Читать книгу Fortschritt - Friedrich Haugg - Страница 4
Eins
ОглавлениеCurd, eigentlich hieß er Kurt, aber 'Curd' fand er angesagter, schritt in seinem grüngrau schimmernden Bossanzug über einem weißen T-Shirt mit den luftgefederten, orangen Nike Sneakers zum Aufzug, das weiße iPhone von der linken Hand umklammert, von dem ein weißes Kabel zum Ohr führte und das iPad unter den rechten Arm geklemmt, damit der Zeigefinger für den Knopf nach oben frei war. Der Lift war für jedermann und brachte ihn daher nur bis zum sechsten Stockwerk. Für die wirklich wichtigen Leute gab es auch einen Aufzug, der bis ganz nach oben an den fünf niederen Stockwerken vorbeiglitt. Aber den durfte Curd nicht benutzen, noch nicht. Das 'noch' war ein wesentlicher Teil seiner täglichen Motivation. Vorerst musste er umsteigen, weil er noch zwei Hierarchiestufen zu überwinden hatte. Der Security Service, die Bezeichnung war ein Statussymbol und klang einfach besser als Wachmann, ließ Curd erst ganz nach oben, nachdem auf einem Bildschirm sein Name, seine Id und der vorher angemeldete Grund seines Besuchs erschienen waren.
Im riesigen Vorzimmer, beherrscht von unauffällig emsiger und teuer gestylter Weiblichkeit - das einzige männliche Wesen fiel in seinem hübschen Outfit nicht weiter auf - wurde er ungeduldig in den Bürosaal des Entwicklungsvorstands durchgewunken. Direkt darüber befand sich die Suite des Vorstandsvorsitzenden. Und darüber nur noch der Himmel. Es war nicht üblich, dass die Entwicklung gleich unter dem Vorstandsvorsitzenden regieren durfte. Im Normalfall befand sich auf diesem bevorzugten Platz der CFO, der 'Chief Financial Officer' und unbarmherzige Hüter und Vermehrer des Geldes. Die meisten modernen Manager hielten den CFO für die wichtigste Person eines Unternehmens. Deswegen studierten auch die ehrgeizigen jungen Leute am liebsten 'Financial and Business Management'. Das versprach eine schnelle und mühelose Karriere ohne den Ballast irgendeines technischen Spezialwissens. Früher hießen solche Menschen Kaufmann und mussten dafür nicht studieren. Wirtschaftswissenschaften oder vielmehr Business Sciences hatten den Berufszweig auch nach außen veredelt. Curd hatte die eher veraltete Anschauung, dass ohne Produkte der Kaufmann nichts Sinnvolles machen könne. Notwendige Bedingung, um die verantwortungsvolle und ein langes, wissenschaftliches Studium erforderliche Aufgabe des Geldzählens durchführen zu können, war doch, dass es Geld zum Zählen gab. Wahrscheinlich hatte er das System aber immer noch nicht richtig verstanden.
Die augenblicklich ungewöhnliche Wertschätzung des reinen Kostenfaktors 'Forschung und Entwicklung' deutete darauf hin, dass Curds Konzern gerade kein 'cash cow' - Produkt hatte, also nicht viel verdiente. Trotz immenser Rücklagen, über die das Unternehmen verfügte, wurde man im Bereich Controlling und Finanzen angesichts der Personalkosten zunehmend unruhig. Sogar über Transfers zu Zeitarbeitsunternehmen wurde nachgedacht, um die wichtigen Leute dann wesentlich günstiger beschäftigen zu können. Eigentlich war hier ein solches Vorgehen tabu, aber die veralteten Denkweisen gingen mit ihren Menschen immer mehr in den Ruhestand. Dass Kosten senken allein ohnehin nichts brachte, wussten sie vielleicht. Aber sie verfügten ja über keine anderen Fähigkeiten und so war ihre Kreativität auf das Erfinden von Einsparpotentialen beschränkt.
