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1 Für eine Literaturzeitschrift an die Erdgastrasse

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Ende Januar 1983

Im „Knoblauchzug“ von Moskau Richtung Lipezk sitze ich auf meiner Liege, ziehe ich mich aus, krauche unter Laken und Decke und versuche zu schlafen. Zigarettenqualm, Bierdunst, Rekordermusik, Gesprächsfetzen über den Flug, über Einkäufe in Lipezk umnebeln mich: „Wer sich hier nicht mit Gläsern eindeckt“, höre ich, „ist selbst schuld.“ Blitzlichter. Jemand fotografiert seine Kollegen. Schienenstöße und Bodenwellen halten mich in Unruhe. Der Waggon scheint in Vorfreude auf meine künftigen Abenteuer zu hüpfen. Und im Dämmerschlaf versuche ich mir zu erklären, wie ich da aus meinem Berliner Alltag hineingeraten bin.


Es begann damit, dass ich zu der Eisengießerei, in der ich in den Fünfzigerjahren vier Jahre gelernt und als Former gearbeitet, meine Erinnerungen aufgeschrieben hatte. Die Gießerei existierte nicht mehr. Und ich konnte es einfach nicht dabei belassen, dass diese Stätte großer menschlicher Anstrengungen die nach dem zweiten Weltkrieg zahlreichen Familienvätern und jungen Leuten Arbeit gegeben hatte, so sang- und klanglos verschwunden war. Sie hatte wegen geringer Nachfrage an Herdplatten und Doppelkolbenpumpen aus Grauguss einem Betrieb weichen müssen, der Aluminiumblech zu Fleischkisten verarbeitete.

Ich schickte den Text einer Literaturzeitschrift, und diese wollte ihn veröffentlichen. Da mir die Arbeit in der Gießerei nahezu heldenhaft erschien, erstaunte mich das wenig. Nur war ich mir beim Schreiben über das Genre des Textes nicht im Klaren. Da ich einfach erzählte, wie ich die Gießerei erlebt hatte, ist daraus, wie ich annehme, eine skizzenhafte Erzählung entstanden. Obwohl mir die körperlich höchst anstrengende Arbeit wenig ausmachte, und ich für die damalige Zeit ungewöhnlich viel Geld dabei verdiente, gab ich sie kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag auf. Sie ließ mir einfach zu wenig Kraft für meine Neugier auf die Welt.

Wenige Wochen nach Erscheinen der Skizze, meldete sich der verantwortliche Redakteur bei mir und fragte: „Wie wär‘s, Herr L., fahren Sie für uns sechs Monate nach Sibirien an die BAM (Abk. für Baikal-Amur-Magistrale), um für uns über die Arbeit dort zu schreiben.“ Ich war völlig aus dem Häuschen: ein unglaubliches und unerwartetes Abenteuer wartete auf mich - Das Tor zum Osten, weit weg von der Mauer, sollte mir offen stehen. Und zudem durfte ich ganz offiziell schreiben. Aufgeregt wie ein Schuljunge, sagte ich zu und bereitete mich neben meiner Arbeit als Erzieher in einem Wohnheim für sozial gefährdete Jugendliche auf Sibirien vor, als ginge es auf eine Expedition. Ich besorgte mir Literatur, vor allem zur Geografie, vertiefte mich in Nordasien - vom Eismeer bis zur Kasachischen Schwelle, in die westsibirische Tiefebene, ins extrem kontinentale Klima, in die Vegetationszonen breitenparalleler Richtung, in die Flechten, Moose und Zwergsträucher der Tundra, in die Rentierzucht, in den Übergang der Taiga in die Waldsteppe, fuhr mit der Transsibirischen Eisenbahn schon mal gedanklich von Tscheljabinsk nach Wladiwostok, las auch über Geschichte, Literatur, Ethnologie Sibiriens, begann mich ordentlich in das Thema einzuarbeiten und über die nötige Ausrüstung nachzudenken. Was benötigte ich in der Kälte, was bei Tauwetter? Meine Erwartungen pumpten sich auf wie ein Ballon. Im November 1982, ich befasste mich eben mit den natürlichen Großräumen Sibiriens und steckte am südlichen Randgebirge vom Altai bis nach Transbaikalien, da erreichte mich ein Anruf des Redakteurs: „Herr L., im Januar geht’s los! Fünf Wochen an eine Baustelle der Erdgastrasse im Raum Lipezk. Was sagen Sie? Ist das nicht großartig?“ Ich schwieg überrumpelt. Lipezk, hatte ich gelesen, liegt vor dem Ural im europäischen Teil Russlands. „Herr L., Sie sagen ja gar nichts. Ist alles in Ordnung?“ „Das Fieber“, sagte ich. „Wie bitte?“ „Schon, gut. Ich war eben im Fernen Osten und muss nur noch das sibirische Fieber loswerden.“ Er legte auf und erkundigte sich tags darauf nach meinem Wohlbefinden. Ich hatte unterdessen meine Erwartungen abgespeckt und reduzierte meine Vorbereitungen auf mitteleuropäische Gewohnheiten. Das Expeditionsfieber aber ließ sich nicht gänzlich abschütteln. Nun, es blieb ihm auch ohne Sibirien noch reichlich Futter. Denn noch fehlte das Wichtigste: eine Freistellung von meiner Arbeitsstelle, ein Pass und die behördliche Erlaubnis, fliegen zu dürfen.


