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Schleichende Entwurzelung. Die Geschwister Neumark
ОглавлениеBericht von Ada Brodski, geb. Neumark, in Jerusalem am 5. 11. 1995
Meine Eltern waren vollkommen in der deutschen Kultur verwurzelt. Mein Großvater mütterlicherseits, Max Bernhard, kam aus dem Burgenland, aus Eisenstadt, nach Posen, wo er meine Großmutter, Fanny Friedländer, heiratete. Er hatte dort einen Weinkeller und ein Weingeschäft. Die Großeltern väterlicherseits waren Kaufleute in Posen. Woher der Name Neumark stammt, weiß ich nicht. Es kam vor, dass ein Lehrer mich als Beispiel für einen guten deutschen Namen aufrief und dann entsetzt war, als sich herausstellte, dass ich jüdisch war.
Meine Eltern haben nach dem ersten Weltkrieg in Posen geheiratet. Mein Vater hat dort als Kinderarzt praktiziert. Meine Mutter war Sängerin, hat aber um der Familienpflichten willen auf eine Konzertkarriere verzichtet. Um 1920 verließen meine Eltern Posen, wie alle Mitglieder unserer weitverzweigten Familie, weil sie auf keinen Fall auf ihr Deutschtum verzichten und Polen werden wollten. Sie gingen nach Frankfurt, wo schon andere Familien aus Posen lebten, die Hirschbergs, die Nehabs. Man wuchs damals in richtigen Clans auf, Großfamilien, die alle möglichen Vettern, Cousinen, Onkels und Tanten, auch 2. und 3. Grades, einschloss, und traf sich häufig zu Familienfesten mit Aufführungen, Konzerten und Liedern.
Mein Vater war als Kinderarzt sehr beliebt. Er hatte eine große nichtjüdische Kundschaft. Im städtischen Krankenhaus leitete er die Säuglingsabteilung. Er hat auch unterrichtet und Kurse für Schwestern und Krankenpfleger gegeben. Ich erinnere mich, dass wir Kinder zweimal im Jahr Rechnungen für die Krankenkasse austragen mussten. Dadurch kannte ich die Stadt recht gut. Bei den vielen Besuchen meines Vaters in den Arbeitervierteln der Stadt - besonders der Dammvorstadt, wo es viel Armut gab - nahm er mich oft mit, damit ich "das Leben kennen lerne". Noch Ende 1933, als die neuen Machthaber die "Winterhilfe" veranstalteten, bat die Stadtverwaltung meinen Vater um eine Liste der bedürftigen Mitbürger, und mein Bruder und ich wurden offiziell mit der Verteilung der Lebensmittel an die betreffenden Familien beauftragt. Ob Judenkinder oder nicht, wir wurden dort mit Umarmungen und Dankeshymnen empfangen. Unsere Wohnung mit der Praxis lag am Wilhelmsplatz neben einem Blumengeschäft und dem Café Kyritz. Auf der andern Seite des Platzes, vorbei am Kaiserdenkmal, befand sich die Hardenberg-Loge. Vom Balkon aus konnten wir die Postuhr an der Ecke der Logenstraße sehen, nach der wir immer unsere Uhr stellten. Schräg gegenüber war die große Waldorf-Buchhandlung. In der Richtstraße trafen wir uns oft bei Luigi's Eisdiele. Für 10 Pfennig bekam man ein Eis im Glas. Unsere Eltern durften nichts davon wissen. Einmal kam ich dorthin, und da saß mein Bruder. Ich hatte Angst, dass er mich verriet, aber er aß ja auch selbst ein Eis.
Neben uns hatte Hirschberg sein Rechtsanwaltsbüro. Neben der Synagoge wohnte der Kultusbeamte Lapidas, seine Frau verkaufte dort koschere Würstchen. Von der Leihbücherei an der Ecke holte ich mir immer Kriminalromane, manchmal dreimal am Tage. Die deutsche Kultur hat mich als kleines Mädchen geprägt. Ich sehe mich noch in meinem Bett in dem schmalen Raum neben dem Musikzimmer, über mir an der Wand der Sämann von Van Gogh, mit selbstverdientem Geld erstanden, gegenüber das Schulpult, neben dem Bett ein wirres Durcheinander von Büchern - Karl May, Martin Buber, "Der Kampf der Tertia", "Die Buddenbrooks", "Professors Zwillinge", "Wüste und gelobtes Land". Vom Musikzimmer nebenan dringen die Klänge von Schubertliedern herüber, der Mezzosopran meiner Mutter, begleitet von meinem Bruder. Es war wie eine Rückzahlung einer Schuld an meine Kindheit, als ich vor einigen Jahren Übersetzungen dieser Lieder ins Hebräische veröffentlichen konnte.
Von den Nazis wusste ich lange nichts. Ich besuchte seit 1931 die Volksschule, übersprang dort eine Klasse und kam so 1934 in die Sexta des Kleist-Lyzeums. Einmal, wohl 1933 nach der Machtübernahme, bekamen wir die Aufgabe, aus der Zeitung Bilder unserer Staatsführer auszuschneiden. Mein Vater half mir und hat Bilder ausgeschnitten, lauter Bilder von Hindenburg, immer nur Hindenburg. Ich habe gesagt: "Aber wir brauchen auch Hitler!". Er sagte nur: "Nein, Hitler nicht." Ich wollte aber unbedingt das berühmte Bild haben, wo Hindenburg dem Hitler die Hand gibt. Da hat mein Vater die Schere genommen und Hitler abgeschnitten. Die halbe Hand war noch drauf. So hatte ich nur Bilder von Hindenburg und ging sehr unglücklich zur Schule, doch hat sich der Klassenlehrer dann gar nicht für mein Heft interessiert.
