Читать книгу Notlandung - Fritjof Karnani - Страница 5
Prolog
ОглавлениеMarcel brachte die Boeing 737 in den Endanflug auf die Landebahn 08 L des Flughafens Berlin-Tegel. Er war seit genau einer Woche Pilot. Zusammen mit einem Ausbildungskapitän flog er quer durch Europa reguläre Linienflüge der Filomena Airways. Er zählte noch jede Landung und jeden Start, dies war seine 19. Landung mit der 737. Die Aufregung der allerersten Tage hatte sich etwas gelegt, aber er war nach jedem Flug immer noch völlig durchgeschwitzt.
Als bekannt gegeben wurde, wer welchem Ausbildungskapitän zugeordnet wird, hatte er das große Los gezogen. In seiner Gruppe von Nachwuchsflugzeugführern wollten alle zu Beryl Bogner. Es hieß, Beryl sei der angenehmste Trainingskapitän der Airline und obendrein sehe sie auch noch verdammt gut aus. Angeblich fliege sie im Sommer im Minirock. Das mit dem Rock hielt Marcel nur für ein Gerücht, zumindest hatte er sie bisher immer nur in Hosen gesehen. Aber alles andere stimmte, sie war nett, und sie war als Pilotin einfach gut. Es machte Spaß, mit ihr zu fliegen, sie war souverän und zugleich locker, in den letzten Tagen hatten sie viel zusammen gelacht. Aber Marcel war sich sicher, dass sie stets alles unter Kontrolle hatte und sofort eingreifen konnte, falls er einen Fehler machen sollte. Zum Glück war das bisher nicht notwendig gewesen. In jedem Fall gab es ihm Selbstvertrauen, neben ihr zu sitzen. Bei Filomena Airways warf man die jungen Piloten ins kalte Wasser und gab ihnen vom ersten Tag an einen vollen Einsatzplan. Bekanntlich trainiert einen Piloten nichts besser als das Fliegen. Und so war er jetzt fünf Tage ohne Pause jeden Tag geflogen. Dies war dann aber erst mal sein letzter Flug, nach der Landung würden sie das Flugzeug an die nächste Crew übergeben, und er hatte drei Tage frei. Er freute sich auf diese Tage und hatte sich fest vorgenommen, die meiste Zeit davon zu verschlafen.
Es wurde Zeit, die Checkliste für die Landung durchzugehen. Marcel führte als Pilot Flying den Flug durch, er hatte das Steuer in der Hand, und es war seine Aufgabe, die Liste anzufordern. An Bord eines Verkehrsflugzeuges war genau geregelt, wer welche Aufgaben hat. Beryl war der Kapitän und hatte das absolute Sagen an Bord. Aber neben der Hierarchie gab es die Aufgabenverteilung, vor jedem Flug wurde festgelegt, wer den Flug aktiv durchführte und wer die anderen Aufgaben wie den Sprechfunkverkehr und das Lesen der Checklisten wahrnahm.
»Landing checklist«, forderte Marcel an.
»Landing all green«, sagte Beryl nach kurzer Überprüfung der Instrumente und Anzeigen. Marcel hielt die ganze Zeit seine Augen auf die Landebahn am Horizont gerichtet und verließ sich blind auf Beryl.
»All green«, wiederholte er.
»Landing checklist completed.« Beryl bestätigte, dass sie bereit zur Landung waren.
Er wurde langsam nervös, die Sicht war hervorragend, er konnte die Landebahn deutlich erkennen. Die Maschine, die vor ihnen gelandet war, stand immer noch auf der Bahn. Die hätte da längst weg sein müssen, und natürlich hatten sie von der Flugsicherung auch noch keine Freigabe für die Landung erhalten.
»Keine Ahnung, was der da immer noch auf der Bahn macht, aber es wird knapp werden. Marcel, bereite dich gedanklich schon mal darauf vor, dass wir durchstarten müssen.«
Marcel schwitzte gleich noch etwas mehr, er versuchte, sich die Anweisung für den ›go around‹ in Erinnerung zu rufen. Durchstarten hatte er oft geübt, im Simulator, aber jetzt wurde es wahrscheinlich das erste Mal ernst. Warum mussten die Idioten da unten rumtrödeln, und warum hatte die Flugsicherung sie so eng hintereinander anfliegen lassen? Beryl beobachtete Marcel genau, sie konnte sich gut vorstellen, dass er aufgeregt war. Aber sie war sich sicher, dass er es gut machen würde, so wie alles in den letzten Tagen. Gerade als sie Marcel ein paar aufmunternde Worte sagen wollte, sah sie mit Erleichterung, dass die Maschine endlich weiterrollte und die Landebahn freigab. Und endlich kam auch die ersehnte Freigabe vom Tower Tegel: »Filomena 421, cleared to land runway 08 left, surface wind 250 degrees 7 knots, when vacated call ground on 121,92, thank you for your cooperation und einen schönen Tag noch.«
»Filomena 421, cleared to land runway 08 left, when vacated 121,92, good bye«, wiederholte Beryl die Freigabe.
