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Nach dem Gespräch mit der Polizei war Beryl ziemlich verstört. Sie fragte sich, warum das Ganze sie so mitnahm. Klar, Marcel war ein netter Kerl gewesen, es war verständlich, dass man betroffen ist, wenn sich ein so junger Mensch umbringt. Aber irgendwie war es mehr, was sie fühlte. Bestimmt lag es daran, dass sie sein Trainingskapitän gewesen war. Wenn es stimmen sollte, dass er überfordert war, ohne dass sie das mitbekommen hatte, dann hatte sie zumindest eine Mitschuld an seinem Selbstmord. Beryl fragte sich zum wiederholten Male, ob sie bei irgendeiner Gelegenheit so etwas wie Überforderung oder auch nur Unsicherheit gespürt hatte. Aber sie konnte sich beim besten Willen an keine derartige Situation erinnern. Marcel schien von Anfang an alles im Griff zu haben. Und man setzte auch nicht jemanden einfach so in das Cockpit eines Passagierflugzeuges.

Marcel hatte eine lange und anspruchsvolle Ausbildung hinter sich, er hatte eine ganze Reihe von Prüfungen bestanden und Lizenzen erworben. Er hatte das Bewerbungsverfahren bei Filomena Airways durchlaufen. Und trotzdem, es war vier Tage her, da hatte er neben ihr im Cockpit gesessen, ein voll besetztes Flugzeug gelandet, und kurz darauf war er in einen nahen Wald gefahren und hatte sich erschossen. Wenn sie mit ihrer Einschätzung und Menschenkenntnis so derart danebenlag, war sie als Trainingskapitän dann nicht ziemlich fehl am Platz?

Sie wusste nachher selbst nicht mehr, wie es geschehen war, sie hatte plötzlich ihr Handy in der Hand und rief die Auskunft an. Marcel hatte ihr erzählt, dass er noch zu Hause bei seiner Mutter wohnt.

»Möchten Sie mit dem Teilnehmer gleich verbunden werden oder soll ich Ihnen die Nummer sagen?«, fragte die Dame von der Auskunft.

»Bitte verbinden Sie mich gleich.«

Kurz darauf meldete sich eine müde Frauenstimme.

»Leimbach.«

Beryl hatte sich bisher nicht überlegt, was sie sagen wollte.

»Ähm, mein Name ist Beryl Bogner, ich bin mit Marcel geflogen und …«, sie stockte, »ich habe erfahren, was mit Marcel passiert ist.«

Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam.

»Mein Sohn hat mir von Ihnen erzählt, er war sehr froh, dass er mit Ihnen fliegen durfte«, dann brach die Stimme ab, und Beryl konnte die Frau weinen hören.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach anrufe, Frau Leimbach. Ich wollte Ihnen nur mein Beileid aussprechen«, und bevor sie darüber nachdenken konnte, war es ihr herausgerutscht, »und Ihnen sagen, dass ich das alles nicht verstehe. Marcel war ein guter Pilot.«

»Ich würde Sie gerne kennenlernen, Frau Bogner. Sie sollen die Letzte gewesen sein, mit der Marcel gesprochen hat.«

Kurz darauf saß Beryl im Auto und fuhr zu Marcels Mutter, sie wohnte in Tegel, keine zehn Minuten vom Flughafen entfernt, in einem Hochhaus direkt am Tegeler See.

Eine Frau mit verweinten Augen öffnete Beryl die Tür. Hinter ihr standen zwei Mädchen, die vielleicht 12 und 15 Jahre alt sein mussten.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach so überfalle.«

»Bitte kommen Sie herein, und Sie überfallen uns nicht. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie gekommen sind.«

Beryl zog ihre Schuhe aus und trat in die Wohnung.

»Das sind meine Töchter, Romy und Anita.«

Beryl gab den beiden Mädchen die Hand. Marcels Mutter führte sie ins Wohnzimmer, von hier oben aus dem 13. Stock hatte man einen klaren Blick über den See. Man konnte die Flugzeuge im Anflug auf die Startbahn 08 L des Flughafens Tegel sehen. Jetzt in der Abenddämmerung waren die Kollisionswarnlichter der Flieger deutlich zu erkennen, und Beryl sah drei Maschinen, die, wie auf einer Schnur aufgereiht, den Flughafen Tegel ansteuerten. Die Flugzeuge flogen genau den Anflug auf die Landebahn 08 L, den Marcel als Letztes durchgeführt hatte.

