Читать книгу Fortschritt - Friedrich Haugg - Страница 5
Zwei
ОглавлениеDie technische Schwierigkeit bei der Erkennung einer Person am Gangverhalten, amerikanisch 'gait recognition', ist es, aus den Videoaufzeichnungen das Typische am Bewegungsablauf herauszufiltern. Aus der Forschung wusste man, dass dieser Ablauf genauso individuell und einzigartig ist wie ein Fingerabdruck. In den bewegten Bildern der Videoüberwachung sah man aber die Personen von allen Seiten und in allen möglichen Bewegungsformen, vom Schlendern bis zum eiligen Schritt. Curds Team entschied sich dafür, nicht Pixelbilder zu extrahieren, sondern nur Bewegungsvektoren mit ein paar wichtigen Punkten zu bestimmen: Die Bewegungen des Hüft- und Kniegelenks, die Körperneigung, die Armbewegung und das Auf und Ab des Kopfes. Die grundlegenden Ideen dazu fanden sie in vielen Forschungsprojekten aus den USA und China. Sie berechneten nicht die realen Geschwindigkeiten, sondern die Parameter des Schwingungsrhythmus und die Längenverhältnisse. Damit waren sie weitgehend unabhängig von der augenblicklichen Gehweise des Probanden und es genügten bereits drei Schritte zur präzisen Erkennung. Sie entschieden sich auch für diese Lösung, weil sie extrem speichersparend sein würde. Den Algorithmen für den Extraktionsprozess schenkten sie besondere Aufmerksamkeit. Diese sollten bereits in den lokalen Geräten vor Ort optimal abgearbeitet werden, um zentrale Rechner zu entlasten.
Den Marketingleuten passte die Methode zur Füllung der Datenbank. Man würde mit Null beginnen und von Anfang an operativ sein. Jede auf einem Video erkennbare Person würde dann mit den lokalen Geräten extrahiert und die Daten an den Server gesandt. Dort wurde der Datensatz mit den bereits identifizierten Personen in der Datenbank verglichen und jeder neue Datensatz gespeichert. Am Anfang würde man natürlich keine Treffer haben. Aber das würde sich schnell ändern. Hatte man genügend lokale Geräte im Einsatz, wäre die erst einmal angestrebte Zahl von hundert Millionen identifizierter Personen bald erreicht. Jedes einzelne Gerät konnte an einem guten Platz stündlich mehr als hundert Personen erfassen. Am Tag wären das in etwa Tausend. Und in einem Jahr nicht weniger als 100.000, statistisch gerechnet und unter Abzug wiederkehrender Personen. In einer großen, internationalen Metropole wären das schon 10 Millionen im Jahr. Noch effektiver war das auf Flughäfen. London Heathrow hatte zum Beispiel über 70 Millionen Passagiere pro Jahr. An solchen Orten genügten schon ein paar Hundert lokale Geräte mit hoher Leistung. Natürlich waren alle Personen erst einmal anonym und bekamen einfach fortlaufende Id - Nummern. Das eigentlich Wertvolle war, dass man für jede erkannte Person ein Bewegungsmuster aufstellen konnte. Wurde eine Person namentlich identifizierbar, zum Beispiel nach Benutzung eines Geldautomaten oder der Kreditkarte, so wurde die Id gegen die richtigen Personendaten automatisch ausgetauscht. Die Daten von den Banken würde man durch Kooperation mit den entsprechenden Sicherheitsorganen erhalten. Die bereits bestehenden Verfahren, wie die Gesichtserkennung, konnten ebenfalls auf einfache Weise kombiniert werden. Mit diesem Konzept ließ sich eine ordentliche Durchdringung in Bezug auf die nahezu vollständige Überwachung der Menschen erwarten. Damit würde sich die Sicherheit der Bürger essentiell steigern lassen. Curd meinte sogar, dass sein System kriminelle oder terroristische Taten weitgehend verhindern wird, weil das Risiko für die Täter zu hoch wäre. Außerdem gefiel es ihm, dass es weder GPS-Handys noch Chips unter der Haut benötigte, um die Menschen zu überwachen. Kein Mensch würde durch solche Eingriffe in seiner Privatsphäre belästigt werden. Er würde die Überwachung nicht einmal bemerken.
Für die nötige Prozessorleistung sorgte 'distributed computing' mit Abertausenden von weltweit verteilten PC's, deren Besitzer, anders als bei einem Botnetz, ihr Einverständnis gegeben hatten. Sie hatten aber keine Möglichkeit zu erkennen, was diese Software wirklich machte. Man sagte nur, es ginge um Sicherheit und Umwelt, was höchstens irreführend, aber nicht gelogen war. Es würde keinerlei Nachteile in Bezug auf die Nutzung und die Lebensdauer ihres PC entstehen. Die meisten Geräte waren ohnehin Firmen-PC's von Unternehmen, die mit Curds Firma gute Zusammenarbeit pflegten. Nach der automatischen Installation der Software merkten die Nutzer nichts mehr davon, weil sie einfach mit niedrigster Priorität die Pausen nutzte. Die eigentliche Datenbank war zentral und mit geschätzten 50 Terabyte gar nicht so übermäßig groß. Sie war mehrfach redundant vorhanden. Die Orte der physischen Datenbankrechner blieben alle streng geheim. Im nächsten Schritt würde man den Cloud – Dienst eines namhaften Providers in Anspruch nehmen. Das machte die Sache noch einfacher und kostengünstiger, weil die Sicherung der Daten und das Kapazitätsmanagement von denen übernommen wurde. Viele bedeutende Unternehmen machten das schon so. Die Cloud löste die eigenen teuren Rechenzentren komplett ab.
