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Rauch und splitterndes Glas. Curtis Cassell

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Interview mit Rabbi Curtis Cassell am 21.6.1996 in London ; sowie C. Cassell , Die Liste : Erinnerungen an die Pogromnacht in Frankfurt .


Mein Abitur habe ich in Oppeln abgelegt, dann drei Semester in Breslau studiert und mein Studium in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums fortgesetzt. Meine Lehrer waren hier Leo Baeck und Ismar Elbogen, dessen Tochter an seiner Vorle­sung teilnahm. 1936 traf ich eines schönen Tages auf dem Weg zum Bahnhof Dr. Ignaz Maybaum. Der fragte mich, ob ich sein Nachfolger als Rabbiner in Frankfurt/Oder werden wollte. Maybaum war damals gerade zum ersten Gemeinderabbiner von Berlin berufen worden. Er war ein großer Wissenschaftler, aber auch ein Querkopf: Zunächst Zionist, dann entschiedener Antizionist, als der Zionismus modern wurde.

Das Angebot Maybaums nahm ich nach Rücksprache mit meinen Professoren an. Ich musste jedoch zunächst noch fast täglich von Frankfurt nach Berlin fahren, um das Studium abzu-schließen. Die jüdische Gemeinde in Frankfurt war sehr geschlossen. Vom Antisemitismus habe ich dort zunächst nicht allzu viel gespürt, doch hatte ich auch wenig Kontakt mit Nichtjuden. Allerdings gab es schon vor der Kristall­nacht 1938 einige antisemitische Vorfälle. Darunter eine Vorladung zur Gestapo, als ich 1938 aus dem Urlaub von Prag zurückkehrte. Eingehend befragte man mich nach den Gründen meines Besuchs in Prag, und dann forderte mich der vernehmende Beamte auf, ihm eine Liste sämtlicher Juden des Regierungs­bezirks auszuhändigen. Den Zweck dieser Liste fand ich erst später heraus, durch die Ereignisse der „Kristall­nacht“.

Am 28. Oktober 1938 wurden 17000 Juden polnischer Herkunft in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Deutschland deportiert, wobei sie all ihren Besitz verloren. Da Polen sie nicht hereinließ, irrten sie unter unsäglichen Bedingungen im deutsch-polnischen Grenzgebiet umher. Damals bat mich die Zentralstelle der Reichs­ver­tretung deutscher Juden, nach Bent­schen an die Grenze zu fahren, um Hilfe für die gestran­de­ten Juden zu organisieren. Doch als ich in Bentschen ankam, wurde ich sofort von der Gestapo verhaftet und mit dem nächsten Zug nach Frankfurt zurückgeschickt. Am 7. November erschoss Herschel Grünszpan, dessen Eltern zu den Ausgewiesenen gehörten, den Ange­stellten von Rath der Pariser Botschaft. Dies wurde zum Anlass der „Kristallnacht“ und der Ereignisse des 9. November 1938 genommen.

Dieser Tag war auch mein Geburtstag. Meine Schwiegereltern aus Berlin waren zu Besuch gekommen, und ich begleitete sie abends zum Bahnhof. Dabei fielen mir schon zahlreiche Polizisten auf, die sich dort aufhielten. Später gingen wir schlafen, wurden jedoch bald vom Geräusch zerschla­genen Glases und Brandgeruch geweckt. Die Synagoge brann­te. Fenster und Schaufenster der Geschäfte wurden einge­worfen. Noch heute leidet meine Frau unter dem Schock dieser schrecklichen Nacht, wenn sie das Geräusch split­tern­den Glases hört. Wir riefen den befreundeten Rechtsanwalt Leo Nehab an, der in der gleichen Straße wohnte. Wir fürchteten, dass man auch unser Haus nicht verschonen würde, da es ja der Synagoge angeschlossen war. Nehab forderte uns auf, sofort zu ihm zu kommen.

Die Synagoge hatte zwei Ausgänge, den Haupteingang in der Richtstraße, einen Nebenausgang in der Wollenweberstraße. Dass die Gestapo uns am Haupteingang erwartete, wussten wir nicht. Glückli­cherweise verließen wir das Haus durch den Nebenausgang und entgingen so der Verhaftung. Ungefähr um elf Uhr abends waren wir sicher in der Wohnung unseres Freundes. Um vier Uhr früh klingelte es dort an der Tür. Es war die Gestapo, die Nehab verhaftete. Ich konnte mich mit meiner Frau unter dem Schreibtisch verstecken. Es war uns klar, dass wir Frankfurt schleunigst verlassen müssten. Da der Bahnhof, wie ich am Abend gesehen hatte, von Polizei bewacht wurde, gingen wir zu Fuß zur nächsten Bahnstation und bestiegen dort den Zug, der uns zu den Schwiegereltern nach Berlin führte. Am übernächsten Tag erschien die Gestapo auch hier und verhaftete meinen Schwiegervater. Ich stand neben ihm, doch mir passierte nichts, denn ich stand nicht auf ihrer Liste.