»So hat Marcel auch immer dagestanden«, sagte Frau Leimbach leise hinter ihr.

»Wir sind hier eingezogen, als ich mich von meinem Mann getrennt habe. Marcel muss damals sechs oder sieben gewesen sein, ich war gerade mit Romy, meiner jüngsten Tochter, schwanger. Und kurz darauf stand dann sein Berufswunsch fest, er wollte Pilot werden. Ich hab es anfangs nicht ernst genommen, alle Jungen in dem Alter wollen Pilot werden.«

»Nicht nur die Jungen«, sagte Beryl und kam sich kurz darauf ziemlich blöd vor.

»Da haben Sie wohl recht.« Sie sah, dass Frau Leimbach zu lächeln versuchte. »Jedenfalls habe ich Marcel damals gesagt, er müsse sehr gute Noten haben, um Pilot zu werden. Daraufhin hat er sich in der Schule richtig reingehängt, innerhalb von ein paar Monaten ist er von einem Dreier-Kandidaten mit Bangen bei jeder Versetzung zu einem Musterschüler geworden, mit einem 1,8er Abi. Und er hat angefangen, alles über die Fliegerei zu lesen und zu lernen.«

Marcels Mutter sah jetzt auch aus dem Fenster.

»Marcel hat mit zehn Jahren angefangen zu arbeiten, er hat vor der Schule Zeitungen ausgetragen, in einer Eisdiele und in einem Supermarkt gejobbt. Und er hat jeden Cent gespart. Mit 17 hat er dann seine ersten Flugstunden genommen, bezahlt von seinem eigenen, selbstverdienten Geld. Ich hätte ihm das auch nie bezahlen können, mein Mann hat uns noch vor der Geburt von Romy verlassen. Ich musste das Geld mehr oder weniger allein heranschaffen. Ab und an hat sein Vater mal Unterhalt gezahlt, verlassen konnte man sich darauf aber nie. Das Geld hat immer nur für das Nötigste gereicht. Marcel hat das mit den Flugstunden ganz allein geschafft, und um ehrlich zu sein, ich habe das nicht mal richtig mitbekommen. Kurz nach seinem 18. Geburtstag hat er dann seine Privat-Piloten-Lizenz erworben. Er hat mich damals in einer Cessna über Berlin geflogen, irgendwo da draußen sind wir rumgeflogen. Und erst in dem Moment wurde mir klar, was Marcel allein auf die Beine gestellt hat. Ich weiß noch, wie ich mich geschämt habe, weil ich das alles nicht wirklich ernst genommen habe. Ich hatte einfach auch nie die Zeit für die Kinder, die ich gerne gehabt hätte.«

Sie deutete aus dem Fenster.

»Als er mich das erste Mal geflogen hat, konnte ich unser Haus sehen, und dann sind wir in Tempelhof gelandet. Er war glücklich und stolz, und ich war beschämt. Wie auch immer. Er hat sich gleich nach dem Abitur bei der Lufthansa beworben und bei Filomena Airways. Und hat zwei Absagen bekommen, ich weiß noch, dass er wochenlang am Boden zerstört war. Für ihn war es so klar gewesen, dass er Pilot werden würde, er konnte einfach nicht verstehen, dass die ihn nicht haben wollten. Er musste einfach fliegen und hat sich dann bei einer privaten Flugschule zur Ausbildung zum Verkehrspiloten angemeldet. Für die Kosten mussten wir einen Kredit aufnehmen. Aber als er dann endlich im Cockpit von einem dieser Flieger saß, da war er so glücklich, und alles war vergessen.«

»Marcel hat sich nicht umgebracht, egal, was die Leute erzählen.« Beryl drehte sich um und sah das Mädchen an. Es musste Anita sein, die Ältere der beiden. Anita hatte Augen, die reifer waren, als man es bei einem Mädchen ihres Alters vermuten würde. Und Beryl fiel jetzt auf, dass das bei Marcel genauso gewesen war. Marcel war in vielen Dingen älter und reifer gewesen. »Kinder werden schnell erwachsen, wenn sie bald Verantwortung übernehmen müssen«, dachte sie.