Dann gab es noch die rechtlichen Aspekte. Für die war ein eigenes Projektteam zuständig, das für alle wichtigen Länder die Rechtslage bezüglich des Datenschutzes prüfte und juristische Lösungen erarbeitete. In Deutschland war die Regelung relativ scharf, so dass die Anwälte im Projektteam diese erst einmal zugrunde legten und dann andere Länder auf unbequeme Abweichungen untersuchten. Davon gab es aber nicht viele. Der Paragraph 6b des Datenschutzgesetzes regelt die 'Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit optisch-elektronischen Einrichtungen'. Er besagt:
'(1) Die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videoüberwachung) ist nur zulässig, soweit sie 1. zur Aufgabenerfüllung öffentlicher Stellen, 2. zur Wahrnehmung des Hausrechts oder 3. zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen.'
Das war juristisch einfach: Öffentliche Stellen oder Firmen hatten berechtigtes Interesse, ja sogar die Aufgabe, ihre Menschen und Einrichtungen zu schützen und das überwog auf jeden Fall persönliche Interessen einzelner.
'(2) Der Umstand der Beobachtung und die verantwortliche Stelle sind durch geeignete Maßnahmen erkennbar zu machen.'
'2' war ein bisschen schwieriger, aber letztlich auch kein wirkliches Problem. Ein irgendwo platziertes, kleines Schildchen würde das Rechtsbedürfnis befriedigen. Es durfte nur nicht deutlich sichtbar sein, sonst wären die Verdächtigen ja gewarnt.
'(3) Die Verarbeitung oder Nutzung von nach Absatz 1 erhobenen Daten ist zulässig, wenn sie zum Erreichen des verfolgten Zwecks erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen. Für einen anderen Zweck dürfen sie nur verarbeitet oder genutzt werden, soweit dies zur Abwehr von Gefahren für die staatliche und öffentliche Sicherheit sowie zur Verfolgung von Straftaten erforderlich ist.'
Das war ohnehin gegeben, also kein Problem.
'(4) Werden durch Videoüberwachung erhobene Daten einer bestimmten Person zugeordnet, ist diese über eine Verarbeitung oder Nutzung entsprechend den §§ 19a und 33 zu benachrichtigen.'
Bei genauerem Hinsehen war dieser Absatz des Paragraphen 6b blödsinnig. Bei Verdachtsfällen krimineller Handlungen wurden schließlich observierte Personen auch nicht benachrichtigt. Dieser Absatz wurde von vorrangigen Verordnungen und Gesetzen mühelos ausgehebelt.
(5) Die Daten sind unverzüglich zu löschen, wenn sie zur Erreichung des Zwecks nicht mehr erforderlich sind oder schutzwürdige Interessen der Betroffenen einer weiteren Speicherung entgegenstehen.
Auch das war kein Problem für die Anwälte. Der Zweck war erst erreicht, wenn eine Person rechtskräftig verurteilt war. Und ob man dann die Daten löschen musste, sollte das Gericht entscheiden. Interessanter war die Frage, ob es zulässig ist, alle Menschen unter Generalverdacht zu stellen. Darüber gab es aber in keinem Staat eine Einigung. Wie sollte man sich denn auf die Beobachtung von Verdächtigen beschränken, wenn sie erst durch Beobachtung zu Verdächtigen wurden. Insgesamt war die Rechtslage nach genauer Untersuchung also recht unproblematisch.
Warum Curd das alles machen konnte und dafür ein großes Projektteam zusammengestellt hatte, lag einfach nur daran, dass die Kooperation mit GE nicht mehr aktuell war. In ihrem weisen Ratschluss hatten die Oberen beschlossen, ein solches System selbst zu entwickeln. Eine Firma, die das schon konnte und die man deswegen gekauft hätte, gab es nicht. Also bekam Curd die Mittel für das Projekt. Mit der Auflage, in einem Jahr ein marktfähiges Produkt zu haben. Curd war sich sicher, dass das unmöglich war und teilte seine Bedenken Karl mit. Karl meinte, dass das jeder wüsste, aber man den weltfremden Wissenschaftlern Druck machen müsse, weil sie sonst nie zum Ende kommen würden. Das Credo der Entwickler: 'Das Bessere ist der Feind des Guten' sei für die Geldhüter das Schreckgespenst schlechthin und die Garantie dafür, dass sie ihr wertvolles Geld zum Fenster hinauswerfen würden. Curd fügte sich wider besseren Wissens dem Zeitdiktat. Schließlich konnte in einem ganzen Jahr eine Menge passieren.