Ein langer Marsch über schallschluckenden, edlen Flor bis zu dem in weiter Ferne sichtbaren runden Besprechungstisch, brachte Curd zur korrekten Position für seinen Auftritt. Neben dem Entwicklungsvorstand saß dessen Assistent, einer dieser bedauernswerten Menschen, die das dreijährige 7/24 – Dasein als ständiger Schatten des großen Meisters üblicherweise mit irgendeinem sinnlosen Hauptabteilungsleiterposten honoriert bekamen. Ausgelaugt und glatt geschliffen wie ein Flusskiesel machten diese Menschen in der Folge kaum noch von sich reden, schon deswegen, weil sie nie mehr Fehler machten. Curd hatte dennoch Hochachtung vor ihnen. Sie hatten nicht nur gelernt, jeden Fehler zu vermeiden, sie mussten vor allem erst mühsam herausfinden, was ein Fehler war. Dazu benötigten sie ein enormes, geistiges Reaktionsvermögen und die Gabe der Vorhersehung. In keinem Handbuch stand etwas darüber. Aber es gab untrügliche Zeichen für bereits begangene Fehler. Der Schlimmste: Kritik am Chef. Immer wenn der sich zu Erklärungen oder gar einer Verteidigung genötigt sah, war der Assistent schuld. Der Zweitschlimmste: Ungenügende Vorbereitung. Was dazu nötig war, musste der Assistent erahnen. Keiner konnte es ihm sagen, außer dem Chef vielleicht. Aber der sagte es nicht. Schon deshalb, weil er meist selbst nicht wusste, was er zum entscheidenden Zeitpunkt denken würde.
Das bedauernswerte Geschöpf hieß derzeit Karl Franzen, war gerade mal 27 Jahre alt und natürlich Master of Business Sciences. Trotz des lächerlichen Titels fand Curd ihn als Person durchaus sympathisch. War er doch umfassender gebildet, als es seine Eliteschule erwarten ließ. In den kurzen gemeinsamen Zeitlücken, teilte er bei einem Latte macchiato aus dem Automaten in der Lobby seine sarkastischen Anschauungen über den Geschäftsbetrieb. Angesichts der Freiwilligkeit seines Daseins empfand das Curd als eine Form der Schizophrenie und machte kein Hehl daraus. Karl nahm es gelassen. Er wusste, wohin er wollte und unterlag der irrtümlichen Meinung, mit Hilfe des zeitlich überschaubaren Leidens den Weg abkürzen zu können.
Sie nickten sich kurz zu und Curd nickte dann auch noch den anderen Anwesenden zu, die er gar nicht kannte und die keine Zeit für Höflichkeitsfloskeln hatten.
„Fangen sie an, Herr Hofmann“, sagte der Entwicklungsvorstand.
Curd steckte das Projektorkabel in sein Tablet und fing an. Das heißt, er wollte anfangen. Aber der große Schirm blieb weiß.
„Nun machen sie schon.“ Der Vorstand drückte seine berechtigte Ungeduld aus.
Curd spürte Panik aufsteigen und Schweiß im Nacken und drückte alle touch icons, die er erwischen konnte. Nichts geschah.
„Herr Franzen, bitte. Sie stehlen mir meine Lebenszeit.“
Karl ist doch nicht für die Hausmeisterarbeit zuständig, empörte sich Curd. Aber andererseits war er dafür verantwortlich, dass der Vorstand sein Teuerstes, die Zeit, nicht durch Warten vergeudete. Hilfe für den armen, ratlosen Franzen war angesagt. Curd holte sein iPhone heraus, synchronisierte die Präsentation vom iPad und steckte den kleinen Taschenbeamer, den er sich gerade beschafft hatte, auf das iPhone. Jetzt hatte sich seine neueste, private Investition im wirklich harten Einsatz bereits gelohnt. Das Bild war zwar nur so groß wie ein Fernsehschirm, aber er konnte nun anfangen. Der Entwicklungsvorstand ersparte sich ein lobendes Wort.
Seine Präsentationsfolien wurden angestarrt und seine gründlich vorbereiteten, sprachlichen Erklärungen liefen als passendes Hintergrundgeräusch ab. Wenn der Entwicklungsvorstand eine Folie gelesen hatte, winkte er ungeduldig, Curds Lautäußerungen ignorierend, um die nächste zu sehen. Nach zehn Minuten war alles vorbei.
„Ihre Folien müssen noch crisper werden, mehr sexy. Tell it short and simple, wenn sie verstehen, was ich meine.“
Das war der verlässlich wiederkehrende und allen bekannte erste Satz des Professors nach jeder Präsentation. „Jawohl, Herr Professor Wienand.“
„Was ist mit der Ohrgeometrie? Wer arbeitet an solchen Geräte und was kostet der Spaß?“
Damit hatte sich Curd nicht beschäftigt, weil er diese biometrische Technik für ein Personenüberwachungssystem ungeeignet fand. Schon gar nicht wusste er, ob es solche Geräte schon gab und noch weniger, was sie kosten würden.
