispiel, auf das wir gestoßen sind. Wir wollten unsere eigenen Leute, die sich ja in München bewegen, so löschen, dass sie nicht mehr erfasst werden. Das war nicht einfach, weil das System sie immer wieder findet. Wir haben das gelöst, weil wir mit der Datenbank ja alles machen können. Genau diesen berechtigten Wunsch hat doch zum Beispiel auch ein Kunde, wie die Polizei oder unser Verfassungsschutz, wenn er das System hätte. Also müssten wir ihm diese Funktion auch geben. Wie jedem anderen, der seine eigenen Leute schützen will.“

„Dann bekommen die eben nur die Daten, die sie auch selbst aufgenommen haben.“

„Nein, das würde unserem System den entscheidenden Vorteil rauben. Gerade weil es weltweit und selbstständig Daten sammelt, ist es so interessant, ähnlich wie bei Facebook. Jeder, der lokale Videogeräte einsetzt, liefert automatisch Daten ins gesamte System. Aber wenn wir allen Kunden Funktionen geben, die eine Veränderung der Daten erlauben, dann artet das sehr schnell in ein munteres und unkontrollierbares Manipulieren aus, letztlich im Chaos. Damit wäre Minerva unbrauchbar.“

„Was schlagen sie vor?“ fragte Reutmann.

„Es darf keine Funktion geben, die eine Veränderung der vom System erzeugten Daten ermöglicht.“

„Können wir Minerva so ausliefern, dass die Funktionen, die erlaubt werden, kundenspezifisch sind?“

„Grundsätzlich ja. Aber richtig kritisch ist ja nur das Verändern der Basisdaten. Und das können wir niemandem erlauben. Stellen Sie sich vor, Kunde A bemerkt die Manipulation bei einer für ihn interessanten Person, die Kunde B verschleiern wollte. Das wäre tödlich für Minerva, weil das Vertrauen ins System komplett zerstört wäre. Nein, wir sollten es nicht zulassen.“

„Okay, machen sie es so, Herr Hofmann.“

„Ich glaube nicht, dass sie die Tragweite verstanden haben“, beklagte sich Curd bei Dr. Bietigmann in der Lobby. Karl trat hinzu. „Stör ich?“

„Ich teile ihre Bedenken“, sagte die Sicherheitschefin gerade.

„Weil sie wissen, wer Edam ist?“

„Edam ist eigentlich harmlos, aber unkontrollierbar.“

„Weißt du eigentlich, wer Edam ist, Karl?“

„Nein, aber du kannst es herausfinden, weil du nämlich bald hinfährst.“

„Ich? Wohin?“

„Glauben sie nicht, dass sie dann wissen, wer es ist“, sagte Dr. Bietigmann orakelhaft. „Sie fahren nach Phuket.“

„Bitte wohin?“

„Patong auf Phuket.“

„Das ist doch diese schreckliche Stadt, in der die Deutschen und Engländer fett und schwitzend vom übermäßigen Biergenuss in Unterhemden in den Bars herumhängen und meinen, die kleinen Thaimädchen fänden sie toll. Und da soll ich hin?“

„Genau die und noch eine kleine Überraschung: Degelein fährt mit ihnen.“

„Ich hab einen Bericht im Fernsehen gesehen, Patong und Pattaya, gruselig. Was, wer? Wieso Degelein?“

„Aber du kannst dir 'ne Breitling für ein paar Euro kaufen.“ Karl grinste.

„Und dann am Zoll in Deutschland verhaftet werden. Nein, danke. Wieso Degelein?“

„Der ist jetzt Sicherheitsberater. Weil er sich mit Minerva dafür qualifiziert hat.“

„Da wird er aber stolz sein.“

„Erst müssen sie nach Frankfurt.“

„Ich fliege lieber gleich nach Phuket und mache dort eine Woche Urlaub.“

„Geht nicht. Ist alles schon geplant.“

„Und die Tickets liegen am Schalter?“

„Genau.“

In Frankfurt war es weiterhin langweilig. Niemand schien aufgeregt wegen des geplatzten Auftrags. Mohnkötter erzählte nur davon, wie toll das System beim LKA lief und Benedikt machte sich rar. Dass er ihn ein paar Mal am Flur traf, erhellte lediglich die Tatsache, dass er noch da war. Mit dem Gefühl größtmöglicher Zeitverschwendung fuhr er zurück und packte seine Sachen für Phuket. Bei Socken und Pullover war er sich nicht sicher, ob sie nötig waren. Aber wer so weit reiste, immerhin ein gutes Viertel des Erdballs musste umrundet werden, konnte einfach nicht ohne Pullover losfahren.

Er checkte um zwölf Uhr nachts ein, am Terminal 2 waren kaum Menschen zu sehen. Degelein fand er in einem Aquarium mit trübem Inhalt, Raucherkabine genannt, mit einer vollen und zwei bereits geleerten Dosen Bier. Er brauche den Schlaftrunk, meinte er. Langsam schlenderten sie zum Gate, wo der Jumbo mit dem lila Zeichen auf sie wartete. Drinnen war es heimelig exotisch und alles lila und gelb. Freundliche, lächelnde Stewardessen im lila-gelben Seidensari gaben ihnen einen Vorgeschmack auf das Land der immer lächelnden und entspannten Menschen.

Nachts fliegen fand Curd unangenehm. Obwohl er einen Fensterplatz hatte, sah er nichts. Schon weil er freundlich lächelnd gezwungen wurde, die Jalousie zu schließen. Auf seine Frage nach dem warum, erhielt er die zuvorkommende Auskunft, dass das Vorschrift wäre. Wahrscheinlich sollten die Terroristen über Afghanistan den Flieger nicht sehen können, war Curds Erklärung dafür. Aber er hielt sie selbst für ziemlich dämlich. Die Lichter im Flugzeug wurden ausgeschaltet. Man hätte die Leselampen nutzen können, aber er hatte nichts zum Lesen. Das abgegriffene Exemplar der Thai Airways unterschied sich in nichts von den üblichen 'Die Welt ist ja so wunderbar' - Broschüren aller Fluggesellschaften. Als er aus einem unruhigen Schlummer nach gefühlten 10 Minuten durch Betriebsamkeit an Bord geweckt wurde, war es taghell, wie er durch die Schlitze seiner Jalousie sah. Endlich kam das Kommando, dieselben zu öffnen. Die Uhr sagte ihm, dass es sechs Uhr morgens war. Er hatte also über 5 Stunden dösend vor sich hinvegetiert.

