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Drei Tage später war Beryl gegen 8:00 Uhr am Flughafen und begab sich direkt zum Crewraum der Filomena Airways. Da Berlin einer der größten Stützpunkte war, hatte Filomena Air einen eigenen Raum für das fliegende Personal eingerichtet. Beryl holte sich wie immer, wenn sie morgens von Berlin aus losflog, einen Kaffee im Crewraum und suchte sich dann einen Platz am Fenster, weit weg von allen, und genoss den ersten Kaffee und den ruhigen Moment.

Anke kam auf sie zu.

»Hast du das von Marcel schon gehört, Beryl?«

Beryl schüttelte den Kopf. Anke registrierte nach vielen Jahren als Stewardess automatisch die Eigenarten ihrer Mitmenschen, und sie wusste um Beryls Wunsch, den ersten Kaffee am Morgen allein und mit Genuss trinken zu können. Die beiden waren schon unzählige Male zusammen geflogen und hatten viele Morgen zusammen verbracht. Beide quatschten viel und gerne miteinander, aber nie vor Beryls erstem Kaffee. Aber heute war alles anders, und es gab die Ausnahme von der Regel.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, er hat sich umgebracht.«

Beryl sah sie ungläubig an.

»Marcel hat was?«

»Er soll sich umgebracht haben. Zumindest hat man mir das erzählt. Sie fliegen gerade einen Ersatzmann aus Frankfurt ein, damit du planmäßig um 10:00 Uhr auf die Kanaren starten kannst.«

»Beryl, schön, dass du da bist, hast du einen Moment für mich?«

Bernd Freitag war der Manager des Standortes Tegel, er kümmerte sich um alles und jeden. »Ich weiß, wie wichtig dir dein Kaffee ist, aber es ist wichtig. Kannst du kurz mit in mein Büro kommen, du kannst deinen Kaffee natürlich mitnehmen.«

»Ich wusste gar nicht, dass mein Erster-Kaffee-am-Morgen-Ritual allgemein bekannt ist.« Beryl erhob sich immer noch etwas verwirrt und folgte Bernd in sein Büro.

»Na ja, wohl nicht allgemein bekannt, aber ich weiß eben alles, das ist mein Job.«

Bernd lächelte sie an, während sie in sein Büro gingen.

»Komm, wir setzen uns erst mal.«

Er holte tief Luft.

»Ich befürchte, ich habe keine schöne Nachricht am frühen Morgen. Marcel Leimbach ist vor drei Tagen ums Leben gekommen, sieht alles nach Selbstmord aus.«

»Das hat mir Anke gerade schon erzählt. Ist das wirklich wahr?«

»Ich verstehe es auch nicht, ich habe den jungen Mann nur ein paar Mal gesehen. Aber er schien ein netter und lebenslustiger Kerl zu sein, am Anfang seiner Karriere. Wie soll man das verstehen, aber man steckt in einem Menschen nicht drin. Kanntest du ihn näher?«

»Nein, auch nicht. Ich war sein Trainingskapitän, er war erst seit ein paar Wochen bei uns, wir sind nur die letzte Woche zusammen geflogen. Er hat sich ganz gut gemacht, war absolut happy, endlich im Cockpit zu sitzen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er sich umgebracht haben soll. Das ist doch Quatsch?«

»Was soll ich sagen, ich weiß auch nicht mehr als du. Wir haben von der Geschichte auch erst vor ein paar Stunden durch die Polizei erfahren. Halte mich bitte nicht für kaltherzig, aber es gibt wegen des Ausfalls von Marcel ein paar Dinge zu besprechen.«

Beryl nickte.

»Ein Ersatzmann kommt aus Frankfurt, Simon Lüttke. Ein Erster Offizier war nicht da, also könnt ihr beiden auslosen, wer heute der Kapitän ist. Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Bist du in Ordnung und kannst fliegen?«

»Klar, keine Frage, aber es trifft mich schon. Ist vielleicht besser, wenn Simon heute den Flug durchführt.«

»Eure Entscheidung, aber wenn du dich nicht wohlfühlst …«

Beryl lächelte ihn an.

