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Die Kontrahenten. Ignaz Maybaum und Hermann Gerson
ОглавлениеAlisa Jaffa, Memories of my Father, in Nicholas de Lange, Ignaz Maybaum – A Reader, New York/Oxford 2001.
Ignaz Maybaum wurde 1897 in Wien geboren, im gleichen Jahr, als in Basel der erste Zionistenkongress stattfand. Sein aus Ungarn stammender Vater betrieb eine Schneiderwerkstatt im 9. Distrikt. Dort besuchte Maybaum auch das Gymnasium. Moderne Fremdsprachen, wie Englisch, gehörten nicht zum Programm; eine Schulregel verpflichtete die Schüler, in den Pausen Griechisch zu sprechen. Nach dem Abitur meldete Maybaum sich zur Armee, wurde im 1. Weltkrieg Leutnant der Kavallerie und erhielt drei Tapferkeitsmedaillen, eine davon persönlich von Kaiser Franz Joseph. Eine Gelbsucht beförderte ihn ins Lazarett und rettete ihm das Leben, denn seine Kompanie wurde in der Zwischenzeit fast völlig aufgerieben.
Nach seiner Entlassung 1919 entschloss er sich, Rabbiner zu werden. Das Erste, das er im Seminar in Wien zu sehen bekam, war das Schaubild einer Kuh mit Markierung der koscheren und nicht-koscheren Anteile. War das die Essenz des Rabbinertums? Maybaum hielt nichts von der in Österreich vorherrschenden traditionellen Orthodoxie. Jedenfalls verließ er bald Wien und ging nach Berlin an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.
In Berlin wohnte er bei seinem Onkel, Siegmund Maybaum, der selbst an der Hochschule Homiletik (Predigtlehre) unterrichtete. Der Onkel war als Prediger und Gelehrter angesehen und ein entschiedener Gegner des Zionismus. Im Haus des Onkels traf Maybaum seine spätere Frau, Frances Schor, damals ein 16-jähriges Schulmädchen. Er heiratete sie 1925, als er nach abgelegtem Examen seine erste Stelle in der Gemeinde von Bingen am Rhein antrat. Von hier aus wurde er 1928 nach Frankfurt/Oder berufen.
Die Machtergreifung Hitlers bedeutete einen tiefen Einschnitt. Bei einer Konferenz von jüdischen Honoratioren Ende 1935 wurden Bemerkungen Maybaums über Hitler von einem der Teilnehmer weitergegeben. Die Gestapo verhaftete ihn prompt wegen staatsschädigender Äußerungen und hielt ihn sechs Wochen im Berliner Columbia-Haus fest. Einmal wurde er zur Einschüchterung vor ein Hinrichtungspeleton gestellt. Nach öffentlichem Druck, auch durch die ausländische Presse, ließ man ihn schließlich ohne Prozess und Urteil frei.
In Frankfurt profilierte sich Maybaum als entschiedener Gegner des politischen Zionismus in Reden und Buchveröffentlichungen. Seiner Auffassung nach sollten Juden ihren Platz in Deutschland nicht aufgeben. 1936 wurde er zum Gemeinderabbiner von Berlin berufen. Seine Predigten dort erfuhren großen Zulauf. Inzwischen aber hatten sich die Bedingungen für die jüdischen Gemeinden verschlechtert. Jüdische Studenten konnten nicht länger die Universitäten besuchen. Als Ausgleich nahmen viele junge Leute jüdische Studien auf. Maybaum unterrichtete Klassen dieser Studenten in rabbinischer Lehre.
In der Pogromnacht im November 1938 entging er nur mit Glück der erneuten Verhaftung. Um von der Gestapo nicht zu Hause angetroffen zu werden, ließ er sich nächtelang von einem befreundeten Rabbiner durch die Vorstädte Berlins chauffieren, bis sich die Lage beruhigt hatte. Nach dieser Erfahrung war auch Maybaum zur Emigration bereit. Sein Plan, nach New York überzusiedeln, war wegen der US-Einwanderungsbeschränkungen nicht zu verwirklichen. Auf Empfehlung des Chief Rabbi von London, J.H. Hertz, erhielt er jedoch ein Visum für England. Der neunjährige Sohn Michael ging noch vor den Eltern mit einem Kindertransport dorthin. Die Eltern folgten mit der dreijährigen Tochter Alisa im März 1939. Maybaums jüngerer Bruder war bereits 1938 nach Palästina ausgereist, seine Eltern und Schwestern aber blieben im Land und sollten später der Nazi-Verfolgung zum Opfer fallen.