Ich erinnere mich auch noch gut an ein besonders unerquickliches Erlebnis zu etwa der gleichen Zeit, in der vierten Klasse der Grundschule. Unser Klassenlehrer war ein schneidiger junger Mann, oft in brauner Uniform, der aber trotzdem die jüdischen Schülerinnen meistens freundlich behandelte. Aber einmal rief er mich während einer Deutschstunde zusammen mit der "reinrassigen" Kriemhild vor die Klasse. Er forderte die Schülerinnen auf, uns genau anzusehen: "Sehr ihr, das ist Kriemhild, ein klassischer germanischer Typ, groß, blond, mit Langschädel, aber etwas langsam im Denken. Daneben Ada, bei der alle Kräfte auf typisch jüdische Art in den Kopf gegangen sind - auf Kosten aller anderen Fähigkeiten, wie ihr an dem verkümmerten Körper deutlich sehen könnt!" Das behagte mir keineswegs, zwar war ich klein, aber eine gute Turnerin, sehr begehrt beim Völkerball und im Hochsprung eine der Besten in der Klasse. Auch Kriemhild war nicht begeistert von der Charakterisierung. In der Pause standen wir auf dem Schulhof und schmollten gemeinsam, sie in ihrer hochaufgeschossenen germanischen Denklangsamkeit, ich in meiner körperverkümmerten jüdischen Intellektualität.
Ich konnte bis zu den großen Ferien 1938 zum Kleist-Lyzeum gehen. Irgendwann war ich die einzige Jüdin in der Klasse. In der Parallelklasse waren noch drei oder vier, die Gumperts, die Lachmann, die gingen etwas früher ab als ich. In der Klasse selbst hatte ich keine Schwierigkeiten, doch blieben Diskriminationen und Einschüchterungen seitens der Lehrer nicht aus. Fräulein Kunze, die feingeistige Direktorin - zur Unterscheidung von einer gleichnamigen Lehrerin "Oberkunze" genannt - verschwand nach der Machtübernahme von der Bildfläche. An ihre Stelle trat ein SA-Mann in Stiefel und Sporn. Bei seinen kurzen Visiten in den Klassen lief es mir kalt den Rücken herunter. Man hörte dauernd die NS-Lieder, viele Mädchen kamen bei uns auch mit BDM-Kluft in die Schule. Wir jüdischen Kinder wurden nicht vom Fahnenappell befreit, sondern mussten teilnehmen, mit an die Seite gepressten Armen, denn wir durften ja nicht mit den andern die Hand heben. Wir durften zwar das Deutschland-Lied, aber nicht das Horst-Wessel-Lied mitsingen. Für uns Kinder war das schwierig. Besser wäre gewesen, man hätte uns ganz befreit. Von den christlichen Andachten waren wir aber dispensiert und durften dann Schularbeiten machen.
In der Deutschstunde gehörte ich jetzt nicht mehr zu den zwei oder drei Erwählten, die ihre Aufsätze der Klasse vorlesen durften. Als einmal der Musiklehrer fragte, wer bereit sei, ein Gesangstück vom Blatt zu singen, und ich mich meldete, rief er entrüstet: "Was, keine einzige in der ganzen Klasse?" Da bekam er es aber mit meinen Mitschülerinnen zu tun, die ihn energisch auf meine erhobene Hand aufmerksam machten. Ich denke öfter und mit Gefühlen des Dankes an all diese blonden Mädchen in ihren Jungmädelblusen, die sich ohne viel Überlegung, aus spontanem Gefühl für Recht und Unrecht, auf meine Seite stellten – an meine Freundin Marianne, das freundliche Ilschen Schäfer, das kohlschwarzzopfige Mohrchen, die sanfte Ruth Bunge, die aristokratische Ingeborg Hermsmayer oder die temperamentvolle Annelore Maushacker, die Tochter des Chefredakteurs der Oder-Zeitung. Nie habe ich ein beleidigendes Wort von einer von ihnen gehört. Einige kamen nach wie vor zu mir nach Hause, um gemeinsam Schularbeiten zu machen, Bücher zu tauschen oder einen Kanon zu singen. Die hübsche Alice Wolf mit dem Bubikopf stand jeden Morgen zum gemeinsamen Schulweg vor unserm Haus. Ihr Bruder, ein hünenhafter Hitlerjugendführer, trat als Beschützer des meinen auf, indem er rassebewusstere Mitschüler des Friedrichsgymnasiums strengstens verwarnte, sich an ihm zu vergreifen.
Prüfungen für uns waren demgegenüber die Anpöbelungen auf der Straße. Ich habe noch eine Narbe an der Stirn von einem solchen Vorfall. Als ich einmal die Straße entlang ging, marschierte eine HJ-Abteilung mit Fahne vorbei. Da sprangen ein paar Jungen auf mich zu und stießen mich gegen die Wand, weil ich die Fahne nicht gegrüßt hatte. Als Jüdin durfte ich aber die Fahne gar nicht grüßen, im Gegensatz zu "deutschen" Mädchen. Ich habe furchtbar geblutet.
Schon 1933 wurde mein Vater als Leiter der Säuglingsstation entlassen. Auch die Krankenkasse bedurfte seiner Dienste nicht mehr. Bei immer schwächer werdender Privatpraxis wurde das Verdienen des Lebensunterhalts für die vierköpfige Familie immer mehr zum Problem. Als mein Vater keine nichtjüdischen Patienten mehr hatte, gab meine Mutter Englisch-Kurse. Die ganze Gemeinde hat bei ihr Englisch gelernt, sie wollten ja alle auswandern. Meine Mutter musste die Lektionen vorher erst selbst lernen, war den Schülern immer gerade eine Lektion voraus.