Was den Bossen seines Unternehmens besonders gefiel, war die Tatsache, dass sie Geräte in riesiger Stückzahl in drei Varianten dann sofort verkaufen konnten: Geräte zum Anschluss an bestehende Kameras, Geräte mit integrierter Kamera und mobile Geräte, alle zu einem Stückpreis von weniger als 100 Euro bis etwa 300 Euro bei besonders hoher Prozessorleistung. Sie enthielten nämlich nur ein paar Chips inklusive des GPS und der Telekommunikation. Das Eigentliche war die raffinierte Software, deren Vervielfältigung ja nichts kostete. Die zweite Gelddruckmaschine war die monatliche Benutzungsgebühr für die Datenbank und die Auswertungen für den jeweiligen Auftraggeber, dem sämtliche weltweit erfassten Daten zur Verfügung standen. Ein gewaltiger Fortschritt, der das Unternehmen zum Marktführer und immens reich machen würde.
In der Chefetage gab es eine heftige Diskussion zwischen den Hütern alter Wertvorstellungen und den moderner Denkenden, über die Frage, an wen man das System verkaufen könne. Man beschloss mit leichter Mehrheit, dass es keine Einschränkungen an den Kundenkreis geben soll. Der Paragraph 6b (1) sprach von Hausrecht und dieser Begriff deutete darauf hin, dass damit auch die Nutzung durch Firmen und damit aller denkbaren Organisationen abgedeckt wäre. Man müsste die Kunden im Vertrag nur unterschreiben lassen, dass sie mit den Daten keinen Missbrauch treiben und ihre jeweiligen Landesgesetze nicht verletzen würden, dann wäre man genügend juristisch abgesichert. Ein weiterer Streitpunkt war, ob die Kunden alle und ohne Einschränkung auf die gesamte zentrale Datenbank zugreifen dürften. Auch hier setzten sich die Realisten durch und den CFO freute es. Schließlich war es wenig hilfreich, den Kunden nur ihre eigenen Daten zur Verfügung zu stellen. Anders als bei den ewigen Kompetenzstreitigkeiten der verschiedenen Behörden, hatten hier die Nutzer Zugriff auf einen integrierten und umfassenden Datensatz, der von Tag zu Tag automatisch besser wurde.
„Eines musst du mir erklären, Curd“, Karl und er standen wieder einmal bei einem Cafe Latte zusammen. „Wenn ihr eine Person habt, könnt ihr seine Bewegung speichern. Wie genau geht das aber, dass aus der anonymen Id ein Name wird?“
„Wir bekommen zum Beispiel über die Geldautomatenbetreiber und das sind nicht so viele, weil die meisten Banken das 'outgesourct' haben, die Namen eines Kunden, der Geld aus einem Automaten geholt hat und den genauen Zeitpunkt. Das vergleichen wir mit dem Bewegungspfad. Gibt es eine Übereinstimmung mit der Zeit und dem Ort, haben wir ihn. Und der bleibt dann in der Datenbank, vermutlich länger als er lebt. Und das Gleiche machen wir mit den paar Geldabwicklern für die großen Unternehmen, den Mietautozentralen und den Fluggesellschaften. Wir versuchen es auch mit den Telekommunikationsunternehmen, aber da ist die Identifikation ein wenig ungenau, weil die nur die Zelle angeben können, in der das Handy aktiv war. Wird aber besser, wenn alle Handys GPS haben.“
„Das heißt, wenn einer nie fliegt, nie ein Auto mietet, nicht mobil telefoniert und immer bar bezahlt, dann kriegt ihr ihn nie.“
„Außer er hat einen festen Wohnsitz. Dahin geht er ja wohl immer wieder und bleibt da für einige Zeit, zum Beispiel nachts. Das finden wir heraus. Und die Adressdaten haben wir sowieso völlig legal gekauft.“
„Könnten aber mehrere sein, bei Mietshäusern zum Beispiel?“
„Stimmt. Dann ordnen wir mehrere zu. Da wir aber über die gait recognition auch ungefähres Alter und Geschlecht herausfinden, sogar einen Hinweis auf den Bildungsstand und die wirtschaftliche Situation bekommen, wird das schon sehr eingeschränkt. Die Adressdaten enthalten ja diese Informationen. Das spielt alles wunderbar zusammen.“
„Geht aber nicht im Kongo, vermute ich mal.“
„Wird auch in diesen Staaten immer besser.“
„Und wenn ein Terrorist in einem Lager in den Bergen Afghanistans lebt?“
„Da bringen wir unsere mobilen Geräte an einer Amidrohne an“, lachte Curd. „Nein, im Ernst. Da kann er gerne bleiben. Aber wenn er eine Anlaufstelle hat, wie heißt das so schön, eine konspirative Wohnung, haben wir ihn.“
„Alles verstanden. Ihr habt das gut durchdacht. Aber wie kriegt ihr zum Beispiel die Banken dazu, euch die Daten zu geben?“
„Das ist nicht so schwer, wie du vielleicht denkst. Wir wollen ja nur die Namen und nicht die Kontodaten. Was einer auf dem Konto hat, ist uns egal. Darum kümmern sich Finanzämter oder die Kripo. Die Namen kann man kaufen, oft sogar von der Bank selbst.“
„Ach, und damit ist es auch kein Problem, dass private Firmen das System kriegen. Das ist so etwas wie der ohnehin übliche Adressenhandel, so ähnlich jedenfalls.“
„Du hast es erfasst, Karlchen.“
„Das ist aber schon unheimlich. Mit dem Namen können Böswillige eine Menge verknüpfen. Und wenn sie dann auch noch den Bewegungspfad haben, meine Güte.“
„Ja schon. Aber damit haben wir nichts zu tun. Das liegt in der Verantwortung der Nutzer.“
Die äußerste Geheimhaltung des gesamten Vorhabens war Chefsache. Zum Schein wurde ein Projekt ersonnen, das den kaum zu verheimlichenden Aufwand für Außenstehende plausibel machen würde. Man entwickle angeblich ein integriertes Videoüberwachungssystem für Großstädte, um der großen Konkurrenz aus China etwas Preisgünstigeres entgegenzusetzen zu haben. Das Täuschungsprojekt wurde in Broschüren detailliert geschildert und unter dem Siegel der Verschwiegenheit an Schlüsselpersonen kommuniziert, von denen man sicher war, sie würden es sofort weitersagen.