»Warum sollte er das tun, jetzt wo er am Ziel seiner Träume war?«

»Ich verstehe es auch nicht, Anita. Alles, was ich sagen kann, ist, dass er ein guter Pilot war.«

»Und selbst wenn er ein schlechter gewesen wäre oder ihr ihn gefeuert hättet, er hätte uns nicht allein hier zurückgelassen! Niemals! Er hat es unserem Vater nie verziehen, dass er uns einfach verlassen hat. Er hätte das nicht getan. Wir sind ein Team, wir vier«, Anita stockte, »wir waren ein Team. Marcel wäre unter keinen Umständen einfach abgehauen. Schon unseretwegen nicht!«

Frau Leimbach strich ihrer Tochter über den Kopf.

»Die Kinder sind nicht nur Geschwister, sie sind echte Freunde, und eigentlich sind sich die drei alle sehr ähnlich.«

Beryl seufzte. Das hier machte es alles noch viel schlimmer, sie merkte, dass sie Tränen in den Augen hatte.

Anita und Romy nahmen die Hände ihrer Mutter und hielten sie fest.

»Und mein Bruder hätte uns nicht mit den 100.000 Euro Schulden von seinem Ausbildungskredit hier sitzen lassen.«

»Anita, mach dir keine Gedanken. Es wird irgendwie weitergehen, es ist immer weitergegangen.«

»Mama, ich mache mir keine Sorgen wegen des Scheißgeldes, aber ich weiß, dass Marcel sich nicht umgebracht hat.« Anitas Stimme klang verzweifelt. Beryl wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte, sie zuckte vor Schreck zusammen, als es an der Tür klingelte.

»Das muss meine Schwester sein, sie wollte die Kinder abholen, um mit ihnen ins Kino zu gehen. Damit die beiden auf andere Gedanken kommen. Geht euch anziehen und dann raus mit euch. Ihr kennt eure Tante, sie steht wahrscheinlich wieder im Halteverbot.«

Die beiden Mädchen sahen sich an, es war deutlich zu erkennen, dass sie keine Lust hatten, ihre Mutter allein zu lassen. Aber dann machten sich beide doch fertig und waren erstaunlich schnell aus der Wohnung verschwunden.

»Die beiden sind bezaubernd«, sagte Beryl.

Frau Leimbach hatte immer noch Tränen in den Augen.

»Ja, alle meine Kinder sind ein Geschenk«, sie rieb sich die Augen.

»Bitte verzeihen Sie, ich habe Ihnen gar nichts angeboten. Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe gerade welchen gekocht. Und dann erzählen Sie mir etwas von Marcel. Bitte!«

Beryl hielt sich am Kaffeebecher fest.

»Ich befürchte, ich kann Ihnen nicht viel erzählen. Ich kannte Marcel nicht mal eine Woche. Er war, wie schon gesagt, ein guter Pilot. Obwohl er gerade erst angefangen hatte, hat er das Flugzeug souverän geflogen, keine Fehler, keine Unsicherheiten. Er war einer der besten jungen Offiziere, die ich erlebt habe. Es war lustig, es war angenehm, mit ihm zu arbeiten, wir haben viel zusammen gelacht. Frau Leimbach, ich habe keine Erklärung, warum er sich …«, sie brach den Satz ab.

»Ich auch nicht, ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas erzählen können, was es verständlich macht. Wissen Sie, eine Mutter muss wenigstens verstehen warum.«

»Aber ich bin genauso ratlos wie Sie. Ich bin wohl deshalb heute bei Ihnen eingedrungen, weil ich gehofft habe, dass Sie es mir erklären können«, sagte Beryl und entschloss sich, ehrlich mit Frau Leimbach zu sein. »Ich mache mir Vorwürfe, Frau Leimbach. Mir hätte etwas auffallen müssen. Aber so sehr ich mir auch das Hirn zermartere, es gab nichts, wirklich nichts, was darauf hingedeutet hätte, was er vorhatte. Keine Anzeichen, keinen Hinweis. Nichts.«

Frau Leimbach zuckte mit den Schultern.