Wir haben auch ein Zimmer an einen nichtjüdischen Geigenlehrer vermietet. Er war entschiedener Antinazi und hat bis zum Sommer 1938 in diesem Zimmer in unserer Wohnung Geigenstunden gegeben. Eines Tages kam er dann zu meinen Eltern und eröffnete ihnen, dass er nicht mehr bei ihnen unterrichten dürfe. Er bat sie um Verständnis, er sei ganz außer sich, aber er hätte große Schwierigkeiten, die Schüler durften nicht mehr kommen. Bis dahin konnte auch die Klavierlehrerin noch in unser Haus zum Unterricht kommen, auch das war nun nicht mehr möglich. Auch sie musste uns absagen, es tat ihr schrecklich leid.
Mein Vater gehörte dem Vorstand der jüdischen Gemeinde an. Daneben war er auch in der Hardenberg-Loge tätig. Dies war eine jüdische Loge, die nach dem Verbot der anderen Logen noch fortbestand. Sie befand sich in einem schönen Gartenhaus am Wilhelmsplatz. Wir hatten dort auch unsere Heimabende von den "Werkleuten". Wir haben dort einen Chor gehabt und viel Musik gemacht. Während der Versammlungen kam mitunter ein SA-Mann und kontrollierte. Wir waren jedoch informiert, worüber wir dann zu sprechen hatten, und was wir zu singen hatten. Das Thema wurde sofort gewechselt.
Wir sind schon als junge Mädchen zu den "Werkleuten" gegangen, die aus den "Kameraden" hervorgegangen waren. Mein Bruder, der drei Jahre älter war, gehörte schon lange dazu. Die "Kameraden" waren noch in keiner Weise zionistisch ausgerichtet, sie standen dem Wandervogel nahe, veranstalteten Heimabende, hatten Lager, sangen Landsknechtslieder wie die andern deutschen Bünde. Der Wandervogel wurde jedoch zunehmend antisemitisch. Daher waren rein jüdische Wanderbünde gegründet worden. Die "Werkleute" waren bereits zionistisch ausgerichtet, Martin Buber hat sie stark beeinflusst. Sie sorgten auf die bestmögliche Weise für die Stärkung unseres Selbstbewusstseins. Wir pilgerten sonntags hinaus zu einer Wiese im Eichwald, hielten Völkerballturniere ab, sangen Landsknechts- und hebräische Pionierlieder durcheinander, saßen im Kreise auf dem Gras, im Schneidersitz, diskutierten über die Weltprobleme, den Chassidismus und die Kibbuz-Bewegung. Wenn wir durch die Wälder radelten, immer auf der Hut, zu zweit oder zu dritt, um nicht Aufmerksamkeit zu erregen, träumten wir von der judäischen Wüste, den Bergen Galiläas und der wunderbaren Freiheit, die uns dort erwartete. Wir fühlten uns inzwischen als Fremde in dem Land unserer Geburt, das so sehr darauf aus war, uns loszuwerden.
Gleichzeitig mit den wachsenden Einschränkungen und Schikanen der Nazi-Zeit intensivierte sich das kulturelle Leben. Da zahllose jüdische Künstler entlassen waren und sozusagen auf der Straße lagen, konnten sie nur noch im eigenen Rahmen wirken. So erschienen jetzt in unserer Provinzstadt angesehene Musiker, Schauspieler und Schriftsteller, um im Saal der Hardenberg-Loge, und nach der Beschlagnahme dieses schönen Hauses in dem nüchternen Gemeindesaal über der Synagoge ihre Kunst darzubieten. Alle wurden in unserm Haus empfangen, dort wurde musiziert, rezitiert, diskutiert, und so konnte man immer etwas Neues hören und erleben. Meine Eltern führten ein offenes Haus, es gab viel Geselligkeit. Hausmusik wurde veranstaltet, meine Mutter hat gesungen. Ich wurde als unentbehrliche Notenumblätterin in diesen Kreis hineingezogen und hatte meinen Anteil an dem Applaus für die Klaviervirtuosen. Wesentlicher war allerdings der Beitrag meines Bruders, der sich als Begleiter, Solopianist und sogar als Komponist hervortat. Sein erster größerer Auftritt erfolgte bei den Kinderszenen von Schumann, diesen Tondichtungen von den Freuden und Leiden, Ängsten, Grübeleien und Träumen einer heilen Kindheit. Eben der, die unsere Eltern für uns geplant hatten, bevor ein böser, mächtigerer Wille eingriff.
Aus dem Sprechzimmer meines Vaters hörte man immer seltener Babygeschrei, manchmal verstummte es für ganze Stunden, besonders, wenn der SA-Mann auf der Straße patrouillierte und jeden, der mit einem Kind ins Haus trat, nach Namen und Anliegen fragte. Die wenigen, die der ruhigen Autorität meines Vaters zuletzt noch die Treue hielten, kamen oft erst nach Anbruch der Dunkelheit oder baten ihn telefonisch um einen abendlichen und nächtlichen Besuch. Meine Mutter, von Jugend auf zionistisch orientiert, drängte auf Auswanderung nach Palästina. Mein Vater pflegte auf schlimme Geschichten stets mit dem Ausspruch zu reagieren: "Das glaube ich nicht!"- In der Emigration - und die Alijah, der "Aufstieg" ins Land Israel war für ihn nichts anderes - sah er nichts als ein Kapitulieren, ein fatales Akzeptieren des Sieges des Bösen über das Gute. Seine Gäste führte er nach wie vor in die alten Frankfurter Messehäuser, zum Geburtshaus von Heinrich von Kleist, zeigte ihnen das Kunersdorfer Schlachtfeld oder den exotischen Baum, Gingko biloba, den er in den Anlagen entdeckt hatte, und deklamierte dazu das Gedicht, das Goethe einst bei der Betrachtung eines Baumes dieser Art in Heidelberger Schlosshof niedergeschrieben hatte.