Am Montag, den 17. Januar 1983

Nach dem Anruf am Donnerstag, an dem ich erfuhr, es gehe nicht fünf Monate nach Sibirien, sondern fünf Wochen nach Lipezk, fahre ich in die Redaktion von „Temperamente“. Dort erhalte ich von Manfred H. den schriftlichen Auftrag, von der Arbeit an der Erdgastrasse zu schreiben. Jetzt erst halte ich eines der wichtigen Papierchen für eine Freistellung in den Händen. Noch in der Redaktion rufen wir den FDJ-Zentralrat an und vereinbaren einen Termin für den anderen Tag. Aus der Redaktion fahre ich sogleich zum Stadtbezirksschulrat ins Rathaus Köpenick. Der sagt, er wäre sehr angetan von meinem Vorhaben, könne aber vorerst nichts tun, ich müsse mit dem Vorschlag vom Zentralrat zuerst zum Magistrat zur Bezirksschulrätin Hertha O. ins Rote Rathaus und dann zu ihm.


Am Dienstag, den 18. Januar frage ich telefonisch im Zentralrat nach, wann ich die Freistellung abholen könne. Antwort: „Sofort!“

Ich hole meinen neuen Sozialversicherungsausweis, von der VP meinen neuen Personalausweis und fahre zum Zentralrat. Dort werde ich zuerst in die Abteilung „Erdgastrasse“ geschickt, dann zur Abteilung „Kultur“ und erhalte die schriftliche Bitte an die Abteilung Volksbildung um „Freistellung“. „Und - falls die Bezirksschulrätin nicht zustimmt?“, frage ich. „Ja, - dann, dann …, aber sie wird schon.“ -

Ich fahre zum Magistrat. Die Sekretärin der Schulrätin staunt das Schreiben an, weiß nichts anzufangen damit, ruft den Kaderchef an. Der kommt aus dem Nebenzimmer, klein, untersetzt mit unbewegter Mimik, blickt auf den Schein der FDJ, runzelt die Stirn. In Stichworten erzähle ich ihm, wie dies alles zusammenhängt: Mein Beruf als Lehrer, dann Erzieher und mein Schreiben. Er grübelt, bemüht sich, diese nicht alltägliche Verstrickung zu verarbeiten, sagt dann: „Ich brauche eine Freistellung oder eine Stellungnahme ihres Leiters.“

„Die Zeit reicht dazu nicht aus“, sage ich, „übermorgen geht der Flug. Das Datum auf dem Schreiben ist bereits hinfällig. - Der Koordinator im Ministerium für Kultur hat für mich statt für den 26. Januar, einen Platz für den 20. Januar erhalten, für den Flug IF 606.“

„Nein, das geht nicht. Für fünf Wochen aus dem pädogogischen Prozess ...“

„Ja“, sage ich, „das wird schon gehen. Ich stecke nicht so fest drin im pädagogischen Prozess, arbeite teilbeschäftigt im Wohnheim.“

„Wieso?“

„Als Lehrerreserve - mit sechzehn Wochenstunden.“

„Also, nicht hauptberuflich?!“

„Gewissermaßen – doch.“

„Na, in Köpenick ist ja was los.“ Ich könnte ihm lang und breit erzählen, wie ich mir diese Berechtigung erstritten habe, aber ehe er das begreifen wird...