Die Beamten gingen mit preußischer Gründlichkeit vor, verhaftet wurde nur, wer auf der Liste stand. Erst später wurde mir bewusst, dass auch die Gestapo in Frankfurt die Verhaftungen nach einer solchen Liste vornahm, eben der Liste, die ich für sie im Sommer 1938 hatte anfertigen müssen. Tatsächlich sah ich meine Liste bei einem der Verhöre nach der Kristallnacht bei der Gestapo auf dem Schreibtisch liegen. Da wurde mir klar, dass die Aktion schon lange vorbereitet worden war und wenig mit von Raths Tod zu tun hatte, der nur als Vorwand diente.

Mein Schwiegervater, Werner Mosse, wurde mit vielen anderen in das Konzentrationslager Sachsen­hau­sen gebracht, wo er mehrere Wochen blieb. Als er ent­lassen wurde, war sein Gesundheits­zu­stand äußerst schlecht. Er war im ersten Weltkrieg Stabsarzt gewe­sen und hatte immer geglaubt, dass die Berichte über deutsche Untaten in Belgien und anderswo Gräuelmär­chen sein mussten. Nun war er eines anderen belehrt. Inzwischen war meine Frau nach Frankfurt zurückgefahren, um nach der Wohnung zu sehen. Sie fand sie versiegelt vor. Um die Siegel entfernen zu lassen, musste sie bei der Gestapo vorsprechen. Dort sagte man ihr, ich solle sofort nach Frankfurt zurückkehren. Als ich dort ankam, war die „Aktion“ vorüber. Ich wurde nicht verhaftet, doch unter Hausarrest gestellt. So aber konnte ich meine Gemeinde nicht betreuen, obwohl die Frauen besonderen Beistand benötigten, da ihre Männer verhaftet waren. Als ich mich darüber bei der Gestapo beschwerte, wurde der Hausarrest aufgehoben. Übrigens kam nach der „Kristall­nacht“ ein protestantischer Geistlicher zu mir, um mir sein Mitgefühl auszudrücken.

Das Innere der Synagoge war zum großen Teil demoliert, die Orgel völlig zerstört. Die Orgelpfei­fen waren beschlagnahmt worden, da sie aus Blei waren. Aus meiner Wohnung war eine neue Reiseschreib­maschine verschwunden. Bei einem weiteren Verhör bat ich die Gestapo um eine entsprechende Bescheinigung, da ich auswandern woll­te und diese für die Behörden benötigte. Daraufhin er­hielt ich die Schreibmaschine zurück, denn sie sei nicht recht­mäßig entfernt worden. Die Gestapo trug mir auf, weiterhin Gottes­dienste abzuhalten, denn es sollte so aussehen, als ob weiter nichts geschehen sei.

Neben den Gottesdiensten begann ich für die wenigen jüdischen Schüler, die noch in Frankfurt verblieben und nun aus den allgemeinen Schulen herausgeworfen worden waren, Schulunterricht zu organisieren. Die Frauen der in die KZ eingelieferten Männer baten mich immer wieder, sich bei der Gestapo für sie zu verwenden, doch hatte ich damit nur wenig Erfolg. Mir war inzwischen eine Stelle in Australien angeboten worden. Ich wollte im März 1939 auswandern und beantragte bei der Gestapo einen Reisepass mit Visum nach England hin und zurück. Diesen verweigerte man mir mit der Begründung, ich sollte erst dafür sorgen, dass auch die übrigen Mitglieder der jüdischen Gemeinde aus Deutschland verschwänden. Erst dann dürfe auch ich gehen.

Die verhafteten jüdischen Männer kamen seinerzeit fast alle wieder frei, doch konnten nur wenige vor Kriegsbeginn ausreisen. Alle Verbliebenen wurden später in Ghettos nach Warschau oder Posen deportiert. Im Mai 1939 wurde mein erster Sohn geboren, und als ich seinen Namen registrieren lassen wollte, musste ich aus einer Liste einen jüdischen Namen wählen. Ich wählte Elias, doch hieß er später in England Charles. Immerhin konnte ich am 25. August 1939 mit meiner Frau und dem Sohn Frankfurt verlassen und nach England reisen. Den Krieg über blieb ich in England.

Nach drei Monaten meldete ich mich zum Militär, war erst bei den Pionieren, wo ich beim Straßenbau eingesetzte wurde, dann konnte ich zur Artillerie überwechseln. Allerdings hatte ich dort Schwierig­kei­ten, denn statt der für die Ballistik nötigen Mathematik hatte ich im Seminar nur jüdische Kabbalistik gelernt. So wurde ich als Dolmetscher eingesetzt. 1947 erhielt ich mit der Entlassung zugleich die englische Staatsbürgerschaft. Ich war eine Zeitlang Rabbiner in London und wurde dann nach Bulawayo in Südrhodesien, dem heutigen Zimbabwe, berufen. Dort amtierte ich von 1957 bis zu meiner Pensionierung 1977 als Rabbiner. Seitdem lebe ich wieder in London.

Erst 56 Jahre nach der „Kristallnacht“, am 9. November 1994, kam ich wieder nach Frankfurt. Dort erlebte ich gemeinsam mit dem OB Pohl, mit Ignaz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, dem Ministerpräsident Stolpe und anderen die Wiederauf­stellung des Gedenksteins an die ehema­lige Synagoge am Brunnenplatz.

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