Draußen weit links sah er hohe Berge, sehr hohe Berge. Er versuchte, seine Geografiekenntnisse abzurufen und kam zu dem Schluss, das es sich tatsächlich um den Himalaya handeln musste. War der ganz Hohe vielleicht sogar der Everest? Unter ihnen eine Art Kulturlandschaft und dann ein breiter vielverzweigter, schmutzig brauner Strom. Als der Pilot ihnen verkündete, dass sie gerade über Kalkutta fliegen würden, fiel es ihm ein: „Kalkutta liegt am Ganges...“. Das doofe Lied verfolgte ihn als Ohrwurm die nächsten Stunden.

Nach einem kontinentalen Frühstück wurden die Triebwerke plötzlich ganz leise. Curd schaute zu Jürgen, ob der auch erschrocken war. Aber der hatte das gar nicht registriert. „Wir verlassen jetzt unsere Reiseflughöhe...“ Ach so. Unter ihnen nur Wasser. Eine halbe Stunde später schwebten sie über eine weit ausgedehnte Stadt herein und landeten. Was war das doch für eine andere Art zu reisen als zu Marco Polos Zeiten, dachte Curd. Und fand, angesichts der coolen Gesichtszüge seiner Mitreisenden, dass ihnen die Ehrfurcht vor den revolutionären, technischen Errungenschaften völlig fehlte. Dabei gab es die erst seit lächerlichen 60 Jahren.

Beim kilometerlangen Rollen zum Gate schloss er aus dem diesig verhangenen Himmel, dass der Pullover doch eine richtige Entscheidung war. Sie hielten an einer Außenposition. Als Curd auf die Treppe trat, wurde er von glühend heißer Luft aus dem Triebwerk angeblasen. Zumindest gab ihm sein Gehirn diese spontane Erklärung ein. Als sich das aber auf dem Weg zum Bus nicht änderte, wurde ihm nach und nach klar, dass diese Temperatur eine globale Eigenschaft dieser Gegend sein musste. Der Pullover verschwand verstohlen in seiner Tasche. Jürgen grinste nur.

Das Flughafengebäude von Bangkok, das hier Krung Thep hieß, war mehr als ernüchternd. Hunderte von Metern trostlose Betongänge, kein Blick nach außen und eine ewige Suche nach dem richtigen Gate für den Inlandsflug nach Phuket. Jürgen und er sparten sich einen Besuch bei den eingestreuten Shopping – Centern, es gab ohnehin nur den üblichen Kram. Nur die Angestellten waren wenigstens zumeist freundlich lächelnde Asiatinnen.

Erstaunlicherweise war der Flieger nach Phuket wieder eine 747 und auch noch ziemlich voll. Er fragte die Stewardess, ob die alle nach Phuket wollten und erfuhr, dass der größte Teil auf der Rückreise nach München sei und Phuket nur ein Zwischenstopp wäre. Plötzlich deutete Jürgen ganz hektisch nach unten. „Schau mal, James Bond.“ Bevor sie die wirkliche James Bond – Insel unter den vielen des Phang Nga - Archipels identifizieren konnten, machte das Flugzeug eine steile Kurve hinaus auf das andamanische Meer, kehrte mit einer langen Schleife wieder um und setzte zur Landung auf einer Runway an, die für Spielzeugflieger gemacht war und nicht für Jumbos. Aber der Pilot schaffte es, keinen Baum und keines der Gebäude umzureißen.

Diesmal ließ Curd den Pullover in der Tasche. Der Taxifahrer, der sie als Erster erreichte, erhielt den Zuschlag und sie wurden in einer auf 15 Grad heruntergekühlten Limousine nach Patong kutschiert. Curd fror erbärmlich, der Fahrer sagte nur 'nice and cool' und grinste stolz. Den Pullover zog Curd nicht an. Kutschiert war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Der Fahrer fuhr rücksichtslos auf der linken Straßenseite an den vielen Menschen, Hunden und Hühnern vorbei, die am Straßenrand ihrem Tagesgeschäft nachgingen. Dann, auf einer Art Autobahn wurde der Anblick westlicher, vor allem in Bezug auf die Banken, Immobilien - und Shopping Center, die am Rande pilzartig wucherten. Curd war es mittlerweile eingefallen, dass die Engländer lange in Thailand waren und den Linksverkehr und eine funktionierende Verwaltung hinterlassen hatten. Nach einer guten halben Stunde bogen sie durch das Portal ihrer Bleibe, dem Diamond Cliff Ressort. Vornehme Stille umgab sie, ganz leise untermalt von einer dezenten Kling Klong – Musik. Immer noch besser als bayrische Volksmusik, fand Curd. Die Hitze war die Gleiche. Dass das Personal dunkle Anzüge tragen musste, fand Curd als eine der Gemeinheiten gegenüber der Bevölkerung, die die westlichen Besatzer hierher gebracht hatten.

Die Zimmer waren wie erwartet vom Feinsten. Sogar einen eigenen Whirl Pool fand Curd. Die Temperatur und Luftfeuchte war auf internationale Werte eingestellt. Mittlerweile war es halb sechs Uhr und Curd saß auf der zimmereigenen Terrasse und versuchte alle exotischen Einzelheiten aufzunehmen. Plötzlich betätigte jemand den Dimmer und um Viertel nach Sechs war es stockdunkel. Curd erlebte zum ersten Mal live, wie der Tag südlich des Wendekreises des Krebs, also nahe am Äquator, ablief: Zwölf Stunden hell und zwölf Stunden dunkel. Die Temperatur änderte sich aber nicht, eine Außenanzeige sagte ihm, dass es 32 Grad bei 78% Luftfeuchte wären und er befürchtete, dass es auch so blieb. Er entschied sich für ein T-Shirt und verzichtete auch auf Socken. Dann klingelte er bei Jürgen und fragte ihn, ob er hier essen wolle oder ob sie lieber in die Stadt bummeln gehen sollten.