Bei seiner Ankunft in London sprach Maybaum kein Englisch. Er wurde daher zunächst als Prediger der deutschsprachigen Gemeinde in Hampstedt eingesetzt. Bald nach Kriegsbeginn begann man auch die deutschen Flüchtlinge pauschal als „feindliche Ausländer“ anzusehen und von der Polizei zu internieren. Maybaum entzog sich der Verhaftung mit der gleichen Taktik wie in Berlin. Da die englische Polizei, im Gegensatz zur deutschen, stets tagsüber kam, verbrachte er die Tage in der örtlichen Bibliothek mit Zeitungslesen. So entging er der Internierung und erwarb nebenbei seine Englischkenntnisse.
Von 1941-1945 unterrichtete er jüdische Flüchtlingskinder in einem Internat in Hindhead. Trotz der eingeschränkten Lebensumstände fanden sich häufig Gäste am Tisch des Hauses ein, Kollegen, Schüler und Studenten. Die Tochter erinnert sich an häufige und hitzige politische Diskussionen. 1948 übernahm Maybaum die Stelle des Rabbiners in der Gemeinde der Edgware&District Reform Synagogue, ab 1956 unterrichtete er vergleichende Religionsgeschichte, Theologie und Homiletik am Jewish Theological Seminary in London. Generationen von Rabbinerstudenten wurden dort durch ihn geprägt. 1957 berief ihn die Universität Frankfurt/Main für ein Semester als Gastdozent. Nur in Israel wurde ihm wegen seiner antizionistischen Haltung die Ehre einer Einladung nicht zuteil.
Ignaz Maybaum starb 1976 in London. Seitdem ist seine Bedeutung als Theologe, insbesondere als Theologe der Schoah noch gewachsen, kein Fachbuch kann ihn verschweigen8. Sein Vermächtnis an die Nachwelt sind, neben zahllosen Artikeln in Zeitschriften, zwölf Buchveröffentlichungen zu Problemen, die sich zwischen Theologie, Philosophie und jüdischen Lebensfragen bewegen und die Gedankenwelt und inhaltliche Ausrichtung seiner Lehren verdeutlichen. Maybaum vertrat einen der zwei Pole in der teilweise erbitterten Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der zionistischen Idee und denen, die die Berufung in der Diaspora sehen. Bei aller Anerkennung des Idealismus der zionistischen Pioniere in Palästina glaubte er die jüdische Zukunft in den Gemeinden der Diaspora besser gewährleistet - trotz Unterdrückung und Verfolgung.
Hermann Gerson: Eine Jugend in Deutschland, unveröffentlichte Autobiographie 1970.
Die entgegengesetzte Position vertrat Hermann Gerson, 1908 in Frankfurt geboren. Er besuchte dort das Friedrichsgymnasium, machte 1926 Abitur und ging dann zum Studium nach Berlin. Zunächst studierte er Jura, dann Philosophie und Psychologie an der Humboldt-Universität. Ebenso wie Maybaum einige Jahre vor ihm besuchte auch er die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. 1932 erwarb er den Doktorgrad der Philosophie.
Seit seinem 18. Lebensjahr leitete Gerson die Frankfurter Ortsgruppe der "Kameraden", einem Verband jüdischer Wander-, Sport- und Turnvereine9. Zwei Jahre später war er zum Bundesführer aufgestiegen. Die "Kameraden" wollten die religiösen und sittlichen Werte des Judentums mit der deutschen Geistes- und Gemütswelt verknüpfen. Sie bekannten sich zum deutschen Volkstum und bekämpften ebenso den Antisemitismus wie alle nationaljüdischen Bestrebungen. Zwischen deutschem Vaterland und deutscher Kultur und der Besinnung auf ihre jüdische Herkunft strebten sie danach, einen neuen Menschentyp zu schaffen. Sie fügten sich damit nahtlos in die vielseitige Umwelt der deutschen Jugendverbände in den 1920er Jahren ein.
Die "Kameraden" waren jedoch in der jüdischen Gemeinde umstritten. Der Frankfurter Rabbiner - Ignaz Maybaum - wetterte von der Kanzel herab gegen den Jugendverführer Gerson und rief die Eltern zum Widerstand auf. Infolge der politischen Entwicklung in Deutschland kam es 1932 zur Spaltung. Deutschnational gesinnte Mitglieder gründeten das "Schwarze Fähnlein", eine radikal linke Abspaltung bildete die "Freie deutsch-jüdische Jugend", und der Großteil der "Kameraden" tat sich unter Führung Gersons zum Bund der "Werkleute" zusammen. Sie wählten ihren Namen nach einem alten Spruch des Rabbi Tarphon: "Der Tag ist kurz, das Werk ist groß".