»Mach dir keine Gedanken. Ich würde es sagen, wenn ich nur den geringsten Zweifel daran hätte, dass ich in der Lage bin zu fliegen.«

»Verstehe mich nicht falsch.«

»Bernd, wie lange kennen wir beide uns jetzt schon?«

»Eine Ewigkeit, ich kenne sogar dein Erster-Kaffee-am-Morgen-Ritual.«

»Das ist eine ganze Menge. Ich denke, manche Ehepaare wissen weniger voneinander. Und was meinst du, würde ich als Pilotin in ein Flugzeug steigen, wenn ich mich nicht fit fühlen würde?«

»Nein, bestimmt nicht, verzeih«, gab Bernd zur Antwort, ohne einen Moment überlegen zu müssen.

»Es gibt da allerdings noch ein anderes Thema, über das wir sprechen müssen. Die Polizei will mit dir reden, du warst wohl eine der Letzten, die mit Marcel gesprochen haben. Ich habe den Termin auf nach den Flug verschoben. Die werden auf dich warten, wenn du heute Abend wieder da bist. Ist das in deinem Sinne?«

»Völlig, danke. Ein Polizeiinterview und dann fliegen, das wäre nicht so gut gekommen. Noch was?«

Bernd schüttelte den Kopf.

Beryl stand auf: »Dann werde ich mal den Flug nach Teneriffa vorbereiten.«

Bernd sah kurz auf den Flachbildschirm an der Wand, der die aktuellen Ankünfte und Abflüge der Maschinen darstellte. »Ich sehe gerade, unsere Maschine aus Frankfurt ist gelandet. Simon sollte also gleich hier sein.«

Beryl hatte die Türklinke schon in der Hand, dann drehte sie sich noch mal um: »Komische Sache, oder?«

Bernd nickte. »Ich bin noch hier, wenn du wiederkommst, wir können heute Abend sprechen, wenn du magst.«

»Bist du dabei, wenn ich mit der Polizei rede?«

»Klar, wenn du das willst und die nichts dagegen haben.«

»Bis dann.«

»Happy landings, Beryl.«

Der Flug nach Teneriffa verlief ohne Probleme.

Wie immer hatten sie im Cockpit alle Hände voll zu tun, bis sie schließlich die Reiseflughöhe von 34.000 Fuß erreicht hatten. Der Autopilot erledigte einen Großteil der Arbeit, und sie hatten einige ruhige Stunden vor sich.

Beryl lockerte ihren Sitzgurt, drehte sich etwas zur Seite und sah Simon an.

»Komische Sache mit Marcel.«

»Ich habe nur die Gerüchte gehört.«

»Viel mehr weiß ich auch nicht.«

Simon drehte sich ebenfalls um, und beide sahen sich an, allerdings nicht ohne noch einen Blick auf die Instrumente zu haben.

»Ich kannte unseren jungen Kollegen nicht, aber du bist mit ihm geflogen?«

»Ja, ich soll sogar eine der Letzten gewesen sein, mit denen er gesprochen hat.«

»Wie kommt jemand, der so labil ist, durch den Auswahlprozess bei uns? Ich meine, Bewerbungsgespräche, Gruppendiskussionen, Psychologen, das ganze Programm. Ich verstehe nicht, warum da nicht aufgefallen ist, was mit ihm los war?«

»Mir war auch nichts an ihm aufgefallen.«

»Wie war er?«

Beryl dachte kurz nach.

»Wie wir alle waren, am Anfang. Aufgeregt, am Ziel seiner Träume, endlich Pilot, noch etwas unsicher, aber überglücklich. Bei jeder Passagieransage noch mit vollem Eifer dabei. Ich mag das, ein Grund, warum ich letztes Jahr Trainingskapitän geworden bin.« Sie zuckte mit den Achseln. »Er hat sich genau so verhalten, wie alle anderen auch.«

»Vielleicht war es doch etwas zu viel für ihn?«

»Glaube ich nicht, er war gut. Ich habe schon einige erlebt, die es schlechter gemacht haben, mir kam es nicht so vor, als ob ihn das Fliegen überfordern würde. Ganz und gar nicht, im Gegenteil, es hat ihm Spaß gemacht.«

Simon wollte etwas antworten, aber eine Anweisung der Flugsicherung hinderte ihn daran.

»Filomena 1578, speed in the descend Mach .79 maximum, 280 knots on transition.«

»Reduce Mach .79, Filomena 1578«, antwortete Beryl.

Simon drehte sich wieder in seinen Sitz, korrigierte die Geschwindigkeitseinstellung des Autopiloten und kontrollierte dann, ob das Flugzeug auch auf die neue Geschwindigkeit reduzierte.