»Bitte machen Sie sich keine Vorwürfe, ich bin seine Mutter, und mir ist auch nichts aufgefallen. Ich weiß, ich habe viel im Leben meiner Kinder nicht mitbekommen. Aber auch wenn ich nicht immer alles wusste, ich habe immer, wirklich immer gewusst, wie es meinen Kindern geht. Marcel ging es nicht schlecht, und er hatte auch keine persönlichen Probleme. Im Gegenteil, er war glücklich. Klar, wir haben einige Probleme, die hatten wir immer. Als alleinerziehende Mutter mit drei Kindern ist es nicht leicht. Die ersten Jahre waren schwer. Aber aus dem Gröbsten sind wir raus, und Marcel hatte es geschafft. Von seinem ersten Gehalt hat er mir letzte Woche ein schweineteures Parfüm gekauft, und mit seinen Schwestern war er Klamotten kaufen, in einem der Läden, die wir uns bisher nie leisten konnten. Die drei haben sich an der Kasse in die Haare bekommen, die Mädchen wollten nicht, dass er so viel Geld für sie ausgibt. Aber Marcel hat lachend darauf bestanden.«

Frau Leimbach schlug die Hände vors Gesicht und weinte hemmungslos.

Beryl nahm sie einfach in die Arme.

»Es tut mir so leid. Es tut mir wirklich so leid.«

Nach einer Zeit hatte sie sich etwas beruhigt und war aufgestanden.

»Danke, dass Sie vorbeigekommen sind. Sie haben Mut, hierherzukommen, zu einer heulenden Mutter.«

Beryl wollte etwas sagen, aber Frau Leimbach hob abwehrend die Hand.

»Würden Sie mir einen Gefallen tun?«

Beryl nickte.

Frau Leimbach verließ den Raum und kam mit einem Pilotenkoffer zurück.

»Den Pilotenkoffer hier haben die Mädchen und ich ihm zur bestandenen ATPL-Prüfung geschenkt. Er hatte ihn dabei, als er das letzte Mal geflogen ist. Er muss an dem Abend noch mal hier gewesen sein, die Mädchen waren bei Freunden, und ich war unterwegs. Als ich nach Hause kam, hab ich nur gesehen, dass der Koffer im Flur stand. Ich habe mich gewundert, dass Marcel nicht da war. Und am nächsten Morgen klingelte dann die Polizei an der Tür. Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich an dem Abend nicht da gewesen bin. Vielleicht hätte ich es verhindern können?«

Frau Leimbach holte tief Luft.

»Aber was rede ich für dummes Zeug, es war kein Selbstmord. Wussten Sie, dass das Auto ein Leihwagen war? Auch so eine komische Geschichte. Er hatte mir gesagt, dass er sich am Abend am Flughafen einen Leihwagen nehmen wollte. Er wollte am nächsten Morgen gleich früh zu meiner Mutter fahren. Er hatte sich bei seiner Oma zum Brunch angemeldet. Aber was ich eigentlich erzählen wollte, ich weiß nicht, was ich damit machen soll, ich kann den Koffer einfach nicht sehen. Irgendwie denke ich, dass die Fliegerei an allem schuld ist, und andererseits wiederum hat ihm die Fliegerei so viel bedeutet. Würden Sie den Koffer nehmen, bitte? Sie werden ihn bestimmt mal benutzen können.«

»Frau Leimbach, das geht nicht.«

»Bitte, Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun!«

Beryl nahm den Koffer und saß kurz darauf in ihrem Wagen.

»Es war eine idiotische Idee, herzukommen«, sagte Beryl laut und schlug auf das Lenkrad. Wenn sie sich vor dem Besuch schon unwohl gefühlt hatte, dann fühlte sie sich jetzt richtig schlecht. Statt einer Erklärung auf ihre Fragen hatte sie eine wundervolle Familie gefunden, die einen geliebten Menschen verloren hatte. Sie war sich sicher, egal wie er sich gefühlt hätte, Marcel hätte niemals seine Familie verlassen. Nicht freiwillig. Noch ratloser als zuvor, fuhr Beryl nach Hause.

Notlandung

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