Im Projektteam selbst herrschte ein strenges 'need to know' – Prinzip. Nur fünf Entwickler, die die Algorithmen erarbeiteten, konnten die ganze Tragweite ahnen. Sie wurden fürstlich bezahlt und von einer eigenen internen Abteilung wie bekannte Übeltäter rund um die Uhr mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln observiert. Technische Mittel, die vom Leiter dieser Sicherheitsabteilung, genauer der Leiterin, denn es war eine geheimnisvolle Frau, Dr. Sarah Bietigmann, auf unbekannten Wegen von einem der weltbesten Geheimdienste beschafft worden waren. Dafür bekam dieses Land das Recht, das neue System kostenlos nutzen und für seine Zwecke auch weiterentwickeln zu dürfen. Um die Sicherheit nach bestem Standard zu gewährleisten, hat man von autoritären Strukturen abgekupfert und eine harmlos aussehende 'Stabsstelle für Firmendokumentation' eingerichtet. Besetzt war sie mit einem ehemaligen hochqualifizierten Stasi – Mitarbeiter. Diese Stelle berichtete direkt an den Vorstand und ihre einzige Aufgabe war es, die Sicherheitsabteilung zu kontrollieren. Selbst die Sicherheitschefin wusste nichts davon, Curd natürlich auch nicht.
Curd merkte nichts von einer Observierung, aber er war sich im Klaren darüber, dass er auch betroffen war. Dazu war er viel zu wichtig, denn nur bei ihm liefen alle Fäden zusammen. Es war wie ein Treppenwitz: Er, der das System für die Sicherheit der Menschen entwickeln würde, wurde behandelt wie einer, der genau diese Sicherheit gefährden könnte.
Curd hatte sich einen Nachmittag frei genommen, was sehr selten vorkam. Aber er musste hie und da abschalten, vor allem dann, wenn es ein grundsätzliches, technisches Problem gab. Es gab natürlich regelmäßige Meetings mit allen aktuellen Kreativitätstechniken. Aber Lösungen fand Curd eher, wenn er alleine war und nicht in der gewohnten Umgebung. Mochten die anderen seine Teamfähigkeit ruhig bezweifeln und ihn heimlich kritisieren, die meisten entscheidenden Ideen kamen von ihm. Er gab nicht damit an, aber er wusste es.
Er fuhr mit der S-Bahn nach Starnberg und entschied sich für das Undosa, schon weil er dann nicht weit gehen musste. Curd sah zwar sehr trendy aus, aber er joggte nicht. 'No sports' fand er für sich optimal und so verschloss er sich vielen verlockenden Konsumangeboten. Der freie Blick auf den heute spiegelglatten See in seiner ganzen Länge mit der Zugspitze in der Ferne, versöhnte ihn mit der Lokalität, die er mit ihren spießigen Veranstaltungen, wie den Tanztee oder den Ü30 - und Ü40 - Partys verachtete. Das Undosa repräsentierte genau den Mix der Münchener Gesellschaft aus Schicki – Mickis und den Armseligen, die sich in ihrer Nähe sonnten.
An diesem strahlend schönen Mittwochnachmittag fanden sich erstaunlich wenige Gäste ein und er saß alleine an einem Tisch direkt an der steinernen Brüstung und genoss seinen Latte macchiato. Die Zeiten von 'ein Kännchen Kaffee, bitte' waren schließlich lange vorbei. Obwohl, am übernächsten Tisch saß ein weiblicher Gast und hatte tatsächlich ein kleines Porzellankännchen vor sich stehen und schenkte sich eine Flüssigkeit in eine kleine Tasse ein, die dem Aussehen nach Kaffee sein konnte. Curd musste wegen des Anachronismus der Szene grinsen. Es fiel wohl etwas mitleidig aus, denn die Dame sah ihn erstaunt und ein wenig indigniert an. Curd machte beschämt eine beruhigende Geste und hoffte, sie würde das richtig verstehen und vor allem ihn nicht für hoffnungslos arrogant halten.
Da sich ihr Gesichtsausdruck weiter bewölkte, stand er auf und trat an ihren Tisch. „Entschuldigen sie bitte, ich wollte sie nicht beleidigen.“
„Wieso, haben sie etwas gesagt, was ich vielleicht nicht gehört habe?“ Die Stimme war ruhig, tief und angenehm. Curd hasste die piepsigen Kindchenstimmen, die die Amerikaner an ihren Babes so liebten.
„Nein. Aber ich habe gegrinst.“
„Ist nicht verboten, meines Wissens. Nur eine Frage: Warum haben sie gegrinst?“
„Kännchen Kaffee.“
„Ja, gibt es hier. Das Publikum kennt noch die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts.“
„Aber sie doch nicht.“
„Danke für den Versuch eines Kompliments. Aber mein Alter ist so wie es ist. Keine besondere Leistung.“
„So habe ich das gar nicht gemeint.“ Curd war konzeptlos.