Doch war meine Kindheit keine glückliche. Nicht wegen des sich immer mehr verfinsternden Himmels, denn was wusste ich schon von dem Grauen, das in der Zukunft wartete, sondern weil über ihr die große, schwarze Wolke des Abschieds lag. Mein Vater hatte beschlossen, nicht auszuwandern. Andere, viele nahe Verwandte und Freunde, entschieden sich anders. Häuser, in die wir gewohnt waren einzutreten, wurden zu abweisenden Fassaden. Um den Weggezogenen in ihre neuen Wohnorte zu folgen, mussten wir, neben der Palästina-Karte, Knaurs großen Weltatlas zu Rate ziehen. Oft bedurfte es der Wanderung über mehrere Länder, um die verstreuten Mitglieder einer bis vor kurzem noch glücklich vereinten Familie aufzufinden.
Hirschbergs waren die ersten, die weggingen, schon 1933, ohne zu zögern. Onkel Josef und Tante Else, wie wir sie nannten, waren die besten Freunde unserer Eltern gewesen. Onkel Josef besaß ein Riesengrundstück mit Garten, Wiese und Wald am Rande der Stadt, ein Paradies unserer Kindheit, bald ein verlorenes Paradies. Damals war Traudchen Lapidas noch da, die unzertrennliche Gefährtin meiner frühen Kindheit, die Tochter des Kultusbeamten der jüdischen Gemeinde. Unter seinen verschiedenen Ämtern und Pflichten fiel ihm auch die Aufgabe zu, an den hohen Feiertagen den Schofar, das uralte Widderhorn, zu blasen. In den letzten Monaten vor ihrer Abreise waren wir sehr aktiv. Ich schrieb Geschichten, sie illustrierte sie und band sie ein, und dann verkauften wir sie für teures Geld an wohlmeinende Bekannte, eine Mark oder 1,50 pro Buch. Dann ging sie mit ihren Eltern nach Palästina, und ich schloss mich für eine Woche in mein Zimmer ein und war für niemanden zu sprechen.
In den ersten Jahren predigte unser Rabbiner, Ignaz Maybaum, der angesehene und autoritäre Seelsorger unserer Gemeinde, noch gegen die Kleingläubigen, die nicht standhalten wollten. Eines Tages verschwand aber auch er, zunächst nur ins Gefängnis, und wir mussten uns für seinen kleinen Sohn Mischa alle möglichen Ablenkungen ausdenken, damit er nicht zu oft nach seinem Vater fragte. Irgendwann packte auch er seine Siebensachen, nahm seine Frau, den krausköpfigen Mischa und das Baby, und suchte das Weite.
Im Laufe der Zeit wurde es eine Gewohnheit, auf den Bahnhof zu gehen, wenn jemand abfuhr. Wir winkten, bis der Zug außer Sicht war, dann gingen wir nach Hause und brüteten. In den letzten zwei Frankfurter Jahren, 1937/38, hatten alle unsere großen Brüder und Schwestern von den "Werkleuten" die Stadt verlassen. Wir elf- bis dreizehnjährigen Jungen und Mädchen versuchten, unsere Verwaistheit mit gesteigerter Aktivität zu verdrängen. Führerlos zurückgeblieben mussten wir uns nun selbst führen, auch nach außen hin. In bestimmten Abständen musste ich mich als kleines Mädchen mit Pony und Stupsnase, doch "Ortsgruppenleiterin der Werkleute", bei der Kriminalpolizei melden. Das war immer ein allgemeines Gaudium, und keiner von den jovialen Beamten sprach anders mit mir als mit amüsiertem Augenzwinkern.
Anders war es bei der Gestapo, wohin ich einmal, mitten aus der Geschichtsstunde heraus, abgeholt wurde - zum Entsetzen meiner Mitschülerinnen. Man brachte mich in einen großen kahlen Raum. Dort traf ich eine Reihe von Bekannten, alles ältere Herren, die irgendwelche öffentlichen Ämter in der jüdischen Gemeinde bekleideten. Wir mussten uns alle mit dem Gesicht zur Wand stellen, sehr lange, ohne dass etwas geschah. Ich sah, wie dem alten Herrn neben mir die Knie zitterten und sein Körper hin und her zu schwanken begann. Irgendwann fing eine Stimme hinter uns zu schreien an, zu toben, zu fluchen, zu drohen. Ich verstand nichts, war nur beschäftigt mit der Frage, ob ich den alten Herrn auffangen sollte, wenn er umfiel, oder feige an der Wand stehen bleiben würde. Aber irgendwann war alles zu Ende. Wir durften den Raum verlassen, vorbei an dem Schreier, der unseren Auszug mit bösen Augen verfolgte. Keiner hatte Hand an mich gelegt, aber der Ton, den man mir gegenüber anschlug, das unsinnige Geschimpfe, Gebrüll und die offene Drohung, das Theater, das man inszenierte, hätte mich trotz aller Naivität damals schon lehren müssen, was sich da vorbereitete. Doch ich erzählte niemandem ein Sterbenswörtchen.