Sie schlenderten an der breiten Hauptstraße ins Zentrum, rechts konnte man im Dunkeln die Vergnügungsangebote für Sonne und Wasser ahnen, links war alles voll von roten Tuktuk – Taxis, die auf Kundschaft warteten, dahinter eine Häuserreihe, belegt von Shoppingmöglichkeiten jeder Art und Marke. Vor allem die edlen Marken waren überall präsent. Sie gingen in eine Gasse nach links und schon nach ein paar Metern änderte sich die Szene komplett. Hier waren sie tatsächlich, die Bars und auch die schwitzenden Unterhemdenträger umringt von kleinen mal hübschen, mal weniger ansehnlichen Thaimädchen, alle zwanzig bis dreißig Jahre jünger als die großen, dicken, weißen Herren der Schöpfung. Zwei davon kamen auf sie zu und radebrechten in gerade noch verständlichem Englisch, dass sie Papa Curd und Papa Jürgen gerne für die Dauer ihres Aufenthalts begleiten würden. Sie lehnten beide höflich ab. Jürgen deutete auf ein Etablissement, das Massagen anbot, auch mit Entspannung. Curd meinte, dass Massagen doch immer auch der Entspannung dienten. Jürgen schüttelte nur den Kopf über so viel Naivität und verdrehte die Augen nach oben.

„Ich probier' das mit den Massagen doch lieber im Hotel“, meinte Curd nach einiger Überlegung.

Noch ein bisschen weiter öffnete sich eine Art riesiger Marktplatz mit einem wuseligen Treiben von Menschen aller Größen und Hautfarben. Es verbreitete sich ein Duft, der alle Sinne umgarnte. Hier waren die berühmten Straßenküchen. Die Globetrotter zu Hause hatten ihnen empfohlen, hier zu essen. Sie wählten hemmungslos aus der unglaublichen Vielfalt unbekannter Köstlichkeiten aus, bestückten sich mit ein paar Dosen Singha – Bier, strebten einem Sitzplatz zu und genossen. Ein paar Sachen waren so scharf, dass Curd einen Schluckauf bekam und schnell mit 'plain lice' neutralisieren musste. Aber alles war phantastisch zubereitet und offensichtlich absolut frisch. Ein guter Einstand fanden beide. Wohlgelaunt nach sechs Dosen Bier für jeden, schlenderten sie wieder ins Hotel und fanden beim Rückweg die Kontaktbars eigentlich ganz romantisch und gemütlich. Mittlerweile waren dort auch weniger Menschen und die hatten sich meist zu Paaren zusammengefunden und schienen glücklich und zufrieden.

Sie nahmen an der Hotelbar noch ein Bier und beschlossen dann zu Bett zu gehen. Es war ein wenig früh für Curd, denn in Deutschland war es erst sechs Uhr. Aber der Tag war lang, das Singha - Bier tat das Übrige und so schlief er tief und traumlos beim gleichmäßigen Rauschen der Klimaanlage. Das Klingeln des Telefons kam um drei Uhr morgens - nach deutscher Zeitrechnung. Hier war es leider schon neun Uhr.

„Was ist los mit dir?“, lachte Jürgen ins Telefon. „Wir haben um Zehn einen Kundentermin.“

Erschrecken und hektisches Duschen wurden gefolgt von der Ratlosigkeit, was er anziehen sollte. Er entschloss sich für Anzug und T- Shirt und sah später, dass er damit gar nicht falsch lag. Abgeholt wurden sie nach einem schnellen Frühstück von einem Polizeiauto mit zwei korrekt uniformierten, hübschen Thaipolizisten. Deren Höflichkeit und Zuvorkommenheit beruhigte die aufkeimende Sorge, dass etwas falsch laufen könnte. Die Straße, in die sie fuhren, lag ein wenig am Berghang und hieß Khlonbangphrurian, wie Curd amüsiert feststellte. Das Gebäude war schlicht und klimatisiert. Es hätte jede Polizeistation überall auf der Welt sein können.

Ein älterer, ebenfalls chic uniformierter Polizeibeamter stellte sich als Major Manitho Phatipatanawhong vor. Während Curd vergeblich versuchte, den Namen im Geist zu wiederholen, sprach der in gutem Englisch weiter: „Herzlichen Dank, dass sie sich die Zeit genommen und die Mühe nicht gescheut haben uns zu besuchen.“

„Keine Ursache“, sagte Curd. Jürgen nickte nur freundlich.

„Ihr System ist großartig. Schauen sie her, wir haben sogar sie schon aufgespürt.“ Er zeigte ihnen den Pfad und das Bild, auf dem sie sich mit den leicht bekleideten Thaimädchen unterhielten.“

„Wir haben nichts mit den beiden gemacht“, sagte Curd in Panik.

„Das wissen wir schon, keine Sorge. Die Zeit ihres Kontakts bis zum Essen auf dem Markt wäre viel zu kurz. Und dann sind sie ja schon langsam wieder ins Hotel gegangen. Kein Problem. Aber mit manchen Anderen haben wir Erfolg. Wenn die Bewegungspfade mit einem Mädchen zusammenlaufen und das Mädchen dann plötzlich nicht mehr auftaucht, sind wir alarmiert. Auf diese Weise haben wir in den letzten Tagen zwei minderjährige Mädchen im vollen Drogenrausch bei ihrem 'Papa' gefunden. Wie ich schon sagte, ihr System ist phantastisch.“

„Was können wir noch tun?“, fragte Jürgen ein bisschen kurz angebunden, wie es Curd schien.

„Die Namen, die wir bekommen, sind in englischer Schrift. Das ist kein Problem, weil zum Beispiel die Banken sie auch so liefern. Aber ihr Vertrieb hat gesagt, das wir die Bedienoberfläche der Software in Thai haben können. Das wäre sehr nützlich für unsere Beamten. Ist das möglich?“

Und deswegen sind wir so weit gefahren, dachte Curd und sagte höflich: „Aber das ist doch selbstverständlich. Ich kümmere mich darum, sobald wir wieder zu Hause sind.“

„Das ist sehr nett von Ihnen.“

„Können sie mit dem System ganz Phuket überwachen?“, fragte Jürgen, den interessierte, wen er da wirklich vor sich hatte. Major Phatipatanawhong lächelte vielsagend.