»Jedenfalls muss ich heute noch ein Gespräch mit der Polizei hinter mich bringen.«

»Darum beneide ich dich nicht.«

Beryl seufzte und setzte sich wieder richtig in ihren Sitz.

Mit einer geringen Verspätung landete Filomena 1578 am Abend wieder in Berlin-Tegel. Bernd Freitag hatte Wort gehalten und erwartete Beryl bereits, als der Crewbus sie an der Station der Airline absetzte.

»Hattest du einen guten Flug?«

»Ja, alles bestens. Wirklich nett, dass du mich zum Polizeiinterview abholst. Um ehrlich zu sein, mir ist ein wenig flau im Magen.«

»Mach dir keine Gedanken, die beiden Kriminalbeamten sind in meinem Büro und warten auf dich. Die sehen ganz verträglich aus, ein älterer Herr und eine junge Dame. Sie haben gesagt, dass sie nichts dagegen haben, wenn ich dabei bin. Willst du immer noch, dass ich mitkomme?«

»Ja, bitte, auf jeden Fall.«

Beryl gab den beiden Polizisten zur Begrüßung die Hand.

»Sie sehen sehr jung aus für eine Pilotin«, begann der Ältere das Gespräch.

»Danke sehr, allerdings fliege ich seit zehn Jahren und habe fast 10.000 Flugstunden auf Verkehrsfliegern vorzuweisen.«

»Frau Bogner ist nicht nur einfache Pilotin, sie ist Trainingskapitän auf der 737. Übrigens einer der jüngsten in der Geschichte unserer Airline«, kam ihr Bernd zu Hilfe.

»So habe ich das nicht gemeint«, der Polizist wurde etwas rot dabei und wechselte schnell das Thema.

»Frau Bogner, ich denke, Herr Freitag hat Ihnen schon berichtet, warum wir hier sind?«

»Marcel Leimbach soll sich umgebracht haben.«

»Ja, so sieht es zurzeit aus, und es könnte sein, dass Sie eine der Letzten waren, die mit Marcel Leimbach gesprochen haben. Können Sie uns etwas über ihn und die letzten Gespräche mit ihm erzählen?«

»Viel werde ich Ihnen nicht sagen können. Ich bin mit ihm geflogen, als sein Trainingskapitän. Wenn man frisch aus der Pilotenausbildung kommt und anfängt, regulär zu fliegen, werden die ersten Flüge zusammen mit einem Trainingskapitän durchgeführt. Wir haben eine besondere Ausbildung dafür.«

»Und die notwendige Erfahrung! Entschuldige, wenn ich mich einmische, Beryl, aber mir erscheint es wichtig, darauf hinzuweisen. Trainingskapitän wird man nicht einfach so. Es gehört eine ganze Menge an fliegerischer Erfahrung dazu und einiges an Personal Skills. Aber das nur nebenbei, ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

»Schon in Ordnung, Bernd, aber ich denke, das interessiert die Polizei nicht so sehr. Ich bin immer noch völlig geschockt von der Nachricht. Mir war an Marcel nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Ganz im Gegenteil, er hat sich sehr gut gemacht. Die ersten Flüge mit einem jungen Piloten sind auch für mich anstrengend, man ist schon ziemlich konzentriert und angespannt. Aber natürlich versucht man, sich das nicht anmerken zu lassen, es würde den anderen nur verunsichern. Mit Marcel war es aber sehr schnell eine entspannte Situation. Er war ein guter und besonnener Pilot. Nach ein paar gemeinsamen Starts und Landungen habe ich ihm völlig vertraut. Mir ist schleierhaft, warum sich Marcel umbringen sollte. Wir haben uns unterhalten, er wollte Pilot werden, seit er ein Kind war. Er hat jahrelang auf diesen Traum hingearbeitet, er war jetzt am Ziel seiner Träume! Gibt es einen unpassenderen Moment, als sich jetzt umzubringen? Für mich macht das absolut keinen Sinn.«

»Um ehrlich zu sein, Frau Bogner, für uns ist das genauso ein Rätsel wie für Sie.«

»Wie hat er es eigentlich getan?«

»So, wie es aussieht, ist er vom Flughafen erst kurz nach Hause und dann direkt in den Wald gefahren. Auf einem verlassenen Parkplatz im Tegeler Forst hat er sich mit einem Kopfschuss umgebracht.«

»Wo hatte er denn eine Waffe her?«

»Auch darauf haben wir keine Antwort. Auf der anderen Seite haben wir bisher aber auch nichts entdeckt, das auf eine Fremdeinwirkung hindeutet.«

»Hat er einen Brief hinterlassen? Gesagt, warum er es getan hat?«

»Nein, und es ist gar nicht so selten, dass Selbstmörder keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Manche wollen mit ihrer Tat anklagen, die äußern sich dann oft noch einmal per Brief. Aber manche wollen einfach nur gehen«, sagte die junge Beamtin.