Als auch mein Vater endlich erkannte, dass sein Glaube an das "gute" Deutschland verfehlt war, wandte er seine ganze geistige und seelische Kraft der neuen Heimat zu, dem Land Israel. Wenn er etwas tat, tat er es ganz. Er erweiterte seine hebräischen Sprachkenntnisse, las die Bibel mit Hilfe der Buber-Übersetzung, versuchte sich an neuhebräischen Schriftstellern und Dichtern wie Agnon und Bialik, beschäftigte sich mit Geografie und Geschichte von Palästina und vertiefte sich in die Briefe von Freunden und Verwandten, die von den Schwierigkeiten erzählten und den Bemühungen, mit ihnen fertig zu werden. Betrüblich an der neuen Orientierung war nur, dass sie zu spät kam. Infolge der gespannten Lage hatten die britischen Behörden die Einwanderungspolitik geändert. Es gab nur noch eine begrenzte Zahl von Zertifikaten, hauptsächlich für Jugendliche und für Kapitalisten. Meinen Eltern aber war es aber unmöglich, nach fünf Jahren Hitlerregierung noch die verlangten 1ooo Pfund aufzubringen.
Im Spätsommer 1938 erhielt ich jedoch aus Berlin ein Auswanderungszertifikat für die Jugend-Alijah. In der Jüdischen Rundschau für Kinder war eine Geschichte von mir gedruckt worden, dafür gab mir die Jugendhilfe ein Stipendium für das Kinderdorf Ben Shemen, das für drei Jahre galt. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Als meine Mutter mich bei dem Direktor des Lyzeums abmeldete, sah er sie ungläubig an: "Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie ein dreizehnjähriges Kind ohne Eltern in die weite Welt schicken?" "Was schlagen Sie denn vor, Herr Direktor?" fragte meine Mutter. Der Direktor schwieg.
Am letzten Schultag vor dem Abschied kam meine Freundin Ingeborg auf mich zu und sagte: "Ich wünsche dir viel Glück, aber glaube mir, es ist gut, dass du uns verlässt. Denn die Kluft, die uns voneinander trennt, ist wohl doch nicht zu überbrücken". "Ja, da wirst du wohl recht haben", antwortete ich. Am Tag, bevor ich Frankfurt für immer, wie ich glaubte, verließ, an einem der letzten Septembertage, nahm ich mit meinem Bruder auf einem Spaziergang durch die Anlagen Abschied. In Frankfurt war damals schon niemand mehr von meinen früheren Freunden. Alle waren entweder schon ausgewandert oder zeitweilig nach Berlin gezogen.
Zunächst fuhr auch ich nur nach Berlin. Ich meldete mich bei der Jugendhilfe in der Meineke-Straße. Dieser Komplex beherbergte alle möglichen zionistischen Institutionen. Zunächst wurden wir auf einem Gut unweit von Berlin auf unsere neue Zukunft in Palästina vorbereitet. Wir arbeiteten in Haus, Garten und Feld, lernten Hebräisch, sangen und tanzten palästinensische Volkstänze und diskutierten das Blaue vom Himmel herunter. Als das Lager zu Ende war, enthüllte man uns, dass für uns fünfzig Kinder nur 25 Zertifikate bereit lagen. Die Leiter des Lagers, junge Leute von 21, 22 Jahren, mussten entscheiden, wer fuhr und wer blieb. Zu ihrem Glück wussten sie damals nicht, dass sie über Tod oder Leben zu beschließen hatten. Nachher ging alles sehr schnell. Jetzt war ich diejenige, die am Anhalter Bahnhof im Zuge saß, und die andern standen unten am Fenster. Mein Bruder Alfred reiste einen Monat später aus, er bekam ein Studentenzertifikat für die Musikschule in Jerusalem, die damals gegründet worden war. Gleich nach seiner Abfahrt kam die "Kristallnacht".
Ich fuhr auf dem Schiff zusammen mit der verwitweten Frau Aronheim und deren beiden jüngeren Söhnen Hermann und Peter nach Palästina. Als knapp Vierzehnjährige kam ich in ein neues Land - kein fremdes, denn ich hatte ihm schon jahrelang entgegengeträumt. Dennoch war alles anders, das Licht, die Farben, Gerüche, Stimmen, Gesichter, man aß andere Speisen, kleidete sich anders, las andere Bücher. Bäume und Blumen hatten keine Namen, und die neue Sprache reichte trotz der jahrelangen Studien nur für gerade das Allernötigste. Ich stand vor der Frage, ob ich, um dieses Neue und Fremde mir anzueignen, all das bisschen Wissen, das ich von meinem ersten Zuhause mitgebracht habe, hinter mich werfen, es vergessen, mit der Vergangenheit brechen muss.
An den ersten Tag im neuen Land erinnere ich mich noch ganz genau. Am Abend unserer Ankunft gab es Schießereien, das Land war unruhig, die Fahrt vom Hafen zum Jugenddorf Ben Schemen legten wir in einem gepanzerten Wagen zurück. Einige der jüngeren Lehrer waren gegen Angreifer ausgezogen, wir lagen mit unseren neuen Gefährten im Dunkeln auf dem Fußboden und zitterten um ihre Sicherheit. Aber als uns die Kinder am Morgen den Hügel herauf zum wöchentlichen Schabbatkonzert führten, war davon nichts mehr zu spüren. Die große Essbaracke, in der das Konzert stattfand, war vollgestopft mit jugendlichen Zuhörern. Die beiden Musiklehrer des Dorfes spielten Violinsonaten von Mozart und Beethoven, ein Mädchenchor sang Duette von Mendelssohn mit hebräischem Text und Lieder der Dichterin Rachel, die wir schon kannten. An diesem Morgen muss ich wohl glücklich gewesen sein, weil Mozart und Beethoven für die Geborgenheit und das Zuhause Sein standen, und weil sie so schön und richtig klangen auf dem Hügel im neuen Land, und weil sich die hebräischen Worte so schön einfügten in die Melodien von Mendelssohn, und weil all das eine feste Brücke bildete zu den zurückgebliebenen Eltern und dem Land der Geburt, und weil sich plötzlich herausstellte, dass etwas neu beginnen kann und zugleich auch weitergehen, ohne Bruch.