„Aber selbstverständlich. Und die Provinzen Phang Nga und Surat Thani und natürlich Krom Thep. Den Norden werden wir in den nächsten Wochen abdecken. Als Nächstes kommt Chiang Mai dran. Das ist nahe am berühmten goldenen Dreieck. Sie wissen, was das ist?“

„Schon klar, Schlafmohnanbau. Und das machen sie alles von Patong aus?“

„Aber bitte. Ihr System kann doch völlig dezentral genutzt werden.“

„Und wer hat die Oberaufsicht?“ Jürgen konnte es nicht lassen. Der Major war aber keineswegs beleidigt, er wirkte eher ein bisschen stolz und lächelte vielsagend.

„Glauben sie mir, das haben wir gut organisiert. Haben wir in Thailand von den Engländern gelernt. Übrigens, wir haben jetzt auch ein Abkommen mit Vietnam. Saigon ist schon dabei.“ Jetzt lachte er triumphierend.

„Das ist schon beeindruckend,“ sagte Jürgen nur.

„Kann ich noch etwas für sie tun, meine Herren?“

„Nein danke“, antwortete Curd. „Haben sie einen Wagen zum Hotel? Ich glaube, wir finden das nicht zu Fuß.“

Sie verabschiedeten sich herzlich und damit war ihr offizieller Besuch beendet.

„Jetzt sind wir so klug als wie zuvor. Edam ist also die Polizei oder auch nicht. Was machen wir heute Abend?“, fragte Jürgen in der Lobby.

„Ich hab von einem tollen Restaurant im Süden der Insel gehört. Da könnten wir einmal hinfahren, es sei denn, du willst noch ein Mädchen aufreißen.“

„Nein, danke. Die bisherigen Offerten reichen mir. Ich lass mich aber hier noch massieren. Man sollte doch nicht in Thailand gewesen sein ohne Thaimassage.“

Eine gute Idee, fand Curd, und spürte ein gewisses erotisches Prickeln. Hier im Hotel würde das nicht so schmuddelig sein. Er suchte den Spa – Bereich und orderte eine komplette Massage. Er wurde in einen mit Orchideen geschmückten und überall von Räucherstäbchen bedufteten Raum geführt. Sandelholz und Zitronengras erzeugten eine aufregend entspannte Stimmung. Ein kleines Becken war über und über mit Rosenblättern bedeckt. Ein Traum von einem zarten Thaimädchen betrat den Raum und winkte ihn zu der Massageliege. Sie hatte nur einen kurzen, weißen Sari um und war barfuß. Sie bat ihn sich auszuziehen, was er ein wenig zitternd tat. Sie bedeutete ihm auch, dass er sich gerne auch der Boxershorts entledigen könne. Curds Blutdruck stieg um den gefühlten Faktor 10. Er legte sich schnell auf die Liege und auf den Bauch. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie sich die Hände mit einem nach Jasmin duftenden Öl einrieb und dann fühlte er sie auf dem Rücken, warm, weich und gleitend. Sie rieb auch seinen Po ein und als sie seine Oberschenkel berührte, fand er es günstig, dass er auf dem Bauch lag. Was dann kam, würde Curd nie im Leben vergessen. Das Mädchen hatte die Kraft eines Sumo – Ringers, sie fand schmerzende Stellen, die neu waren für ihn und erforschte die Beweglichkeit seiner Gelenke, wie er sie anatomisch nie für möglich gehalten hatte. Auch war ihm bisher nicht klar, was das Knochengerüst alles aushalten konnte. Spätestens als sie auf seinem Brustkorb kniete und gefühlt die Wirbel hin und her schob, blieb ihm die Luft weg. Aber sie kannte die Grenzen des Erträglichen und als sie nach zwanzig Minuten fertig war und ihm die Wanne mit den Rosenblättern anbot, war er voller Dankbarkeit. Er fühlte sich gerädert und gevierteilt, aber nach einigen Minuten überkam ihn eine angenehm entspannte Müdigkeit.

Er traf sich mit Jürgen am späten Nachmittag nach einem ausgedehnten Mittagsschlaf erfrischt und wohlgelaunt in der Lobby. Eine Limousine fuhr sie eine gute halbe Stunde lang nach Süden. Der Fahrer ließ sie an einer belebten Straße aussteigen und fragte nur, wann er sie wieder abholen sollte. Das war also der Geheimtipp Rawai Beach. Zwischen Straße und dem weiten Strand, auf dem die malerischen Long Tail Boote der Fischer trockengefallen waren, lag ein Restaurant neben dem anderen. Sie gingen ein Stück und stellten fest, dass die Lokale von Meter zu Meter exotischer wurden. Ab der Hälfte gab es keine Tische und Stühle mehr, sondern nur noch Teppiche, auf denen Thais mit ihren Familien saßen und speisten. Die kurze Dämmerung brach gerade herein und die überall brennenden Kerzen vermischten sich mit dem rötlichen Abendlicht zu einer himmlischen Farbenorgie. Dazu kam der aufregende Duft von Hunderten unbekannter Gerichte. Sie gingen zurück, wo es für die westlichen Menschen Tische und Stühle gab und fanden endlich ganz am Anfang das Sala Loi, das ihnen empfohlen worden war. Hier saßen neben einigen Thais auch viele Geschäftsleute, Europäer, Amerikaner und Chinesen, alle erkenntlich an den dunklen Anzügen, die Sakkos locker neben sich gelegt und die Kragenknöpfe offen. Jürgen fand diese Ansammlung eigenartig, weil doch gar keine großen Firmen in der Nähe waren. Sie konnten das Rätsel nicht lösen.

Zu ihrer Erleichterung war die Speisekarte bebildert, ein Ko Tau an die ausländischen Gäste. Sie bestellten sieben verschiedene Köstlichkeiten, von giftgrünen Muscheln, über die riesigen Tiger Prawns bis zu einem Hot Pot mit Tom Kha Gai, der berühmten Hühnersuppe. Das Singha Bier wurde in Flaschen mit einem lustig bemalten Schaumstoffkühler serviert. Als alles aufgegessen und die Flaschenkühler fünf Mal gewechselt waren, fühlten sie sich sauwohl und sogar die recht unbequemen Stühle ganz komfortabel, die wie die Tische mit bunten Kacheln gefliest waren.