„Ich habe die Methode für nicht praktikabel gehalten.“
„Mein Kollege John von GE, den ich letzte Woche in Philadelphia bei einem Sidetalk traf, sieht das aber anders. Und sie wollen doch nicht behaupten, dass sie schlauer sind als John. Immerhin ist er wie ich Vorstand für Research and Development. Er setzt auf Ear Recognition. Das ist besser als finger print und face recognition. An der School of Information Engineering in Beijing“, er sagte Besching mit Betonung auf dem 'e', „forschen Li Yuan, Zhichun Mu und Zhengguang Zu daran. Und das sind Koryphäen. Nach ihrer langen Vorbereitung hätte ich schon erwartet, dass sie die erwähnen.“
„Langhaarige Frisuren sind aber recht ungünstig dafür“, wagte Curd einzuwenden.
„Ich will von ihnen jetzt keine Antwort hören und diskutieren werden wir das hier auch nicht. Sie können darüber nichts wissen, weil sie sich nicht vorbereitet haben. Machen Sie einen neuen Termin aus. Herr Franzen, ich hätte schon erwartet, dass sie das besser managen.“
Da war es wieder. Der Assistent ist schuld. Curd machte noch einen Versuch.
„Es gibt folgende Möglichkeiten. Passive, als da sind Fingerabdruck, Hautwiderstand, Handvenenverlauf, Handgeometrie, Fingergeometrie, Nagelbett, Iris, Retina, Ohrgeometrie, Gesichtsmerkmale, Körpermaße, Körpergeruch, DNA, Lichtreflexion auf der Haut oder EEG und aktive wie Stimme, Lippenbewegung, Mimik, Unterschrift, Tippverhalten, Sitzverhalten oder Gangverhalten. Ich habe die für ihre Eignung auf die Personenüberwachung untersucht und bin wie in meinen Folien erwähnt zu dem Schluss gekommen....“
„Schluss jetzt. Habe ich mich unklar ausgedrückt? Sie sind nicht richtig vorbereitet. Stehlen sie mir nicht weiter meine Lebenszeit. Machen sie mit äh.. Franzen einen Termin aus. Auf Wiedersehen, Herr Hofmann.“ Anscheinend war Wienands Lebenszeit herausragend wertvoll, dachte Curd, sagte aber artig: „Auf Wiedersehen, Herr Prof. Wienand.“ Einer der anderen Anwesenden grinste kaum bemerkbar in sich hinein. Das versöhnte Curd.
„Die machen bei GE Geräte für die Immigrationsschalter. Da hat das mit der Ohrgeometrie durchaus Sinn. Für das, was ich machen soll, nämlich Personen aus einer Menschenschar herauszufiltern, geht das aber nicht.“ Curd war verärgert.
„Aber du kannst doch nicht verlangen, dass der Professor das so differenziert sieht.“ Karl schlürfte grinsend einen Cafe latte in der Lobby im Eingangsbereich.
„Kann ich nicht? Er ist doch Professor“, empörte sich Curd, der für Ironie gerade nicht empfänglich war.
„Es geht doch nur darum, dass die beiden, John und er, über eine Kooperation nachdenken. Welche Systeme hergestellt werden, ist doch völlig egal.“
„Aber wir wollen sie doch auch verkaufen, oder?“
„Schon. Das ist aber Sache des Marketings. Nicht dein Metier.“
„So kann man das aber nicht für die Überwachung verwenden.“
„Wenn's nicht funktioniert, bist du schuld. Das ist doch ganz einfach.“
„Super.“
„Aber keine Sorge, die Politik kann sich schnell wieder ändern. Und dann ist GE wieder draußen.“
„Ach so? Ich soll das gar nicht ernst nehmen.“
„Doch, doch, erst einmal schon. Wenn es anders ist, sage ich es dir rechtzeitig.“
„Man muss das aber langfristig planen können. Sonst wird das nichts.“
„Typisches Argument von Fachidioten. Du verstehst noch immer nicht, wie das Geschäft tickt. Alt genug wärst du doch. Oder bist du vielleicht schon zu alt?“
„Ich bin davon ausgegangen, dass wir eine völlig neuartige Technik entwickeln, die einzigartig sein wird und die die Sicherheit von Personen vor allem in Ballungsräumen signifikant erhöhen wird.“
„Klingt phantastisch. George Orwell würde vor Neid erblassen.“
„Sag' diesen Satz nicht deinem Herrn und Meister.“
„Haha.“
„Aber im Ernst. Findest du nicht auch, dass das eine gute Sache ist? Wie sonst sollen wir in Zukunft Anschläge vermeiden?“
„Meinst du überhaupt, dass dein Projekt machbar ist?“