Ein offenbar Bekannter von ihm in Uniform schaut herein, ein dicker Major. Er grüßt. „Augenblick, Helmut!“ Er ist jetzt ein wenig in Eile, greift zum Telefon, um die Bezirksschulrätin anzurufen. Die aber meldet sich nicht. Er sitzt nachdenklich. Der Major wartet an der Tür. Ich schweige. Drei, vier, fünf Minuten Schweigen. Bangen. Ich höre ihn förmlich grübeln, ob er es wagen darf, ohne seine Vorgesetzte gegen den Vorschlag des Zentralrates zu entscheiden. Soll ich ihm vorschlagen, selbst beim Zentralrat nachzufragen, oder mit der Kündigung drohen? Er gibt sich plötzlich einen Ruck, blickt kurz zum Major, der den Mund verzieht, greift zum Kugelschreiber und schreibt: „Genehmigt.“

Erleichtert fahre ich mit den beiden wichtigen Unterschriften zum Stadtbezirksschulrat nach Köpenick. Der betrachtet die Schreiben, sagt: „Alles klar. Gratuliere. Wir können ja tauschen“, und unterschreibt seinerseits. „Und - wenn Sie zurück sind, vereinbaren wir eine Lesung über ihr Trassenabenteuer hier im Rathaussaal. - Ihr Gehalt läuft unverändert weiter.“

Für diesen Tag bin ich gereizt, müde und zum Zerreißen aufgeregt, hatte nebenher eine Schapka gekauft und feste Stiefel. Bis übermorgen muss ich meine Sachen zusammen haben. Am Abend beginne ich zu packen. Die Familie ist verblüfft: „Schon übermorgen?“

Am anderen Morgen fahre ich ins Jugendwohnheim und lege der Leiterin die Freistellung vor. Sie ist mürrisch, muss den Dienstplan ändern, fühlt sich zu Recht übergangen. Wir trinken Kaffee, essen Kuchen, dann verabschiede ich mich.


Am Abend packe ich Koffer und Rucksack und spreche mit meinen Kindern über Berufsberatung und Berufswahl, da sie in den Winterferien Köpenicker Betriebe besuchen werden. Später ruft noch ein Jugendfreund vom Zentralrat an: am nächsten Morgen soll ich mich um acht Uhr mit meinem Gepäck bei ihm, Unter den Linden, einfinden, ich werde von dort zur Passstelle und anschließend zum Flughafen gefahren.


Am Donnerstag, den 20. Januar 1983, bin ich um acht Uhr mit Koffer und Rucksack bei „Harke“ im Zentralrat der Freien Deutschen Jugend. Er hatte sich mir vorgestellt: „Ich bin Harke von der FDJ“. Mit ihm und der jungen Frau von der Passstelle werde ich in einem „Wolga“ zum Polizeipräsidium gefahren, wo ich meinen Pass erhalte. Ich kann es noch immer nicht glauben: Zum ersten Mal besitze ich einen Pass, den ich jedoch nach der Reise zurückgeben muss. Unterwegs rede ich mit „Harke“ über mitzunehmende Materialien und stelle fest, dass ich meinen Personalausweis noch bei mir trage. Also fahren wir auf dem Weg zum Flughafen bei mir zu Hause vorbei.

Der Flug, IF 606, ist für halb eins vorgesehen. Ich soll mich neunzig Minuten vorher einfinden. Mein Ticket sei an der Hauptkasse hinterlegt unter dem Stichwort: „PKM Leipzig, Flug nach Moskau“. In Moskau würde der Kollege H. vom Flughafen, mir die Fahrkarte für die Fahrt um zwanzig Uhr nach Lipezk übergeben. Und nach meiner Ankunft dort soll ich mich beim Leiter Kultur Hartmut. S. anmelden.