Unser Vater wurde in der Kristallnacht mit vielen anderen verhaftet und kam nach Sachsenhausen. Damals hieß es, wer ein Einreisevisum für irgendein Land vorweisen kann, wird entlassen. Zu dieser Zeit wollten sie die Juden nur los werden, noch nicht umbringen. Aber wie an ein Zertifikat kommen, das für die Einreise in Palästina erforderlich war? Eine Schwester unserer Mutter, Lucy Nelken, Frau eines angesehenen Arztes hier in Jerusalem, im Grunde eine sehr schüchterne, zurückhaltende Frau, ist damals von Haus zu Haus gepilgert, um von allen Bekannten, Freunden und Patienten ihres Mannes Geld zu erbitten. So hat sie tatsächlich die erforderlichen 1000 Pfund zusammengebettelt. Was sie das gekostet haben muss, kann man sich gar nicht vorstellen.
Nun war das Problem, wie man dieses Geld sicher nach Deutschland bringen konnte, denn meine Mutter musste der britischen Botschaft einen Bankbeleg vorweisen. Wir hatten eine Verwandte, eine Cousine zweiten Grades meiner Mutter, die Tochter des sephardischen Chief Rabbi von London, Irene Gaster. Sie hat sich in Israel für geistesschwache Kinder engagiert und Heime und eine Gesellschaft für behinderte Kinder, Akim, gegründet. Sie kam als englische Staatsbürgerin mit dem Geld nach Deutschland. Tatsächlich erhielt meine Mutter dann das letzte Zertifikat, das damals ausgegeben wurde. Sie stand in der Reihe vor der Visumausgabe, und gerade als sie dran war, ging der Schalter zu. Sie war völlig verzweifelt und protestierte so energisch, dass sie schließlich das Zertifikat doch noch bekam. Später wurden keine Zertifikate mehr ausgegeben.
Aufgrund dieses Zertifikats wurde dann mein Vater freigelassen. Im März 1939 kamen die Eltern nach Palästina. Mein Bruder und ich durften sie im Hafen von Tel Aviv in Empfang nehmen. Der neue Hafen war wegen der arabischen Unruhen in aller Hast instandgesetzt und ausgebaut worden. Mein Vater kam völlig verändert ins Land, ein gebrochener Mann. Er hatte schon im Lager einen Parkinson-Anfall bekommen, vorher war er kerngesund gewesen. Er konnte hier auch zunächst nicht mehr praktizieren. Als er nach längerer Zeit doch die Lizenz bekam, war er bereits zu krank und wurde immer kränker. Meine Eltern hatten es sehr schwer. Wir waren auch zu jung, um ihnen helfen zu können.
In Ben Shemen gab es ein Kinder- und ein Jugenddorf, geleitet von dem berühmten Erzieher Dr. Siegfried Lehmann, einer großen Persönlichkeit. Wir hatten auch sonst die besten Lehrer, einer von ihnen wurde später einer der berühmtesten israelischen Schriftsteller. Wir hatten auch Orchester und Chöre, es war ein Kulturparadies. Mit dem Jugenddorf war auch eine landwirtschaftliche Schule verbunden. Ich wollte aber schrecklich gern weiter auf das Gymnasium gehen, und so wurde mir schließlich das dritte Jahr von Ben Shemen ausbezahlt, damit ich in Jerusalem ein Gymnasium besuchen konnte.
Ich erhielt dann noch ein Stipendium, das mir den weiteren Besuch des Gymnasiums ermöglichte. Das war schon während des Krieges. Für mich war es eine große Sache, denn das Gymnasium zu besuchen war sonst bei den Neueinwanderern nicht üblich. Die andern Kinder stammten aus etablierten Familien. Ich machte auch immer die Schularbeiten, während die andern Schüler faulenzten. Aber sie hatten Verständnis dafür, dass bei mir die Dinge anders lagen. Nach drei Jahren, 1943, habe ich das Abitur abgelegt. Anschließend lebte ich ein Jahr in dem Kibbuz Dorot in der Negev, östlich von Gaza. Das war ein junger Kibbuz, damals erst ein Jahr alt. Dann ging ich an die Universität in Jerusalem, studierte Judaistik und jüdische Geschichte. Ich hatte dort berühmte Lehrer, Baer, Allon, Dinur. Ich habe auch hebräische Literatur gehört und schließlich an einem Kurs für englische Literatur teilgenommen. Den hielt ein Professor Isaacs, der eigens aus London kam. Die ganze Universität wollte zu ihm, er nahm aber nur zwölf Schüler, ich war dabei - ein ganz großes Privileg.
Das Studium habe ich jedoch nicht beendet. Kurz vor dem Abschluss wurde ich nach Zypern geschickt, wo die großen Lager für die internierten Immigranten waren, welche die Engländer nicht ins Land ließen. Vor allem Dinur schickte seine Schüler nach Zypern. Die Jewish Agency kümmerte sich um die Internierten und gab Geld für deren Ausbildung. Wir haben dort ein Seminar für Jugendliche aufgebaut, die die Schule verlassen und nichts zu tun hatten. Es gab ein Sommer- und ein Winterlager. Es war eine gute Sache, die Schüler waren vorbildlich, sie sogen jedes Wort auf.