Die "Werkleute" erstrebten die Herausbildung eines jüdischen Menschentyps im Sinne des Zionismus. Kurz nach Hitlers Machtübernahme beschlossen sie, ihre Ausbildungen und Berufe aufzugeben und einen Kibbuz zu gründen - eine radikale Entscheidung, die in der Folge manchen das Leben kosten, vielen aber das Leben retten sollte. Ein Kibbuz ist eine in Palästina entstandene neue Art der Gemeinschaftssiedlung, eine zumeist ländliche Genossenschaft mit kollektivem Landeigentum und basisdemokratischen Strukturen. Nachdem er mehrmals von der SA verhaftet und misshandelt wurde, begann Gerson Gelder für die Auswanderung zu sammeln.
Die britische Mandatsbehörde gab nur eine begrenzte Zahl von Visa für Palästina aus. Man konnte als "Kapitalist" oder als "Arbeiter" immigrieren. Als Arbeiter musste man eine landwirtschaftliche Ausbildung nachweisen, als Kapitalist benötigte man tausend englische Pfund (nach heutigem Wert ca. 50.000 EUR). Die erste Gruppe der Werkleute wanderte 1933 als "Kapitalisten" aus. Gerson folgte mit einer weiteren Gruppe ein Jahr später, um im Tal von Megiddo in Nordpalästina den Kibbuz Hasorea ("Der Sämann") aufzubauen.
Nach ihrer Ankunft waren die Einwanderer mit einer primitiven und grausamen Wirklichkeit konfrontiert. Wer heute durch Israel fährt, erlebt grüne Landschaften; in Palästina der 1930er Jahre erwarteten den Einwanderer kahle Einöden, ein mörderisches Klima, schwerste körperliche Arbeit. Manche der Pioniere erlagen kurz nach der Ankunft Typhus, Fieber und Erschöpfung. Intellektueller Scharfsinn und theologische Argumentation waren nicht mehr gefragt, ganz andere Führungsqualitäten als in Deutschland waren erforderlich. Als Doktor der Philosophie tat Gerson sich schwer.
Zunächst galt es, Land für den Kibbuz zu erwerben. Der Boden gehörte stets einem Emir, einem arabischen Großgrundbesitzer, der in Beirut saß oder in Paris. Auf dem Land lebten nur seine Arissim, die Pächter mit ihren Familien. Sie beackerten den kargen Boden mit Holzpflügen. Vom Ertrag hatten sie zwei Drittel an den Emir abzuliefern. Beim Kauf von Land mussten per Gesetz alle Pächter abgefunden und ihnen neue Parzellen zugewiesen werden. So zog sich der Landkauf für den Kibbuz Hasorea jahrelang hin.
Schließlich besaßen die Pioniere einen schmalen Streifen Land und ein paar verstreute Felder. Die Urbarmachung erwies sich als schwierig. Sie hatten kaum Erfahrung in der Landwirtschaft. Die Felder waren großenteils Sümpfe. Das Kapital war schnell aufgebraucht. Teilweise mussten sich die Kibbuzniks als Lohnarbeiter verdingen. Kurz, die wirtschaftliche Situation war ein Desaster. Um Geld zu beschaffen, musste Gerson tief in die Trickkiste greifen. Er eröffnete Konten bei mehreren Banken und stellte wechselweise Schecks auf sich selbst aus, die er dann einlöste und das Geld sofort abhob. Mit diesem Schneeballsystem wurde auch der Kauf eines 22-PS-Traktors finanziert. Andere Kibbuzim arbeiteten mit ähnlichen Methoden. Als die Finanzierung schließlich platzte, griff die Jewish Agency ein und konsolidierte die aufgelaufenen Schulden durch Umwandlung in langfristige Kredite. Ende der 1940er Jahre stand der Kibbuz auf eigenen Beinen. Die landwirtschaftliche Grundlage wurde mit der Zeit ergänzt durch eine Möbelfabrik und eine Produktionsanlage für Polyäthylenfasern. Zu den deutschen Gründern kamen bald Gruppen von Juden aus Bulgarien und Syrien hinzu.
Hermann Gerson hat mit seinen "Werkleuten" einen erheblichen Teil der jüdischen Jugend Frankfurts - und mitunter auch deren Eltern - nach Palästina geführt und damit gerettet. Er blieb bis an sein Lebensende Mitglied des Kibbuz Hasorea. Ab 1938 kümmerte er sich im Auftrag des Kibbuzverbands um die Erziehung und Ausbildung junger Kibbuzniks. 1940 wurde er Sekretär der Erziehungsabteilung, 1942 auch Mitglied der Exekutive. Er hielt Vorlesungen am Kibbuz-Seminar in Tel Aviv. In London hat er 1960 noch einmal ein Sabbatical, ein Studienjahr, an der School of Economics verbracht und im Bereich der Sozialpsychologie geforscht. 1965 gründete er in Tel Aviv eine eigene Fakultät für Kibbuzerziehung und leitete sie bis zu seiner Entpflichtung 1974. Gerson starb am 14. April 1989 in Hasorea und wurde ebendort beigesetzt.