„Scharf ist es ja schon“, sagte Jürgen, „aber schmecken tut es, wow, es gibt nichts Besseres auf der ganzen Welt.“

„Stimmt, an so ein Essen kann man sich gewöhnen, obwohl es kein Brot gibt. He, Jürgen, schau doch mal die Gruppe mit den schwarzen Anzügen. Da sitzt doch einer, den hab ich schon wo gesehen. Kennst du den?“

„Nein, nie gesehen.“

„Jetzt weiß ich es. Es ist der Typ aus Frankfurt, der, wie hieß er noch einmal, äh, Reichert oder nein, Raichand, Pravin Raichand, ja genau.“

„Bist du sicher?“

„Nein, aber er sieht genauso aus.“

„Asiaten sehen für uns alle gleich aus.“

„Der sieht aber gar nicht asiatisch aus. Nur braun.“

„Der kann doch gar nicht hier sein. Es gibt solche Ähnlichkeiten. Lass uns noch ein Singha trinken.“

„Stimmt schon, wäre schon sehr unwahrscheinlich und ein großer Zufall.“ Genau dieser Gedanke beunruhigte Curd. Solche Zufälle waren eben sehr unwahrscheinlich.

Am nächsten Morgen nach dem ausgiebigen Hotelfrühstück, dem letzten dieser zwecklosen, aber wunderschönen Reise, kam ein lila uniformierter, ausgesprochen hübscher Thaijunge an ihren Tisch. Curd sagte gerade: „Jetzt hab ich doch gestern im Sala Loi meinen Pullover liegen lassen. Warum muss es nachts auch so warm sein, verdammt noch mal, der war ein Geschenk.“

„Herr Dr. Hofmann?“ fragte er höflich.

„Ja, ich bin das. Was gibt es? Wurde mein Pullover abgegeben?“

„Nein, tut mir Leid. Ein Herr, und er schaute auf eine Visitenkarte, Lal Ashutosh, möchte sie sprechen. Er wartet in der Lobby.“

Curd schaute Jürgen fragend an. Der zuckte nur mit den Schultern.

„Okay. Wir kommen gleich. Danke sehr.“

Herr Lal Ashutosh sah europäisch, genauer indogermanisch aus und war tief braun. Noch ein Inder, dachte Curd.

„Guten Tag, womit können wir ihnen dienen“, sagte Curd wie ein Kellner.

„Guten Tag, Herr Dr. Hofmann, guten Tag, Herr Degelein, bitte setzen sie sich doch. Wollen sie etwas trinken?“

„Nein, danke, wir kommen gerade vom Frühstück.“

„Bitte entschuldigen sie, dass ich mir ein Wasser bestellt habe. Vielleicht mögen sie ja auch etwas davon trinken.“ Ist ja gut, dachte Curd. Nun komm zur Sache, wir wollen noch schwimmen gehen.

„Okay, machen wir es kurz. Sie haben sicher noch etwas vor.“ Genau, dachten beide.

„Ihr System Minerva ist eine wirklich große und beeindruckende Sache. Meine Gratulation zu dieser Leistung.“ Hoppla, das sollte hier aber nicht zur Sprache kommen.

Curd war alarmiert. „Darf ich erst einmal fragen, in welchem Zusammenhang sie damit befasst sind?“

„Ja, natürlich. Selbstverständlich dürfen sie fragen. Gehört sich auch so für professionelle Leute. Ich hätte mich sehr über sie gewundert, wenn sie nicht gefragt hätten.“ Nun komm schon, dachte Curd. Oder musste er Zeit schinden, um sich eine Antwort zu überlegen. „Ich arbeite mit der Polizei zusammen. Fragen sie Major Phatipatanawhong. Rufen sie nur an. Ich verstehe ihre Besorgnis.“

Jürgen ließ sich das nicht zweimal sagen und zückte das Handy. Ratlosigkeit stand plötzlich in seinem Gesicht.“

„Herr Ashutosh lächelte. Die Nummer ist 032217865.“

„Danke. Er hielt das Handy ans Ohr und nach einiger Zeit fragte er nach Major Phatipata... Den ganzen Namen brachte er nicht zustande.“

„Ja, ja, genau den. Was? Wie bitte? Ach so. Was? Macht nichts. Nein nein. Ich rufe später noch einmal an.“

„Konnten sie ihn sprechen?“, fragte Ashutosh.

„Nein, er ist gerade außer Haus.“

„Oh, das tut mir Leid.“

„War die Nummer denn wenigstens die Nummer der Polizei“, fragte Curd auf deutsch und lächelte entschuldigend seinem Gastgeber zu. Der nickte nur beruhigend.

„Ja ja, das war schon die Polizeistation Patong.“

„Okay. Das sollte fürs Erste reichen. Was können wir also für sie tun?“

„Vielen Dank, meine Herren. Wir haben bei der Polizeiarbeit auch verdeckte Ermittler, wie sie sich vorstellen können. Und die müssen wir schützen.“ Da war es wieder, das alte Problem. Curd wusste, was kommen würde.

„Ein verständlicher Wunsch.“

„Wie machen sie das mit ihrem System zu Hause?“

„Curd hielt sich bedeckt. „Das ist mir nicht bekannt. Da müsste ich unsere Polizei fragen.“

„Um es ganz frei auszusprechen, wir brauchen eine Funktion, die es uns ermöglicht, bestimmte Personen und Bewegungspfade zu verschleiern.“

„Das können wir leider nicht machen. Wichtig ist eigentlich nur, dass das System nicht in falsche Hände kommt.“

„Oder könnten sie uns eine Schnittstelle geben, mit der wir das tun können?“

„Nein. Aber sie können Vorschläge machen und wir prüfen dann, ob wir sie ins System einbauen. Wenn sie von allgemeinem Interesse sind, machen wir das auch.“

„Darauf möchten wir nicht warten. Machen sie doch bitte ein Ausnahme für uns.“

„Es tut mir furchtbar Leid, Herr Ashutosh, aber das können wir nicht. Unsere Kunden würden das nicht wollen.“