„Hast du denn bei deinem grandiosen Studium nicht mehr gelernt, als deine iPhone – Apps herzuzeigen? Klar braucht man für eine Personendatenbank und die Analyse viel Rechnerpower und Speicher. Ist aber kein Problem mehr. Als ich anfing, hat man mir erzählt, dass ein paar Jahre davor ein 4K Kernspeichermodul 80.000 Euro gekostet hat, umgerechnet. Und das wurde von kleinen Asiatinnen handgemacht, jedes bit ein kleiner Ferritkern mit vier Drähten umwickelt. Warum das so war, könnte ich dir erzählen, aber ich denke, du bist nicht interessiert. Und du weißt wahrscheinlich nicht einmal, was 4K ist. Sind nämlich 4000 Worte à 16 bit. Ach so, das verstehst du auch nicht. In unserer Sprache ist ein Wort so was wie zwei Buchstaben, also sind 4K 8000 Buchstaben. Und ein MB sind Tausend K und ein GB sind eine Million K und ein Terabyte sind eine Milliarde K oder 2 Billionen Buchstaben. Das bedeutet, dass du in deinem chicen neuen PC mit 1 TB die gesamte Staatsbibliothek speichern könntest. Bringt dir aber nichts, weil du ohnehin nichts liest. Wir haben früher nicht im Traum daran gedacht, dass in einem Smartphone mehr Rechenkapazität steckt als im größten IBM - Rechenzentrum der Welt aus dem Jahre 1985 mit seinen klimatisierten Hallen und einem eigenen Kraftwerk.“
„Hör auf, hör auf, ist ja gut.“
„Euch Jungspunden ist die Ehrfurcht vor der Technik völlig abhanden gekommen, weil es sie so einfach und billig gibt. Sogar das ist ein richtiges Wunder. Ein Rechner, der so viel kann wie dein blödes iPhone hätte vor zwanzig Jahren ungefähr 50 Millionen Dollar gekostet, kapiert?“
„Und was nützt dir deine Ehrfurcht?“
„Hä, was? Weiß ich jetzt auch nicht. Aber deine Frage war ja, ob das machbar ist. Ja, ist es, eben weil die Technologie so leistungsfähig und billig ist und vor allem auch so klein und sparsam im Stromverbrauch. Ist schon unheimlich, wie sich das entwickelt hat.“ Curd sagte das mehr zu sich selbst.
„Sag mal, warum hat denn mein PC eine 1 TB - Platte und 8 Gigabyte Arbeitsspeicher, wenn ich doch nicht die ganze Staatsbibliothek speichern will?“
„Weil sie dir das als Lebensgefühl und Imagegewinn verkaufen. Für Werbung, entschuldige das heißt heute Kommunikation, haben sie die weltbesten und teuersten Leute, weil sie so viel Geld verdienen, dass sie nicht mehr wissen, wohin damit. Apple baut für 3,9 Milliarden einen neuen Firmensitz von unserem Geld, weil sie nicht alles nur für die Pawlow'sche Konditionierung ihrer Klientel ausgeben können. Und die Microsofts dieser Welt stecken mit den Intels unter einer Decke. Das wunderbare Wischen und Spreizen und was es sonst noch alles für Schnickschnack gibt, braucht mindestens 70 bis 80 Prozent der Leistung, so dass fürs Eigentliche nicht mehr so viel übrig bleibt. Beim Speicher muss ich allerdings erwähnen, dass die Videos viel Platz brauchen. Aber musst du wirklich hundert Spielfilme auf deinem PC haben, die du alle schon gesehen hast?“
„Das ist doch pervers.“
„Na und? Ihr alle steht doch auf den Quatsch und gebt damit an.“
„Ich muss los.“ Mit sanfter Musik von Mozart erinnerte das iPhone Karl an den nächsten Termin.
„Sklave.“
„Ciao, Curd. Ich habe große Ehrfurcht vor deinem Wissen und deiner Einfalt.“
„Warum heißt du eigentlich Karl? In deinem Alter heißt man Kevin oder Oliver oder Jerome und nicht althochdeutsch Karl. Nenn' dich wenigstens Carl mit 'C'.“
„Ich stamme aus einer sehr konservativen Familie. Meine Geschwister heißen Rudolf, Hermann und Gretel. Und es bleibt bei 'K'.“
„Du wirst sehen, für die Mädchen wirst du etwas ganz Besonderes sein, Karl mit 'K'. Wenn du einmal Zeit für sie haben wirst und dann immer noch jung genug bist - oder wenigstens reich.“
„Vorsintflutliche Macho - Weltsicht, Blödmann. Ich muss los.“
„Ciao, Karlchen.“ Curd erntete einen wütenden Blick. Dann war Karl weg.