„Ist schon gut. Lassen sie ihren Latte macchiato nicht kalt werden. Wäre schade um den Genuss, den sie sich bestimmt verdient haben.“
Etwas beschämt murmelte Curd eine nochmalige Entschuldigung und setzte sich wieder an seinen Platz. Lange konnte er sein Gegenüber nicht mehr analysieren, weil es bezahlte und ging. Auffällig waren ihre eleganten, energiegeladenen und dabei völlig entspannten Bewegungen, deren Schönheit von den perfekten Proportionen von Händen, Armen und Beinen unterstützt wurde. Curd musste noch einmal grinsen, weil er durch seine Arbeit ein Fachmann für die menschliche Bewegung geworden war. Er hatte Tausende von Aufnahmen gesehen und dabei ein Gefühl für harmonische Motorik entwickelt. Ein Parameter, den seine stumpfen Computer niemals berücksichtigen wurden. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass man Algorithmen dafür finden könnte. Schönheit war auf einer anderen Ebene. Aber es gab sie, das sagte ihm sein augenblickliches Hochgefühl. Was allerdings nutzlos war, weil die Dame ganz offensichtlich kein Interesse an ihm und seine Anmache als nicht besonders originell empfunden hatte.
In den nächsten Tagen begann ein interessanter Abschnitt der Entwicklung. Sie hatten alle Projektmitglieder zu Akteuren gemacht, die alleine oder in Gruppen und in verschiedenen Gangarten an den ersten Prototypen vorbeigingen und aufgenommen wurden. Es war der erste Test unter fast realen Bedingungen. Das Ergebnis war nicht besonders begeisternd, aber es zeigte, dass die Methoden grundsätzlich funktionierten. Die Fehlerrate war mit 24 Prozent viel zu hoch. Aber sie war deutlich unter den statistischen Wert von 50 Prozent gerutscht, der auf ein Versagen der Methode hingedeutet hätte. Die echten Fachleute wussten nun, dass es so gehen würde. Ein paar große Probleme waren aber noch zu meistern.
Curd setzte sich mit Dave zusammen. Dave McMillan war der Gegenentwurf zu Curd. Er war mittleren Alters, sah nicht nur aus wie ein 68er, sondern war es aus ganzem Herzen, obwohl er zu der Zeit im Sandkasten gespielt haben musste. Wahrscheinlich war er damals schon so intelligent, dass er die politische Bedeutung begriff und verinnerlichte. Seine Jeans waren wahrscheinlich auch aus dieser Zeit und damit mindestens genau so alt wie er, das T-Shirt olivgrün und mehr als zweihundert Mal gewaschen worden. Selbst die einstmals sicher provokante Aufschrift war nicht mehr erkennbar. Rasieren empfand Dave als Zeitverschwendung, deswegen unterzog er sich dieser Prozedur recht selten. Zum Friseur gehen konnte er sich sparen, weil da oben kaum noch etwas zu schneiden war. Wein betrachtete er als natürliches und gesundes Dopingmittel fürs Gehirn. Seine geliebte Zigarettenmarke, die Rothändle, das Kennzeichen jedes Programmierers der ersten Generation, gab es schon lange nicht mehr, daher drehte er sich selbst Zigaretten. Das machte er mehrfach am Tag, obwohl es ihm nichts nutzte. Er verfluchte die 'Diktatur der Minderheiten', die es geschafft hatten, ihm während der Arbeit das Rauchen zu verbieten. Er gewöhnte sich an diesen Zustand nur schwer. Aber ins Freie gehen, um eine zu rauchen, war unter seiner Menschenwürde. Er wies immer wieder darauf hin, dass er Alkohol und Nikotin als hervorragende Errungenschaften der Zivilisation betrachtete und es als Niedergang derselben empfand, dass wir im guten, alten Europa alles nachmachten, was die ungebildeten, militant intoleranten Amerikaner als Fortschritt betrachteten. Selbst den Gesundheitsfanatismus würden wir schon nachmachen. Als Nächstes käme sicher die Bekämpfung der Evolutionstheorie auf den Lehrplänen.
Dave war, wie sein Name nicht vermuten ließ, ein waschechter Niedersachse aus Peine, sogar da geboren. Schon viele Jahre in München, wo er Mathematik an der Uni studiert hatte, nicht an der technischen Universität, wie er häufig betonte, sondern richtig Mathematik, fand er das Leben hier sehr angenehm. Nur an die ungehobelte Sprache wollte er sich als echter Niedersachse, sprachlich die Toskana Deutschlands, nicht anpassen. Dave war klug genug zu erkennen, dass das, was er jetzt machte, im krassen Gegensatz zu seiner Weltanschauung und seinem Freiheitsbedürfnis stand. Aber der Job war sehr anspruchsvoll und er wollte das nicht Banausen überlassen, die nur Unheil anrichten würden.