„Aber wir sind doch auch ein Kunde.“

„Um es noch einmal zu betonen, die Datenbank ist weltweit universell. Das ist ja gerade unser Vorteil. Und sie genießen diesen Vorteil auch. Eine Manipulation an den Daten können wir nicht zulassen.“

„Das ist sehr schade, meine Herren. Da kann man wohl nichts machen. Ich wünsche ihnen eine gute Heimreise. Und denken sie über meinen Vorschlag nach. Ich bitte zu entschuldigen, dass ich sie damit belästigt habe. Alles Gute.“

„Was war'n des für ein miserabler Versuch“, sagte Jürgen, als Ashutosh weg war. „Ich muss den Major erreichen und werde mich ein wenig beschweren.“

Der Major war leider den ganzen Tag nicht zu erreichen. Sie beschlossen ihn von Deutschland aus anzurufen. Dann ließen sie sich mit einem Taxi zum Flughafen bringen. Sie checkten das Gepäck ein und bummelten noch ein bisschen umher. Es gab aber nichts Bemerkenswertes zu sehen außer dem interessanten Völkergemisch. Als die Zeit totgeschlagen war, schritten sie zum Gate und zum Sicherheitscheck. Sie amüsierten sich köstlich, als die Zollbeamten einen Inder mit Turban aufhielten, der tatsächlich ein paar wunderschöne und gefährlich aussehende Krummdolche mit an Bord nehmen wollte. Er wehrte sich lautstark gegen die Zumutung, seine wertvollen, historisch religiösen Waffen abzugeben, was bei den europäisch aussehenden Touristen Kopfschütteln hervorrief. Die Asiaten nahmen den kleinen Vorfall mit asiatischer Gleichgültigkeit hin. Dann war Jürgen durch und entschwand schon Curds Blicken.

Ein Zollbeamter hielt Curd auf und bat ihn, sein Handgepäck zu öffnen. Ich bin ein Opfer der Statistik, dachte Curd. Jürgen war nicht darunter gefallen. Er öffnete das Bordköfferchen und ließ den Beamten stoisch seine Habseligkeiten durchwühlen. Jetzt habe ich auch schon ein wenig diese asiatische Gelassenheit, fand Curd entspannt. Der Beamte hielt ein Päckchen hoch und sah Curd ernst an. Das Päckchen bestand aus einer durchsichtigen Plastikhülle, klein wie eine Zigarettenschachtel mit weißlichem Inhalt. Und vor allem: Dieses Päckchen war Curd völlig unbekannt.

Er wurde herausgewunken und in einen kleinen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen geleitet. Das asiatisch Stoische verschwand allmählich aus Curds Gefühlsleben. Nach zehn Minuten kam ein anderer Beamter, viel martialischer als die vorigen und setzte sich Curd gegenüber und schwieg. Es wurde Curd immer unbehaglicher. Ein Verdacht stieg in ihm auf und der war alles andere als angenehm. Er hatte einiges über den Umgang der Thais mit dem Thema Rauschgift gelesen.

„Sie haben Heroin in ihrem Handgepäck. Sie wissen, dass das in Thailand nicht erlaubt ist, Herr Hofmann?“

„Ich habe kein Heroin in mein Handgepäck getan, wenn sie das meinen und natürlich weiß ich, wie verboten das hier ist. Bei uns übrigens auch.“

„Ist es zur privaten Nutzung oder handeln sie damit? Bitte überlegen sie sich die Antwort genau. Was sie hier sagen, kann gegen sie verwendet werden.“

„Weder noch. Ich sagte es bereits, ich habe kein Rauschgift in mein Handgepäck getan, Und mit Rauschgift habe ich nichts zu tun, hatte ich noch nie.“ Curd wurde es himmelangst, aber er hoffte, alles schnell klären zu können. Schließlich hatte er wirklich nichts damit zu tun.

„Wenn sie jetzt bereits gestanden hätten, wäre es für sie besser gewesen. In jedem Falle sind sie verhaftet. Bitte kommen sie mit.“

Er wurde tatsächlich in Handschellen abgeführt und in ein Polizeiauto verfrachtet. Die Fahrt dauerte eine gute halbe Stunde und dann hielten sie vor einem tristen Gebäude in einer größeren Stadt, es war wahrscheinlich Phuket Town. Wie in Filmen oft gesehen, musste er alle privaten Habseligkeiten abgeben und wurde wortlos in eine kahle Zelle geführt. Sie war wenigstens nicht kalt, dachte er und hätte über sich selbst gegrinst, wenn ihm danach zumute gewesen wäre. Ansonsten war er zu keinem weiteren Gedanken fähig. Er versuchte zu vermeiden, dass seine Phantasie ausuferte. Denn es kam ihm ins Bewusstsein, dass Rauschgiftbesitz in Thailand durchaus mit der Todesstrafe geahndet wurde.

Die nächsten zwei Tage gingen an ihm vorbei, so dass er sich später an sie nie mehr erinnern konnte. Er wurde von niemandem besucht. Der einzige Kontakt mit der menschlichen Außenwelt bestand darin, dass ihm ein Wärter regelmäßig auch zum Frühstück irgendein Essen nicht gerade in Sala Loi - Qualität und schales Wasser anstelle des Singha - Biers, durch eine Klappe schob verbunden mit ein paar Blättern Toilettenpapier. Er war hilflos in einem feindlichen Universum.

Endlich, am Abend des dritten Tags, wurde die Tür geöffnet und er in ein weiteres, kahles Zimmer geführt. Herein kam ein etwas gealterter Gigolo in rosafarbenem Anzug und Seidentuch im Hemdkragen.

„Guten Tag, Herr Hofmann, es tut mir so Leid. Wir haben sie jetzt erst gefunden.“

„Mit wem habe ich die Ehre? Sind sie der Henker von Phuket?“

Er lachte schallend, was Curd recht unpassend fand.

„Nein nein, so weit sind wir gottlob noch nicht. Ich bin der deutsche Honorarkonsul auf Phuket. Mein Name ist Willibald Hunold. Ihr Kollege, Herr Degelein, hat mich aufgesucht und von ihrem Verschwinden berichtet. Der Gute, dachte Curd erleichtert. Er wähnte Jürgen schon zwei Tage in Deutschland.

