Читать книгу Aus dem Dunkel - Friedrich Lotter - Страница 8

Flucht mit Gestapo-Hilfe. Salo Glass

Оглавление

Bericht von Salo Glass, im Alter von 92 Jahren, nahezu blind, 1995 in New York auf Band gesprochen. Ergänzende Informationen durch seine Tochter.


Ge­bo­ren bin ich 1903 in Go­llantsch, im Kreis Won­gro­witz in der Pro­vinz Posen. Posen gehör­te zum V. Ar­mee­korps, und auch in mei­ner Familie gab es viele Sol­daten. Mein Vater hat bei den Grünen Jägern ge­dient, sein jün­gerer Bru­der bei den Schwarzen Husaren in Danzig. Auch der ältere Bruder meiner Frau war Sol­dat, er fiel 1918 wenige Tage vor Kriegsende. Ich war seit meinem 10. Lebens­jahr Mitglied der Ju­gend­wehr. Im Krieg haben wir in Laza­retten bei der Be­treu­ung der Verwundeten geholfen.

Ich lebte bis 1920 in Po­sen, votierte nach Abtretung der Provinz an Polen für Deutschland und siedel­te nach Frankfurt/Oder über. 1938 wohn­te ich dort mit mei­ner Frau und zwei Töch­tern im Haus von Rechts­anwalt Broh in der ­Richt­stra­ße. Zwei Wochen vor den Novemberereignis­sen war der zweite Kantor und drei Tage später der alte Syn­agogen­diener gestor­ben. Rabbi Curtis Cassel fragte mich den Tag dar­auf, ob ich nicht ein­sprin­gen wollte. Es passte mir schlecht, aber ich bin seiner Bitte nach­gekom­men.

Im Herbst 1938 war die Mehrzahl der jüdi­schen Ge­schäfte in Frank­furt schon in "arische" Hände über­führt worden. Viele Juden, vor allem jüngere, hatten die Stadt be­reits verlassen. Am 8. No­vem­ber 1938 nach­mit­tags hörte ich von einem Freund, dass etwas im Gange sei. Ich solle am Abend besser nicht zu Hause blei­ben. Ich bin spät nach Hause gekommen und habe gehört, wie man mei­nen Nach­barn zur Rech­ten und meinen Nachbarn ge­gen­über abge­holt hat. Bei mir hat man nicht ange­klopft - ich glau­be, man hat noch nicht ge­wusst, dass ich hier eingezo­gen war.

Um Viertel vor Zwölf bin ich hin­ausgegan­gen zur Synago­ge. Dort habe ich alles in Trümmern vorge­fun­den. Ich konnte nur noch zwei Thora-Rollen ret­ten. Plötzlich stand ein Gestapo-Kommissar mit seinem Assistenten vor mir. Was ich hier tue? Ich erwiderte, ich versuche zu ret­ten, was ich kann. Er: Sie haben kein Recht dazu! Ich erklärte ihm, dass ich nach dem Tod des alten Synagogendieners des­sen Amt übernommen habe. Im gleichen Moment kam die SA-Ab­tei­lung in die Synagoge, Sturmbann­füh­rer ­Schi­low10 mit sei­nen 60 Mann. Er redete kurz mit dem Kommis­sar, und die Sache war geklärt. Nach­her fragte mich der Kommissar nach mei­ner Bezie­hung zu Schi­low. Es war eine alte Freund­schaft. Ich war zu seinem 50. Ge­burtstag ein­ge­laden. Dort waren 60 SA-Leute, 12 SS-Leute und meine Wenig­keit.

Der Kommissar hat mich noch zehn Minu­ten lang verhört und dann gehen lassen. Kurz vor Eins war ich zu Hause. Früh am nächsten Morgen ging ich noch einmal zur Synagoge, um nachzuse­hen, ob noch etwas zu retten war. Die Synagoge war völlig niedergebrannt. Die Leute, die dort zu­schauten, gaben sich gleichgültig. Mir war klar, dass ich auf der Straße nicht mehr sicher war. Ich bin dann mit der Stra­ßen­bahn zum Juden­fried­hof ge­fahren und blieb dort unge­fähr zwei Stun­den. Der Friedhofsauf­seher Biller­beck hat mich dann mit sei­nem Auto zu meinem – nichtjüdischen - Freund Lauten­sack gefahren. Ich wusste, dort war ich vorerst außer Gefahr.

Später erfuhr ich, dass der Kommissar sich Einlass zu unserer Woh­nung verschafft und mit mei­ner Frau gesprochen hatte. Er sagte zu ihr: "Lass dei­nen Mann allein, komm mit den Kin­dern, du be­kommst eine schöne Woh­nung, und wir werden für dich sorgen. Du bist doch nicht jü­disch." Sie sagte mit Nach­druck­: "Ich bin jü­disch!" Sie zeigte ihm auch das Bild ihres Bruders, der 1918 gefallen war. Er gab dann mei­ner Frau noch eine Bescheinigung und versprach ihr, sie könne sich auf ihn berufen, wenn je­mand sie be­drängen sollte. Eine Woche später allerdings hat der Kommis­sar noch einmal zwei Leute zu mei­ner Frau ­ge­schickt, um sie zu einer Trennung zu überreden.

Ich war sehr vor­sich­tig, als ich nach Hause gin­g. Mit mei­ner Frau hatte ich ver­abre­det, dass sie ein Hand­tuch aufs Fen­ster legt, damit ich wissen konnte, ob jemand oben war. Ich ging hinauf, müde und ka­putt von allem, was ich gehört und gesehen hatte, und be­stürzt darüber, wer alles verhaftet wor­den war. Später habe ich ge­hört, dass die Verhafte­ten, etwa 35 Männer, ­ins KZ Sach­sen­hausen trans­portiert ­wor­den waren. Mich sel­bst hat man nicht belä­stigt.