Auf Zypern habe ich geheiratet. Mein Mann, David Brodski, war aus Polen am Anfang des Krieges über Russland und Japan nach Amerika geflüchtet. Er wurde dann amerikanischer Soldat und bekam bei der Entlassung eine Geldsumme von der Armee. Für Soldaten, die studieren wollten, gab es die GI-Bill, monatlich eine reichliche Summe für das Studium. Er studierte in Jerusalem, ging jedoch dann wie ich nach Zypern, und dort haben wir uns kennen gelernt.
Ich erinnere mich noch an die Nacht, als der Staat Israel ausgerufen wurde. Als ich von Zypern zurückkam, war schon der Befreiungskrieg im Gange. Ich ging nicht mehr an die Universität, sondern auf die Musikakademie. Musik zu studieren war mein eigentlicher Wunsch. Auch mein Bruder war Musiker. Musik war ein wichtiger Bestandteil unserer Jugendzeit gewesen, sie steht für das, was uns das Land unserer Geburt nicht nehmen konnte, als es uns verstieß, dahin, wo wir hingehören, und wohin wir ohne den Druck der Verfolgung wahrscheinlich nie gelangt wären.
Ich habe dann lange Zeit in der Musikabteilung am israelischen Rundfunk gearbeitet. Ich wurde durch Serien über Komponisten bekannt, die mit Schauspielern und Musikern gestaltet wurde. Eine ganze Generation hat ihre musikalische Bildung aus diesen Programmen bezogen. Ich habe mich dann 1986 frühzeitig pensionieren lassen. Ich wollte mich noch meinen literarischen Interessen widmen, einige Bücher schreiben. Jahrelang habe ich dann an einer Rilke-Biographie gearbeitet, mit Gedichten und Briefen. Etwas Derartiges gab es in Ivrit, in Neuhebräisch, überhaupt nicht. Dann habe ich noch eine Anthologie deutscher Lieder herausgegeben, Texte in Ivrit zu der entsprechenden Musik. 1994 erhielt ich in Weimar vom Goethe-Institut eine Medaille für meine Aktivitäten auf dem Gebiet des literarischen und künstlerischen Kulturaustausches zwischen Deutschland und Israel. Jetzt (1995) arbeite ich an der Biographie eines israelischen Komponisten, der auch aus dem Gebiet von Posen stammt.
Bericht von Eldad (Alfred) Neumark, London, 23.6.1996.
Ich wurde 14 Tage nach der Ankunft meiner Eltern in Frankfurt geboren. Seit Ostern 1930 besuchte ich das Friedrichsgymnasium und hatte dort auch nach der Machtergreifung keine besonderen Schwierigkeiten mit Mitschülern. Das Problem war nach 1933 ganz allgemein, sich als Jude auf der Straße zu bewegen. Vor allem im ersten Jahr nach der Machtübernahme zogen dauernd Abteilungen der SA oder Hitlerjugend mit Fahnen die Straßen entlang. Wenn man die Hand nicht zum Hitlergruß hob, war das gefährlich, wenn man es aber tat und dann stellte sich heraus, dass man Jude war, war es noch gefährlicher.
Im Friedrichsgymnasiums hatte ich nur einmal ein unschönes Erlebnis. Während des Potsdamer Tages am 21. März war ein großer Fackelzug der gesamten Frankfurter Jugend geplant. Auch die Schüler des Friedrichsgymnasiums sollten geschlossen daran teilnehmen. Meine Eltern waren damals noch verwirrter als viele andere und schickten mich mit. Ich marschierte also mit den andern mit einer Fackel. Natürlich wussten viele, wer ich war, und meine Hintermänner verpassten mir dauernd Fußtritte. Ich war völlig konfus.
Damals, mit zwölf Jahren, verstand ich nicht, warum ich an der deutschen Erhebung keinen Anteil haben sollte. Was hatte mein Judentum damit zu tun? Die Eltern konnten mir nicht helfen, sie waren selbst ratlos. Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis ich durch die Jugendbewegung der "Werkleute" all-mählich meine jüdische Identität fand und verstand, dass ich ein anderer war. Ich begriff auch, dass dieses Anderssein keineswegs etwas Negatives war, dass ich im Gegenteil auf mein Jüdischsein stolz sein konnte.
Die Schule selbst vertrat keine antisemitische oder prosemitische Haltung. Sie war sozusagen neutral. Es hing völlig von den einzelnen Lehrern ab. Ich erinnere mich gut an unsern Klassenlehrer Dr. Schmidt, der zu sagen pflegte: "Ihr HJ-Jungen arbeitet alle nicht, ihr geht raus, marschiert, schwenkt Fahnen. Was soll aus dem armen Deutschland werden, wenn nur die Juden hier arbeiten, denn das sind die einzigen, die noch etwas tun!" Zu uns war er jedenfalls sehr nett. Es gab nur zwei Juden in der Klasse, Herbert Cohn und mich. Ein Mitschüler und hoher HJ-Führer, Wolf, hat die Klasse gewarnt, mir auch nur ein Haar zu krümmen. Erst später habe ich erfahren, dass seine Schwester und Ada gute Freundinnen waren.