„Was kann ich machen und wie können sie mir helfen?“ Curd wurde sehr ungeduldig.

„Ja, das ist eine verteufelte Sache. Wir haben hier das leider recht oft. Die Touristen sind einfach zu blauäugig. Und es geht oft gar nicht gut aus.“

„Wie beruhigend.“

„Wir haben einen Rechtsanwalt hier. Der ist auf solche Fälle spezialisiert. Ein Thai, aber er spricht gut deutsch.“

„Das hilft mir bestimmt sehr.“

„Ich denke schon. Übermorgen dürfen sie ihn sprechen.“

„Und bis dahin?“

„Müssen sie leider noch ein bisschen warten. Aber, wenn sie etwas benötigen, sagen sie es mir. Ich sehe, was ich machen kann.“

„Meine Freiheit. Ich habe nämlich nichts gemacht. Gar nichts.“

„Davon müssen sie das Gericht überzeugen, nicht mich, lieber Herr Hofmann.“ Von wegen, lieber Herr Hofmann, du blöder A... Er verkniff sich den weiteren Gedanken, weil er ihm nichts brachte.

Auch diese nächsten Tage vergingen wie in Trance. Kein einziger Hoffnungsschimmer wollte sich in Curds gequältem Gehirn breit machen. Es fiel ihm einfach nichts ein. Hunderte Male ging er in Gedanken durch, bei welcher Gelegenheit ihm jemand das Päckchen in das Handgepäck geschmuggelt haben könnte. Es gab nichts Auffälliges, gar nichts, was ihm einen Anhaltspunkt gegeben hätte.

Das Gespräch mit dem berühmten Touristenverteidiger fand wieder in dem selben Zimmer statt. Der Typ war sympathisch und aalglatt. Für einen Anwalt keine schlechte Kombination. Curd versicherte ihm dutzende Male, dass er nichts damit zu tun habe und genau so oft sagte ihm der Anwalt, verständnisvoll nickend, das ihm das aber nicht weiterhelfe. Er kam zu dem Schluss, dass Curd Reue zeigen und auf Eigenbedarf plädieren solle. Die Ausfuhr von Drogen würde außerdem nicht so hart bestraft wie die Einfuhr. Dieser Strohhalm war nicht nach Curds Geschmack. Er war schließlich völlig unschuldig und hatte noch nie etwas mit Drogen zu tun gehabt, nicht einmal in seiner Jugend hatte er Marihuana ausprobiert.

Beim nächsten Treffen teilte ihm der Anwalt mit, dass in etwa zwei bis drei Monaten die Gerichtsverhandlung stattfinden würde, schon in zwei bis drei Monaten, wie er betonte. Als Ausländer würde er zuvorkommend behandelt.

„Es wäre gut für sie“, sagt er noch, „wenn sie den Namen des Drogenhändlers oder wenigstens eine Personenbeschreibung und den Ort des Kaufs sagen würden. Der Zeitpunkt ist nicht so wichtig, denn den wissen die ohnehin schon, wenigstens ungefähr.“

Curd starrte ihn fassungslos an. „Sie glauben mir gar nichts, oder? Sie denken, ich tu nur so, als ob ich nichts wüsste.“

„Kein Grund zur Aufregung, Herr Hofmann. Ihre Argumentation ist so originell für die Richter, dass sie perplex wären, wenn einer einmal etwas Anderes sagen würde. Mit anderen Worten: Noch nie hat ein Angeklagter etwas Anderes gesagt. Nur die Vehemenz, mit der sie es vertreten, unterscheidet sie ein wenig.“

„Aber ich weiß es wirklich nicht.“

„Schon gut, wenn sie es beruhigt, sage ich, ich glaube ihnen. Denken sie über meine Anregung nach. Zur Not erfinden sie einfach eine Beschreibung und sagen, es wäre in der Hotellobby gewesen.“

„Kommt überhaupt nicht infrage“, empörte sich Curd.

„Sie müssen einfach abwägen, was ihnen lieber ist. Ihre Beharrlichkeit auf Kosten von Jahren im Gefängnis oder eine etwas kürzere Zeit unter Verlust ihres Stolzes.“

„Was heißt kürzer?“

„Zur Zeit hole ich bei geständigen Touristen und Eigenbedarf mit Ausfuhr so etwa fünf Jahre heraus. Das ändert sich immer wieder einmal. Die Todesstrafe brauchen sie übrigens nicht fürchten. Das machen die zur Zeit bei Ausländern ungern wegen des internationalen Drucks. Schadet dem Tourismus.“

Zwei oder vier weitere Tage, Curd konnte sich nicht mehr genau erinnern, da er das Gefühl für die Zeit verloren hatte und seine Denkvorgänge auf Träumereien von Sonne, Sand und Meer und Thaimassagen fokusiert hatte, wurde wieder Besuch angekündigt. Vielleicht hatte der glorreiche Anwalt eine neue, bessere Idee, sagte der immer kleiner werdende optimistische Teil seiner Persönlichkeit. Der realistische Teil warnte ihn vor falschen Hoffnungen. Aber es war gar nicht der Anwalt. Es war zu seiner größten Überraschung Mister Lal Ashutosh in Begleitung einer ehrfurchtsgebietenden, uniformierten Person und dem rosafarbenen Honorarkonsul.

„Es tut mir so Leid, was ihnen passiert ist, Herr Hofmann. Ich habe Kaution gestellt, das sind wir ihnen schuldig. Was man bei ihnen gefunden hat, wird noch kriminaltechnisch untersucht und das wird noch dauern. So lange können wir sie doch nicht hierlassen.“ Er lächelte sehr freundlich. „Sie können gleich mitkommen.“

Wie in Trance ließ sich Curd hinausbegleiten, erhielt alle seine Habseligkeiten außer seinem Pass und wurde mit einem Polizeiauto in sein altes Hotel gebracht.

„Hallo, alter Freund. Wie war dein Urlaub? Ich habe dauernd in der Sonne gelegen und gebadet, gleich unten am Strand und in der internationalen Disco - Lounge gab es gutes Bier und viele, nette Russen. Ist aber auf Dauer nichts für mich. Die saufen, kann ich dir sagen, da komm ich nicht mit.“ Degelein saß frohgelaunt in der Lobby bei einem Singha Bier.