Auf dem Weg nach Schönefeld erzählt „Harke“ von Dreharbeiten zur Erdgastrasse mit Studenten und Fritz-Martin B. von der Hochschule für Film und Dramaturgie.

Auf dem Flughafen Schönefeld werde ich durch einen Mitarbeiter der Trassenbaustelle darüber informiert, ich sei von der Flugliste zu streichen. Ich rufe sehr aufgebracht die Leitung in Leipzig an - ein Drei-Mark-Gespräch. Dort sagt man, das sei ein Irrtum, ich sei lediglich von Jefremow nach Lipezk umgebucht worden. Also, schleppe ich in aller Eile das Gepäck zur Abgabe und eile anschließend mit meinem Handgepäck zur Kontrolle. Um elf Uhr stehe ich mit Arbeitern, die zur Trasse fliegen am Durchlass. Mit einigen treffe ich in Moskau im Restaurant und im „Knoblauchzug“ wieder zusammen. Wir stellen unsere Gepäckstücke auf das Fließband, erhalten unsere Bordkarte, stehen dann im schmalen Gang bei der Grenzkontrolle. Die Abfertigung durch den Zoll zieht sich in die Länge. Wir stehen in Schlange. Dem Grenzbeamten schiebe ich den Pass unter der Scheibe zu. Er checkt mich schon mal optisch durch, stempelt meinen Pass, und reicht ihn mir nach Ausfertigung eines kleinen Formulars zurück. Und jetzt erst beginnt das Warten. Die Arbeiter spötteln: „Rückt doch die Waffen raus! Lasst sie nicht so lange suchen.“ oder: „Einzelabfertigung - aus Höflichkeit.“

Dann stelle ich mich mit meinem Handgepäck in eine Schleuse neben der Tür. Nach aufforderndem Summton schreite ich hindurch und plötzlich schrillt eine Klingel. Ich zucke zusammen, gehe reumütig, ertappt auf den Blaugrauen mit dem strengen Blick zu, der etwas dicklich, x-beinig mich mit unbewegter Mimik mustert, mit einem Blick, der nicht mehr sucht, sondern sogleich erkennt an meinen linkischen Gebärden, hölzernen Bewegungen, den bemüht selbstsicheren Schritten, an meinem unsteten Blick. Sein schlaffer lascher Blick, tastet mich gelangweilt ab, bevor seine Hände es tun, mir unter den Mantel gleiten, die Haut entlang in die unmöglichsten vermeintlichen Verstecke. Und ich stehe da, bang, der Sobald-aber-noch-nicht-Passagier, der Noch-Verdächtige. Ich nehme meine Tasche aus der Schleuse, stelle mich auf die am Boden vorgemalten Füße vor dem riesigen orangenen Durchleuchtungsgerät. Auf der anderen Seite der Zöllner. Nun ist meine Tasche an der Reihe. Ich stelle sie in das Gerät. Der Zöllner betrachtet den Bildschirm, sieht mich unbewegt an und fragt: „Haben Sie ein Messer in der Tasche?“ „Richtig“, sage ich, „ein Taschenmesser.“ „Das gehört nicht ins Handgepäck.“ „Ach, was!“ „Keine spitzen Gegenstände.“ Ich gebe ihm das Messer. Er steckt es in eine Tüte, auf die ich meine Adresse zu schreiben habe. „In Moskau holen Sie es sich von der Stewardess. Nun kommen Sie bitte zur Personenkontrolle.“ In einer kahlen grauen Kammer muss ich meinen Ledermantel in die Ecke hängen, mich in die andere stellen. Dann sind sie da die schlaffen Blicke mit ihren Händen. „Vorsicht!“, sage ich, als er sich meinen Rippen nähert, „ich bin kitzlig.“ Er weicht einen halben Schritt zurück. „Wollen Sie mir drohen? - Noch dürfen Sie umkehren.“ „Nein, nein, eher lache ich mich hier kaputt.“ Und er tastet an meinem Körper entlang, unangenehm, schmierig, findet geheime Körperzonen, die ich selbst noch nicht kannte. „Wissen Sie, wo Sie da hin greifen?“, frage ich. „Ich sage es Ihnen: Voll in die menschliche Würde.“ Er guckt etwas genervt, entlässt mich aber schließlich mit guten Wünschen für den Flug.