„Es läuft schon ganz gut“, sagte Curd. Sie saßen alleine in seinem Büro, die Türe geschlossen und der Rauchmelder deaktiviert mit einem kleinen Trick, den Dave erfunden hatte. „Aber was machen wir, wenn jemand einen langen Mantel anhat?“
„Ich habe mir schon Gedanken gemacht, weil ich das von Anfang an als Schwierigkeit empfand. Aber wir finden das Knie, das habe ich schon ausprobiert. Mit einer rekursiven Formel, die von einer ungefähren Position aus startet.“
„Wie groß wird die Unsicherheit?“
„Kaum spürbar. Wir haben ja auch noch die anderen Parameter. Das wird ziemlich fehlerfrei.“
„Aber mit Kotze geht das dann gar nicht?“
„Was bitte? Wovon redest du. Was interessiert uns, ob einer gekotzt hat.“
Curd musste lachen. „Ich meine die Kotze, die aus Loden.“
„Wo ist Loden? Bist du jetzt völlig daneben, oder hab' ich zu viel getrunken?“
„Ja ja, Dave. Die Kotze verschwindet langsam aus unserem guten München. Sie ist ein Umhang aus verfilztem Wollstoff, eben Loden. Loden-Frey solltest du doch kennen. Na, vielleicht nicht, dort gibt es keinen Rotwein.“
„Haha.“
„Aber du weißt jetzt, was ich meine.“
„Nein.“
„Das ist ein Umhang, unter dem die Arme auch verschwinden. Ich glaube bei euch im preußischen Norden hieß das Pelerine.“
„Ach so. Dieser Filzstoff, ich erinnere mich jetzt, der ist nicht gut.“
„Eben.“
„Wenn die Touristen so durchsichtige Plastikumhänge anhaben, stört das nicht. Aber durch Filz können wir nicht gucken.“
„Was machen wir?“
„Verbieten. Mit dem Vermummungsverbot.“
„Geht nicht. Ist Tradition in Bayern.“
„Aber dann haben wir nur noch wenige Parameter. Der Rest ist kaum schätzbar.“
„Mein lieber Dave. Da können wir nur eins machen: Die Klappe halten und die Kotze vergessen.“
„Hm.“
„Fällt dir was ein?“
„Nein.“
„Also dann, das bleibt unter uns Zweien. Sonst kommen die Terroristen darauf und laufen alle mit Kotze herum.“
„Dann kriegen wir sie auch, mit dem Kotzendetektor.“
„Wir machen jetzt weiter. Sonst glaubt man noch an eine Verschwörung.“
Curd entfernte von den Wanzen die Geräuschunterdrückung, die Dave gebastelt hatte und setzte sich wieder an seine Arbeit. Fünf Minuten später trat ein unauffälliger, junger Mann in sein Büro.
„Haben wir einen Termin?“ fragte Curd.
„Nein nein, lassen sie sich nicht stören. Ich muss nur ihre Telefone kontrollieren. Da gab es eine Störung.“
„Okay, machen sie nur.“ So eine Scheiße, dachte Curd. Vorbei die vertraulichen Gespräche in seinem Büro. Er musste Dave warnen. Die Unterdrückung hat aber wohl funktioniert, sonst würden sie ja die Wanzen nicht checken.
Dank Daves Genialität rutschte die Fehlerrate immer weiter nach unten. Sie ließen zum Test ihre Leute alles Mögliche anziehen, auch lange Mäntel oder sogar Burkas. Burkas waren sehr schwierig. Aber im Gegensatz zu den Kotzen, war deren Stoff so dünn, dass man mit Daves Rekursion auch die Armbewegungen herausbekam. Trotzdem blieb der Fehler bei Burkas mindestens doppelt so hoch als bei 'normaler', menschenfreundlicher Kleidung. Das Burkaverbot hielten einige Teammitglieder für dringend nötig, andere, darunter auch Dave, waren sich nicht sicher. Einerseits wurden die Frauen damit offensichtlich unterdrückt und es konnten sich Selbstmordattentäter darunter leicht verstecken, andererseits gehörte es zu seinen Grundwerten, dass jeder so herumlaufen darf, wie er es möchte. Kotzen testeten sie nicht. Und es kam gottlob auch keiner auf die Idee, so ein Bekleidungsstück hervorzuziehen.
Curd hatte wieder einmal eine kurze Auszeit genommen. Er blieb in München. In der Menschenmenge, die sich mit ihm durch die Kaufingerstraße ohne eine Hauptrichtung hin und her schob, fühlte er sich merkwürdig geborgen. Er war nicht alleine, aber er musste mit niemandem reden und konnte seine Gedanken frei schweifen lassen. Ganz anders als das Alleinsein in einem Bergwald, war für ihn dieses Gefühl der Geborgenheit und Ruhe nicht rational erklärbar. Es war wohl atavistisch in den vererbten Verhaltensweisen programmiert. Die Sicherheit des Rudels, in dem man die Verantwortung für sich selbst delegiert hatte. Dabei waren in dieser Menschenmenge womöglich einige Figuren, die die Überwachung herausfiltern würde und die alles andere als zu seiner Sicherheit beitrugen. Vor einiger Zeit hätte er solche Gedanken nie gehabt und sich höchstens genüsslich über Gestalten amüsiert, die aus dem Rahmen fielen. Seine Arbeit erzeugte ihn ihm tendenziell eine Art von Verfolgungswahn, den die Sicherheitsverantwortlichen bestimmt schon berufsmäßig ausgebildet hatten. Eindeutig schmälerte das den Genuss, sich unter vielen Menschen aufzuhalten.