„Lieber Jürgen, vielen Dank für deine Hilfe. Ich dachte, du wärst schon abgereist gewesen.“

„Blödsinn. Das wär' mir aufgefallen, wenn du nicht im Flugzeug gesessen hättest. Wir haben zwei Plätze nebeneinander gebucht, schon vergessen?“

„Darf ich mich kurz zu ihnen setzen?“ Es war Ashutosh.

„Aber selbstverständlich. Noch einmal herzlichen Dank für ihre Kaution.“ Curds Dank war nicht ganz ehrlich. Der unangenehme Beigeschmack verhinderte aufrichtige Freude.

„Keine Ursache. Sie dürfen sich frei bewegen, natürlich nur in Thailand. Ausreisen geht noch nicht wieder. Das hängt von der Kriminaltechnik ab.“

„Das ist ja schon ein Hoffnungsschimmer, obwohl ich nicht glaube, dass das Ergebnis angenehm für mich sein wird. Die haben mir doch bestimmt nicht nur Zucker untergeschoben.“

„Wer weiß, wer weiß. Sie könnten übrigens ihre Zeit doch ein wenig nutzen.“

„Nutzen, womit?“

„Baden gehen, sich massieren lassen, gut essen und uns den Zugang zum Verändern der Daten geben. Ich würde mich immer noch darüber freuen.“

„Sie kennen meine Antwort.“

„Ist schon klar, Herr Hofmann. Dann warten wir doch in Ruhe auf die Kriminaltechniker. Das Ergebnis wird übermorgen da sein. Eine gute Zeit ihnen beiden.“

Er ging und Curd und Jürgen sahen sich lange an.

„Du weißt, was der gesagt hat, oder?“ Jürgen machte ein sorgenvolles Gesicht.

„Leider ja.“

„Wie entscheidest du dich?“

„Was würdest du tun?“

„Auf keinen Fall würde ich in einem Thaigefängnis braten wollen. Wollen wir versuchen abzuhauen?“

„Wie denn? Ich habe nicht einmal einen Pass.“

„Wie ist es mit dem schwulen Konsul?“

„Gefällt mir nicht. Der war zusammen mit Mister Ashutosh da.“

„Oh je. Dann ist das zu riskant. Dann als blinder Passagier auf einem Schiff. Oder wir bauen ein Kanu und fahren über die Andamanensee auf die Andamaneninseln oder die Nikobaren. Dann wären wir schon einmal in Indien, quasi.“

„Ist nicht mein Stil.“

„Degenerierter Zivilist.“

„Ich tue, was er will. Ich hab' schon eine Idee.“

„Aber mach schnell. Wir haben nur zwei Tage.“

Im Zimmer rief Curd Dave an.

„Bist du wahnsinnig, es ist fünf Uhr morgens.“

„Wieso fünf, es ist elf Uhr. Ach so, entschuldige. Kannst du mir trotzdem meine Zugangsdaten simsen. Ich muss hier was machen.“

„Äh, ja. Wart mal. Schon geschehen und jetzt lass mich schlafen.“

Curd ging zur Rezeption und verlangte einen Internetzugang an einem der für die Gäste bereitgestellten PC's. Seinen Laptop benutzte er nicht, weil er nicht wollte, dass sein Tun sofort erkannt würde. Eine halbe Stunde genügte ihm, dann hatte er sich Zugang zum VPN verschafft und die Funktion für die Manipulation der Daten freigeschaltet. Die Reaktion kam ungewöhnlich schnell. Ashutosh wartete in der Lobby.

„Gute Nachrichten, Herr Hofmann. Die Probe hat ergeben, dass es sich lediglich um Puderzucker handelte. Da hat sich jemand einen sehr dummen Scherz mit ihnen erlaubt. Hier ist ihr Pass. Gute Heimreise. Ich freue mich darauf, sie bald wieder zu treffen.“ Ganz meinerseits, aber nur um sie hinter Gitter zu bringen, wie sie es mit mir gemacht haben, dachte Curd.

„Vielen Dank für ihre Bemühungen, Herr Ashutosh“, log er. Der lächelte nur und nahm ihm die Aufrichtigkeit des Dankes ganz sicher nicht ab.

Zu Hause angekommen, schleppte er sich hundemüde in sein Büro. Es war bereits fünf Uhr nachmittags, aber Dave war noch da.

„Bist du jetzt völlig übergeschnappt. Was hast du in dem blöden Thailand gemacht. Hat dir die Hitze das Gehirn versengt?“

„Ruhig, Dave, ich erklär's dir später. Und vor allem auch Frau Dr. Bietigmann. Jetzt müssen wir erst alles wieder reparieren.“ Er setzte sich ans Terminal und löschte den Zugang für die Manipulationsfunktion. “Holst du mal bitte die Bietigmann, wenn sie noch im Hause ist.“

Sie war es und er erzählte alles, bis ins letzte Detail.

„Ich dachte nicht, dass es so schlimm ist. Die Polizei ist da wohl unterlaufen worden.“

„Ashutosh ist kein Polizist?“

„Ganz sicher nicht. Ich werde nach ihm forschen.“

„Von welcher Organisation könnte er denn sein?“

„Da gibt es viele Möglichkeiten und keine ist besonders angenehm. Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen es herauszubekommen. Es muss nur so sein, dass die nicht merken, wer da forscht.“

„Und das kriegen sie hin?“ Sie lachte herzerfrischend und wurde dann plötzlich sehr ernst.

„Aber sie sind jetzt in allergrößter Gefahr. Denken Sie, was die bereits versucht haben. Sie haben auch bestimmt einkalkuliert, dass sie sie verarschen werden und haben gewusst, dass sie eventuell nur zwei Tage Zeit für Manipulationen haben. Schauen sie in der Datenbank nach und versuchen sie herauszufinden, was genau verändert wurde. Das ist für meine Recherchen wichtig. Und die haben sicher einen Plan B, weil sie die Funktion auf Dauer haben wollen. Ich denke, wir müssen sie jetzt sehr, sehr gut schützen.“

Fortschritt

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