»Was werden Sie jetzt tun?«

»Nicht viel. Es gibt, wie gesagt, bisher keine Hinweise auf eine Fremdeinwirkung, wir warten allerdings noch den vollständigen Bericht der Autopsie ab. Wenn der keine neuen Hinweise enthält, wovon wir zurzeit ausgehen, ist das Ganze für uns erledigt.«

Er sah Beryls fragendes Gesicht.

»Für uns ist es auch unbefriedigend, aber manchmal bekommen wir nicht heraus, warum sich jemand entschieden hat, diesen Weg zu gehen. Und unser Job ist es auch nur, festzustellen, ob ein Verbrechen vorliegt. In diesem Fall deutet nichts darauf hin.«

Beryl nickte.

Die beiden Polizisten standen auf und verabschiedeten sich.

»Vielen Dank für Ihre Zeit, Frau Bogner. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das uns weiterhelfen könnte, bitte rufen Sie uns einfach an.«

Beryl nickte und gab ihnen die Hand.

Beryl wartete, bis die beiden Beamten das Büro verlassen hatten.

»Was weißt du über Marcel, er hat seine Ausbildung nicht bei uns gemacht, oder?«

»Nein, ich habe den Beamten gerade eine Kopie seiner Personalakte gemacht.« Bernd deutete auf eine Akte, die auf seinem Schreibtisch lag.

»War nicht viel drin, er hat ja auch noch nicht lange bei uns gearbeitet. Marcel hatte sich vor zwei Jahren bei uns für die Pilotenausbildung beworben, wurde aber nicht genommen. Er hat dann privat seine Pilotenausbildung finanziert. Wie du weißt, haben wir vor ein paar Monaten angefangen, zwei Dutzend junge Piloten einzustellen. Wir sind in letzter Zeit schneller gewachsen als erwartet und brauchten auf einmal mehr Piloten, als unser eigenes Ausbildungsprogramm hergibt. Marcel hat sich wieder bei uns beworben, diesmal als bereits ausgebildeter Pilot. Er hat die Einstellungstests alle bestanden und wurde eingestellt. Komischerweise hatte sich Denis Steinkühler für seine Einstellung starkgemacht, das hat dann wohl auch den Ausschlag gegeben. Hat mich schon etwas verwundert, ich meine, Denis ist unser kaufmännischer Geschäftsführer, keine Ahnung, warum der sich neuerdings in das Recruiting unserer Piloten einmischt. Aber Denis hat ja gerne überall seine Finger drin«, er verstummte plötzlich.

»Verdammt, das hätte ich nicht sagen sollen, tut mir leid, Beryl!« Er hatte einen Moment völlig vergessen, dass Beryl und Denis ein Paar sind. Er mochte Beryl, und er konnte Denis nicht ausstehen. Er versuchte stets zu verdrängen, dass beide zusammen waren, das war ihm offensichtlich gut gelungen, zu gut.

»Schon okay, Bernd«, sie drückte kurz seinen Arm.

»Ich habe mich daran gewöhnen müssen, dass einige Denis nicht leiden können. Ich werde mich mal verabschieden, für heute reicht es mir.«

Bernd sah ihr noch eine Weile nach. Beryl war wirklich eine tolle Frau, warum musste ein Arschloch wie Denis Steinkühler so ein Glück haben?

Das mit dem Minirock war wohl wirklich nur ein Gerücht. Es war streng vertraulich, nur vertrauenswürdige und handverlesene Kollegen waren eingeweiht. Die Fußballmannschaft der Filomena Airways hatte eine Belohnung von 500 Euro ausgesetzt, wenn jemand ein Foto von Beryl mit nackten Beinen im Cockpit auftreiben konnte. Natürlich waren das nur dumme Männerfantasien, aber sie machten trotzdem Spaß. Bernd stellte sich noch eine Weile vor, wie Beryl im Minirock aussehen würde. Dann seufzte er und machte sich wieder an die Arbeit.

Notlandung

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