Mittlerweile hatte ihn die Masse auf den Marienplatz geschoben. Es war ihm egal, er hatte ohnehin kein Ziel. Eine größere Gruppe von Japanern wartete mit entsicherten Kameras auf das Auftauchen der Schäffler oben auf dem Rathausturm, einer Attraktion, die wohl nur Touristen kannten. Plötzlich nahm sein Auge einen Bewegungsablauf wahr und alarmierte sein Bewusstsein. Er schwenkte seinen Blick auf die Stelle, die den Alarm ausgelöst hatte. Und richtig: Das kannte er. Er näherte sich von hinten und hielt in ordentlichem Abstand Schritt. 'Ich bin ein genialer Beschatter', fand er.
„Hallo, Latte Macchiato“, lachte sie ihn an.
Er verbarg sein Erschrecken. „Hallo, Kännchen Kaffee.“
„Verfolgen sie mich?“
„Nein. Nein, natürlich nicht. Das war purer Zufall.“
„Es gibt keinen Zufall.“
„Gibt es doch.“
„Meinen sie das jetzt wissenschaftlich oder esoterisch?“ Curd war sich nicht sicher, ob sie das ernst meinte.
„Also wissenschaftlich gibt es den Zufall sicher, nach heutigem Stand der Wissenschaft.“
„Gott sei Dank. Ich dachte schon...“
„Hab' ich nicht!“
„Ist ja gut.
„Friede?“
„War denn Krieg?“
„Gehen sie mit mir einen Kaffee trinken? Zum Beispiel da droben in dem Kaffeehaus im ersten Stock?
„Und ich bekomme ein Kännchen Kaffee?“
„Klar, hier immer.“
„Also gut, ich habe eine halbe Stunde.“
Es wurde etwas länger, nicht viel, aber doch etwas, registrierte Curd.
„Ist das jetzt schon unser zweites Date?“, fragte er.
„Enttäuschen sie mich nicht mit amerikanisch schwachsinnigen Spielregeln. Ich verlange schon etwas mehr Phantasie, wenn man mich anmachen will.“
„Sie sind sehr hart mit mir. Aber wer sagt ihnen, dass es sich um eine Anmache handelt?“
„Tut es nicht? Sie sind doch so ein toller Mann, mit ihren Turnschühchen.“ Von da an zog Curd nie mehr Sneakers zum Anzug an. Aber erst einmal war er ein bisschen sauer. Er schaute in ihre Augen. Ziemlich unergründlich, fand er und sein Ärger war weg.
„Haben sie einen Namen?“, fragte er.
„Ja.“
„Und teilen sie ihn mir mit?“
„Ja, zu gegebener Zeit.“
„Also jetzt.“
„Nein. Ich muss jetzt entschweben. Auf Wiedersehen, schöner Unbekannter.“ Und weg war sie, einen Duft hinterlassend, den Curd nicht kannte, aber der ihn sehr tief außerhalb seines Bewusstseins berührte. Wie kann er sie ohne Kontaktdaten wieder treffen, dachte das Rationale, aber weiter innen wusste etwas, dass es geschehen würde.
Die Arbeit schritt zügig voran und dank Daves Genialität konnte Curd eine Management – Präsentation ankündigen, nur ein Vierteljahr nach dem geplanten Termin. Interessanterweise kritisierte keiner diesen Verzug. Karl hatte wohl recht behalten und niemand hat die Planung für bare Münze genommen. Sie gestalteten die Präsentation wie eine Live – Vorführung, bei der die Manager selbst erfasst wurden und darüber geradezu in Euphorie ausbrachen. Die Augen des Finanzchefs Förster glänzten am meisten und Curd bildete sich ein, kleine blitzende Euromünzen darin zu sehen. Der Vorstandsvorsitzende Dr. Dr. h.c. Malte Reutmann blieb als einziger ruhig und überlegen. Er hatte schon viel erlebt, aber sein Gesichtsausdruck deutete auf Zufriedenheit hin.
„Und wann produzieren sie jetzt endlich Geräte“, fragte Förster. „Können wir mit dem Verkaufen schon anfangen?“
„Bitte jetzt keine Fehler machen, indem wir zu schnell schießen“, wandte Wienand ein. „Ich bin für den angedachten Feldversuch mit der Münchener Polizei. Vertraulich und ohne etwas zu verlangen.“
Reutmann nickte nur und das war gleichbedeutend mit einem Beschluss.
Wienand fragte Curd: „Können sie einige Prototypen nehmen und vor allem, haben sie die Rechnerinfrastruktur für den Feldversuch bereit gestellt?“
Curd zögerte kurz, weil er seinen Projektstatus in Gedanken durchcheckte. Er kam zu dem Schluss, dass der Feldversuch nicht schlecht wäre. Er war so nicht vorgesehen und er bemerkte, dass auch Karl überrascht war. Wieder so eine spontane Eingebung von Wienand. Aber nicht schlecht, diesmal.
„Ja, wir können das machen. Wenn sie uns Ansprechpartner nennen, können wir die Details mit der Polizei besprechen.“
„Herr Franzen, machen sie das.“
Karlchen nickte.
Unerwartet wurde Curd ins Penthouse zitiert. Er hatte ein mulmiges Gefühl, weil das noch nie vorgekommen war. Überspringen der Hierarchie war nicht der Stil des Hauses. Er wurde von Reutmann herzlich begrüßt. Kaffee gab es nicht.