Der Kommissar bat mich tags darauf um meine Hilfe. Ein jüdischer Feld­webel in Für­sten­berg hatte sich die Uniform angezo­gen mit dem Eisernen Kreuz 1. und 2. Klasse und sich dann er­schossen. Ich sollte den Toten identifizieren und dann bestatten. Ich habe in ihm einen alten Bekann­ten wie­dererkannt, der vier Jahre im kai­ser­li­chen Hauptquartier ge­dient hat­te. Wir haben getan, was wir konn­ten, um ihn auf­zu­bahren und ins Grab zu legen.

Mit dem Gestapo-Kommissar bin ich meistens gut ausgekommen. Eines Tages wurde ich wieder zu ihm bestellt. Er hat dage­standen mit erhobener Faust, wie um mich zu schla­gen. Es ging darum, dass ich den vorgeschriebenen Vornamen "Israel" nicht führ­te. Er nahm schließlich aus sei­ner Schub­la­de die Verordnung heraus und ­stellte dann fest, dass ich den Namen Isra­el nicht tra­gen müs­se, denn mein Name Salo rei­che zur Kenn­zeichnung als Jude ­aus. Von der Zeit an hatte ich Ruhe.

Als meine Abreise feststand, ging ich zu ihm, um ihm mitzuteilen, dass ich das Land ver­las­se. Er hat mich aufge­for­dert, wahr­heits­widrig zu un­ter­schrei­ben, dass ich der kom­mu­ni­sti­schen Par­tei angehört habe. Ich habe mich ge­wei­gert. Er be­stand darauf und hat sich aufge­regt, als ich dies nicht tat. Aber als ich mich verab­schie­dete, wünschte er mir gute Reise.

Meine Frau und ich sollten im Spätsommer 1939 mit einem von der Gestapo organisierten Trans­port nach Palästina ausreisen. ­Mei­ne bei­den Töch­ter konn­ten nicht mit uns fahren, da Kinder unter 12 Jahren nicht legal ein­reisen durf­ten. Ich konnte für sie jedoch Plätze in Kinder­trans­porten nach Eng­land beschaf­fen. Es gab keine andere Möglich­keit, wir mussten uns von ihnen tren­nen. Meine jün­ge­re Toch­ter Ruth fuhr so mit 6 Jah­ren im Fe­bruar 1939, meine Älte­re, Mar­got, mit 11 Jahren etwas später nach Eng­land.

Wir Eltern reisten zunächst in Begleitung von zwei Beamten zusammen mit vielen anderen, die verhaftet und inzwischen frei­ge­lassen worden waren, per Bahn nach Wien. Als wir dort an­kamen, wer hat da ge­ses­sen? Der Kommis­sar mit seinem Assi­sten­ten! Der Transport ging über die Donau. Es waren insgesamt 400 Leu­te, die auf das Schiff soll­ten. Alle sind un­ter­sucht worden. In der letzten Minute befahl der Kommissar mich zu sich. Er forderte mich auf, mein Jacket zu öff­nen, er wolle wissen, was ich noch ver­steckt habe. Er hat mein Jacket und meine Hose durch­sucht. "Ich habe nichts ver­steckt, ich habe hier nur das erlaubte Geld. Weiter nichts!". "Wieso hat er noch Geld?" "Ich woll­te mei­ner Frau noch eine Uhr kaufen, aber wir sind zu­rückge­rufen wor­den, und daher hatte ich das Geld noch in der Ta­sche". Es waren 150 Mark und etwas Kleingeld. Er sagte, das Klein­geld könne ich be­halten, die 150 Mark müssten zurück­geschickt werden, an die Mut­ter oder einen Ver­wand­ten. Ich sagte, das Geld solle dann an eine jüdische Familie gehen, wo der Mann gefallen ist. In dem Moment habe ich geglaubt, er wolle mich erschießen. Doch er nahm mir nur das Geld ab und ging weg. Wir sind dann abge­fah­ren.

Wir fuhren hinunter nach Rumänien und sollten von dort per Schiff in die Türkei weiterreisen. Da ich in Kon­stan­ti­nopel einen Ver­wand­ten hat­te, wollte ich mich er­kun­di­gen, ob ich te­le­fo­nie­ren könne. Plötzlich stand wie­der der Kom­missar vor mir. Er hatte das Schiff gar nicht ver­lassen, son­dern war mit uns ­ge­fah­ren und hatte in der Kapitänskajüte über­nach­tet. Er gab mir etwas engli­sches Geld und ­meinte, es sei nicht ganz recht ge­wesen, dass er mir das Geld wegge­nommen habe. Schließ­lich würden wir noch viele Wochen unter­wegs sein. Er gab mir auch eine Karte mit einer Brief­mar­ke. Von Palästina aus soll­te ich ihm schrei­ben. Er woll­te über­prü­fen, ob der Damp­fer angekom­men ist. Es war ein sehr altes Schiff, ein frühe­rer Pferde­damp­fer.

In Rumä­nien verließ uns der Kommissar also endgültig. Wir waren noch zwei Monate unterwegs, bis wir endlich in Palä­sti­na ankamen. In Frankfurt waren bei unserer Abreise noch etwa zwanzig jüdische Familien zurückgeblieben.

Aus dem Dunkel

Подняться наверх