»Von wegen ›thank you for your cooperation‹, der hat wohl auch gemerkt, dass das ziemlich eng war.«
»500.« Beryl sagte die aktuelle Höhe an, sie waren jetzt nur noch 500 Fuß, knapp 150 Meter über dem Boden.
»Check«, wiederholte Marcel, für Beryl das Zeichen, dass er in dieser kritischen Phase noch voll da und bei der Sache war.
Marcel merkte, wie ihm Schweißperlen den Oberkörper herunterliefen.
Kurz vor dem Aufsetzen der Maschine wurde die aktuelle Höhe durch eine Computerstimme des Bordcomputers im Cockpit laut angesagt. Marcels Augen waren immer noch allein auf die Landebahn vor ihm gerichtet.
»400.«
»300.«
»100.«
»50, 40, 30, 20, 10.«
Und dann setzte Marcel die Maschine auf.
»Filomena 421 vacated«, gab Beryl an den Tower durch.
Sie rollten aus, nahmen den zugewiesenen Abzweig von der Landebahn und fuhren bis kurz vor das Abfertigungsgebäude des Flughafens Tegel. Dann bremste Marcel die Boeing, und sie kamen zum Stehen. Das Flugzeug vor ihnen war immer noch am Abfertigungsfinger. Sie mussten warten, bis es aus dem Weg war.
Marcel setzte sich etwas bequemer hin, das Warten störte ihn jetzt überhaupt nicht mehr, er hatte es hinter sich.
»Nicht unser Tag heute, Marcel, nur Luschen vor uns. Wie soll man da pünktlich sein? Das kann jetzt dauern.«
Anke, der Purser, kam zu ihnen ins Cockpit.
»Na Mädchen, was’n los? Unsere Passagiere stehen mit Mantel und Koffer im Gang. Man kann die hundertmal darum bitten, sitzen zu bleiben, bei den Abendmaschinen wollen immer alle nur raus. Kann man irgendwie auch verstehen, wollen nach Hause, genau wie wir. Wie auch immer, auf jeden Fall bekommen bei uns in der Kabine gerade alle schlechte Laune, ich denke, eine Ansage des Kapitäns würde etwas helfen.«
Beryl lachte und nahm das Mikrofon für die Passagieransage.
»Wenn du in ein paar Jahren mal vier Streifen hast, Marcel, dann darfst du die wirklich wichtigen und verantwortungsvollen Dinge an Bord eines Verkehrsflugzeuges machen, wie zum Beispiel das Beruhigen der Fluggäste, freue dich schon mal drauf.«
»Meine Damen und Herren, hier meldet sich noch einmal Ihr Kapitän: Wir sind fast am Ziel unserer Reise, leider ist unser Ankunftsgate noch durch ein anderes Flugzeug belegt. Ich hoffe, dass wir in wenigen Minuten an die Fluggastbrücke können. Bitte entschuldigen Sie diese Verzögerung, für die unsere Airline und wir hier im Cockpit nichts können.«
»Die letzten Minuten kurz vor dem Ziel empfinden die meisten Passagiere als besonders lang. Anke hatte völlig recht, besser mal eine Ansage zu viel als zu wenig. Es war ein sehr guter Flug, Marcel. Du hast dir die freien Tage verdient«, sie lächelte ihn freundlich an.
Er hätte zu gerne gewusst, ob das mit dem Minirock stimmte, auch wenn sie mehr als zehn Jahre älter sein musste als er. Sie sah jünger aus, und er hätte viel für den Anblick gegeben.
»Was denkst du?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Hör zu, ich bin dein Kapitän, ich habe hier an Bord das Sagen. Also, keine Widerrede, was ging gerade in deinem Kopf vor?«
»Kann ich wirklich nicht sagen, wegen des Voicerekorders, der all unsere Gespräche aufzeichnet.«
Beryl musste lachen.
»Wegen des Voicerekorders? Ich glaube es nicht. Niemand hört den ab, außer du ramponierst unseren Flieger, und das werde ich nicht zulassen. Du redest hier mit einer Frau, die seit über zehn Jahren unfallfrei fliegt. Aber du hast Glück, der Finger ist endlich frei, und wir können los. Genau zum richtigen Zeitpunkt für dich. Bring uns nach Hause, Marcel, bevor in der Kabine eine Revolte ausbricht.«
Später am Fughafen verabschiedete sich die Crew voneinander.
Anke kam auf ihn zu.
»Also Marcel, du Grünschnabel, weil du uns alle heil hoch- und wieder runtergebracht hast, wir keinen Passagier verloren und wir uns in der Kabine keine Fingernägel abgebrochen haben, haben wir zusammengelegt.« Und auf einmal hatte sie einen Blumenstrauß in der Hand, den sie ihm überreichte.