Trotzdem spürte auch ich immer deutlicher, dass ich isoliert war, dass der kameradschaftliche Umgang innerhalb der Klasse mich ausschloss. Wir gingen mit zu allerhand Veranstaltungen, Wandertagen, besuchten Manöver der Wehrmacht, aber wir gehörten nicht wirklich mehr dazu. Unsere Eltern pflegten ihre verschiedenen Interessen. Der Vater liebte die Berge, die Mutter das Meer. So fuhr mein Vater in den Ferien ins Gebirge, meine Mutter mit uns an die See, und der Vater kam dann vielleicht noch für eine Woche zu uns. Er liebte Bäume und Blumen, kannte sie alle. Die Mutter war sehr musikalisch, sie fuhr jede Woche nach Berlin zum Gesangsunterricht. Auch ich fuhr nach Berlin zu Klavierstunden. In Berlin lebten auch meine Großeltern. Bei unsern Besuchen dort wohnten wir bei ihnen.
Mit der Übersiedlung unserer Eltern nach Berlin bin ich 1936 an die jüdische Schule im Siegmundshof übergewechselt. Die Schule war sehr fromm. Wir Schüler, die von deutschen Gymnasien kamen, waren das nicht. Die Lehrer versuchten zunächst, auch aus uns fromme Juden zu machen. Wir mussten täglich Talmud und Rabbinerschriften lernen. Irgendwann haben die Lehrer aufgegeben. Im Übrigen war es eine ausgezeichnete Schule. Die Nazis hatten damals die Oberprima abgeschafft, weil sie Soldaten für die Wehrmacht brauchten, und so habe ich mit 17 Jahren 1938 dort noch regulär das Abitur abgelegt. Die Prüfung wurde unter Aufsicht einer vom Kultusministerium entsandten Kommission vorgenommen. Das Abitur war völlig in Ordnung, die Anforderungen entsprachen denen deutscher Gymnasien.
Die "Kameraden" haben mir unendlich viel bedeutet. Gerson muss eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein. Er versuchte, aus den Werkleuten eine liberal-religiöse Gemeinschaft zu machen. Im Harz, im Riesengebirge wurden Lager veranstaltet, jeweils eine Woche, am Vormittag Wandern oder Skifahren, am Nachmittag Vorträge und Seminare. Wir hatten Winter- und Sommerlager mit Bibel- und Buber-Studien, aber auch Jack London und Rosa Luxemburg wurden gelesen. Die Hälfte haben wir nicht verstanden. Wir sollten uns da auch mit Mädchen treffen, aber nur, um über Kunst, Religion, Judentum zu diskutieren. Es gab einen sozialistischen Trend, andererseits war auch noch der Einfluss der Wandervogelbewegung spürbar. Es verging kein Monat, ohne dass man am Lagerfeuer am Freitagabend den "Kornett" von Rilke zu hören bekam. Später allerdings, im Kibbuz, brauchte man keine Philosophen mehr.
Bis Oktober 1938 war ich noch in Berlin. Dort war das Leben bis zur Kristallnacht noch erträglich. Ich konnte noch in Konzerte und die Oper gehen, mich stundenlang anstellen, ohne belästigt zu werden. Das war alles später nicht mehr möglich. Nach dem Abitur interessierte mich nur noch, ob ich in Israel Musik studieren konnte, ob der Kibbuz das zuließ. Man sagte mir, dass ich erst einmal eine Hachschara machen und dann in einen Kibbuz gehen müsste. Nach ein paar Jahren würde man dann sehen, ob man mich Musik studieren ließe. Das hat mich nicht begeistert.
Ich bewarb mich nun um ein Stipendium für das Jerusalemer Konservatorium, das Palestine Music Conservatory, das Emil Hauser 1933 gegründet hatte. Heute ist es die Israel Academy of Music. Hauser bekam jedes Jahr 30-40 Zertifikate von der britischen Mandatsregierung für Studenten und prüfte die Bewerber in Berlin. Ich hatte das Glück, die Prüfung zu bestehen, und konnte im Oktober 1938 ausreisen. Unsere Eltern kamen erst Anfang 1939. Unser Vater war krank, er bekam auch jahrelang keine Erlaubnis, als Arzt zu arbeiten, denn es gab in Palästina einen Numerus clausus für Ärzte. Ich habe drei Jahre am Konservatorium Klavier und Flöte studiert und erhielt 1941 mein Abschlusszeugnis. 1949 heiratete ich eine Französin, die ich in Tel Aviv kennen gelernt hatte.
Bit 1980 gehörte ich dem Israel Philharmonic Orchestra an, dann ging ich in Pension. Ich habe viel Kammermusik gemacht, etwa Barockmusik, in Quartetts und Trios mitgespielt. Neben Klavier und Flöte spiele ich auch Cembalo. Nach der Pensionierung gingen wir nach Paris, wo die Mutter meiner Frau pflegebedürftig war. Wir lebten wechselweise in Paris und in Tel Aviv. Meine Frau hatte den Krieg in Frankreich erlebt, teilweise in Paris, teilweise in Südfrankreich. Ihr Vater kam aus Indien, und die Eltern hatten sich getrennt, als der Vater dorthin zurückkehren wollte.
Nach dem Tod meiner Schwiegermutter vor etwa 10 Jahren sind wir nach England gezogen. Meine Frau arbeitet als englisch-französische Dolmetscherin. Ich habe hier viele Freunde und gebe gelegentlich auch noch Konzerte. Ich fühle mich aber als Israeli und bin in Israel zu Hause. Wir verbringen jedes Jahr zwei bis drei Monate in Tel Aviv. Ich lese Hebräisch und Englisch, aber wenn ich die Wahl habe, lese ich lieber und besser Deutsch.