„Ich habe leider nur wenig Zeit, Herr Hofmann. Aber ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.“
Curd nickte höflich steif.
„Erstarren sie doch nicht in Ehrfurcht. Ich bin tatsächlich ein normaler Mensch mit Zipperlein, die alle in meinem Alter mehr oder weniger plagen und ich bin hier in dieser Position, weil mein Wollen und der Zufall gut zusammengespielt haben. Was ich sagen wollte: Wir machen da etwas sehr Gutes, aber auch sehr Gefährliches. Mir ist nicht wohl bei der Sache und ich erkläre ihnen auch gleich warum. Sie bitte ich, mir laufend und direkt alles zu berichten, was ihrer Einschätzung nach von Bedeutung ist. Das ist keine Beförderung, sie bleiben, was sie sind. Ich mache nicht den Fehler des Peters Prinzips und befördere sie daher nicht in eine Position, in der ihre Kreativität brach liegen würde. Ist das in Ordnung für sie?“
„Selbstverständlich, Herr Dr. Dr. Reutmann.“
„Stottern Sie?“
„Nein.“
„Dann nennen sie mich doch bitte einfach beim Namen. Und sie sollen nicht automatisch nicken, wenn ein Vorstand spricht. Diese Kinderei lassen wir hier. Ich frage sie noch einmal. Ist das in Ordnung für sie?“
„Ich hätte nur ein ungutes Gefühl, wenn Herr Professor Wienand davon nichts weiß.“
„Er weiß es nicht. Bitte überlassen sie mir die Entscheidung, wann und wie ich ihn informieren werde.“
„Dann gibt es aber noch die Sicherheitsabteilung. Die würde das dokumentieren.“
„Wir machen das nicht elektronisch und auch nicht schriftlich. Sie berichten mündlich nur in meinem Büro an mich und sie machen sich keine Notizen vorher. Und ich sorge dafür, dass mein Büro nicht verwanzt ist.“ Sein übermütiges Lachen machte ihn dreißig Jahre jünger.
„Darf ich erfahren, was sie dazu veranlasst? So schlimm ist es doch gar nicht, was wir machen.“
„Ich habe Hinweise darauf, dass unser Projekt genau beobachtet wird. Ich weiß noch nicht von wem und von wie vielen, aber es könnte durchaus sein, dass da Leute darunter sind, denen wir unser Produkt nicht so gerne geben würden. Sie verstehen?“
„Aber wir haben doch jede erdenkliche Vorkehrung getroffen, dass nichts nach außen dringt. Für die Sicherheit sind mehr Leute beschäftigt als für die Entwicklung.“
„Genau das ist das Problem, Herr Hofmann.“
„Sie meinen..“
„Nein nein, ich habe nichts Konkretes und kann niemanden verdächtigen. Aber sie sind letztlich die Schlüsselfigur. Nur sie kennen alle Zusammenhänge und die ganze Technik.“
„Ja schon. Aber wir haben das gerade wegen der Sicherheit so organisiert.“
„Dann lassen sie es mich anders ausdrücken: Sie sind die wirkliche Schwachstelle. Bitte nicht falsch verstehen. Ich vertraue ihnen. Und ich werde auch die Organisation nicht ändern. Aber es gibt zwei Aspekte dabei. Zum einen muss ich mich persönlich auf sie verlassen, was jeder Managementregel widerspricht. Zum anderen muss ich vorsorgen, dass das Geschäft nicht zusammenbricht, wenn sie ausfallen. Und daher meine zweite Bitte: Drucken sie alles aus, was für das Projekt relevant ist, also die gesamte Dokumentation, auf Papier. Diese überbringen sie mir persönlich und aktualisieren sie sie jede zweite Woche. Machen sie es bitte selbst und alleine. Darauf lege ich großen Wert.“
„Wird das nicht auffallen, wenn ich so viel drucke?“
„Sie können auch gerne ganz kleine Schrift wählen und beidseitig drucken. Nein, im Ernst. Ich denke nicht, dass die Sicherheitsabteilung den Papier- und Druckerpatronenverbrauch überwacht.“
„Das denke ich auch nicht. Ich werde mir einen eigenen Drucker im Büro installieren und nur lokal anschließen. Das kann ich leicht begründen.“
„Machen sie es so, Herr Hofmann. Das wär's fürs Erste. In zwei Wochen sehen wir uns wieder. Alles Gute.“
„Was druckst du denn da alles aus?“ fragte Dave. „Traust du der Elektronik nicht?“
„Liebesbriefe, Dave. Nein, im Ernst: Ich finde es praktisch, wenn wir nicht über Dokumente am Bildschirm diskutieren, sondern sie real vor uns haben.“
„Meine Güte, und so ein Dino führt ein Hightech – Projekt an. Schaff dir doch einen Beamer an und nimm ein hohe Auflösung. Dann können wir mehrere Dokumente gleichzeitig anschauen und auch gleich korrigieren.“
„Blendende Idee, Dave, da hätte ich selbst draufkommen können.“
Dave schüttelte nur verächtlich den Kopf.
Curd schaffte tatsächlich auch noch den Beamer für sein Büro an, aber der Drucker blieb. Ob er Daves möglichen Argwohn verwischt hatte, wusste er nicht.