»Alles Gute für dich und Gratulation zu deinen ersten Flügen als Verkehrspilot! Always happy landings, mein Süßer!«
Alle vier Kolleginnen aus der Kabine drückten ihn kurz und gaben ihm einen Kuss auf die Wange. Marcel wusste es zwar noch nicht, aber der Blumenstrauß war keine Selbstverständlichkeit. Anke stufte die Cockpitbesatzung in verschiedene Kategorien ein, die sehr Netten, die Kollegen und die Problematischen. Die meisten waren Kollegen, einige sehr nett, für die Kategorie problematisch gab es nur zwei Kandidaten. Marcel hatte es in Rekordzeit in die Kategorie der sehr Netten geschafft, normalerweise dauerte das eine Weile, und es gab einen Zwischenaufenthalt in der Kategorie der Kollegen. Als sie vor zwei Tagen eine Stunde auf einen verspäteten Flug warten mussten und gemeinsam in einem Selbstbedienungsrestaurant am Flughafen essen waren, hatte Marcel ganz selbstverständlich beim Abräumen des schmutzigen Geschirrs geholfen. Und jedes Mal, wenn ihm jemand einen Kaffee ins Cockpit brachte, konnte man ihm anmerken, dass ihm das etwas peinlich war.
»Du bist mit Frauen aufgewachsen, Marcel, oder?«, hatte Anke ihn einmal gefragt.
»Woher weißt du das?« Bei der Antwort war er rot geworden.
»Ach, nur so ein Gefühl. Nach acht Jahren in der Kabine hat man ein Gefühl für Menschen.«
Und so war Marcel einstimmig zu den sehr netten Kollegen aufgestiegen, und er hatte sich einen Blumenstrauß verdient.
Als Letzte war Beryl an der Reihe, sich zu verabschieden, auch sie nahm ihn kurz in die Arme.
Marcel liefen zwei Tränen herunter.
»Ihr müsst verzeihen, dass ich so emotional bin, aber ich habe auf diesen Tag hingearbeitet, seit ich zwölf bin. Mein größter Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Und ihr seid die besten Kollegen, die man zwischen Himmel und Erde haben kann, wirklich. Dass das Fliegen toll sein wird, habe ich gewusst, aber dass ich so nette Kollegen haben werde, das hätte ich mir nie erträumt.«
»Nun, wir lassen dich jetzt allein, Marcel. Genieße die freie Zeit. Wir beide sehen uns in drei Tagen.« Beryl hatte schon einige glückliche, frischgebackene Piloten erlebt, aber geheult hatte noch nie einer. Er war einfach süß, der Marcel. Wer weiß, wenn sie zehn Jahre jünger gewesen wäre?
Überglücklich machte sich Marcel kurz darauf auf den Heimweg.
Er hatte es geschafft, er war endlich am Ziel all seiner Träume.
Jetzt musste er nur noch ein Telefonat hinter sich bringen, dann war die Welt völlig in Ordnung und genau so, wie sie sein sollte.
Er drehte sich mehrfach um, um sicherzugehen, dass ihn niemand belauschen konnte, dann wählte er mit Widerwillen die Nummer.
»Hier ist Marcel, ich bin eben in Tegel gelandet. Sie wollten, dass ich mich melde.«
»Ja, schön, dass du anrufst, Marcel.«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich will da raus. Ich habe nicht gewusst, auf was ich mich einlasse, Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Ich mach da nicht mehr mit«, seine Stimme überschlug sich.
»Komm runter, Marcel. Alles kein Problem, wenn du raus willst, aber wir müssen diesen einen Job noch zu Ende bringen.«
»Nein, das werde ich nicht. Sie hätten mir sagen müssen, um was es geht, dann hätte ich gleich gesagt, dass Sie sich zum Teufel scheren können. Ich will nichts damit zu tun haben!« Er fing an zu schreien.
»Also gut, in Ordnung, wir müssen reden, aber nicht am Telefon.«
»Ich will da raus, sofort!«
»Beruhige dich, wir werden das so machen, wie du es willst. Aber lass uns das in Ruhe besprechen, kein Grund, sich aufzuregen.«
Marcel überlegte einen Moment, irgendwie war ihm das Ganze nicht geheuer, aber er wollte es hinter sich haben. Nur noch hinter sich bringen.
»In Ordnung, wann und wo?«
»Kannst du in einer halben Stunde am Treffpunkt sein?«
»Ich werde da sein, aber erst in einer Stunde.«
Bevor der andere antworten konnte, hatte Marcel aufgelegt.
Kurz darauf wählte sein Gesprächspartner eine andere Handynummer.
»Ja?«
»Ich habe mit ihm gesprochen, er ist gerade in Tegel gelandet. Er macht immer noch Ärger, er will raus. Also das kann er haben, das Arschloch. Er wird sich mit uns treffen, in einer Stunde am verabredeten Treffpunkt. Ihr wisst, was ihr zu tun habt? Ich will eine saubere Arbeit.«
»Sie können sich auf uns verlassen, wir sind Profis, niemand wird Verdacht schöpfen. Wir werden eine saubere Arbeit abliefern.«
»Ich will es hoffen.«