Um halb zwölf Uhr sitze ich mit den anderen Durchleuchteten und Betasteten auf ledernen Sesseln im Flughafenrestaurant. Stewardessen in ihren knappgeschnittenen dunkelblauen Kostümen, geleiten eben Passagiere von der Landebahn in den Kontrollvorraum, oder geleiten sie nach der Durchsage auf Deutsch, Russisch und Englisch zu den Türen aus stoßsicherem Glas, die sie nach sich aufmerksam verschließen.

Eine Gruppe aus der SU, Schapkas auf dem Kopf, trifft ein, ziehen ihre Mäntel und Pelzjacken aus, setzen sich. Eine brünette schlanke Mutti trägt ihre Schönheit durch den Raum, zieht ihren kleinen Sohn an der Hand mit sich und verteilt Glutblicke über die Köpfe der mutmaßlichen Bewunderer durch die Scheiben hinaus aufs Rollfeld, als interessierte sie nichts dringender als ihr Sohn und der graue Beton mit den Metallvögeln. Ein klarer kalter Wintertag. Sonne. Dazu die monotone geschult leidenschaftslose Stimme der Ansagerin. Ein junger Vietnamese mit Schirmmütze setzt sich neben mich, spricht mich auf Russisch an: er fliege nach Sofia, Bulgaria. „Aha. Ich fliege nach Moskau.“ Damit sind meine noch in der Schule recht üppigen Russischkenntnisse erschöpft. Er redet noch eine Zeit lang auf mich ein - langsam und deutlich, aber das hilft meiner Zunge auch nicht. Wir zucken uns gegenseitig mit den Schultern zu, lächeln und schweigen dann.

Zahlreiche junge Leute nehmen Platz in der Sesselreihe, gelassen wie auf dem Weg zur Arbeit auf dem Bahnsteig oder an der Bushaltestelle. Später treffe ich sie wieder, erst in Moskau, dann auf der Trassenbaustelle.

Um zwölf Uhr dreißig die Durchsage: „Die Passagiere des Fluges IF 606 werden gebeten, sich zum Ausgang Nummer fünf zu begeben.“

Eine Stewardess lässt uns hinunter auf das Rollfeld. Dort wartet DAS Erlebnis der letzten Jahre auf mich: mein erster Flug. Und die Mauer rückt aus meinem Bewusstsein. Ich dränge nach vorn, laufe, überhole, stehe unter den Ersten an der Gangway, möchte am Fenster sitzen. Die Gangway hoch. Hinein. Erste Enttäuschung: es ist hier enger als im Bus. Links und rechts in Zweierreihen angeordnete Sitze. „VOR den Tragflächen“, sagt jemand, „da wackelt es am wenigsten.“ Mein Sitzplatz liegt ÜBER den Tragflächen. Neben mir das doppelscheibige Bullauge. Fleckenbesprenkelt. Ich putze es. Stimmengewirr der Arbeiter, einer Familie. Ein Ehepaar in den Vierzigern mit zwei kleinen Jungen. Die Frau tut immer wieder so, als sei das Flugzeug ihr tägliches und einziges Verkehrsmittel: „Sieh, mal, Mutti, der Tankwagen!“ „Ja, ja, - der kommt immer, bevor ein Flugzeug abfliegt.“

Neben mich setzt sich ein großer schlanker Mann mit randloser Brille in schwarzem Mantel und buntem Schal, auf dem kahlen Schädel zarte weißblonde Stoppeln.

Dreizehn Uhr. Aufjagen der Motoren. Ruhe. Wir rollen, werden rückwärts aufs Rollfeld geschoben. Wieder Ruhe. Lauteres Aufjagen der Motoren, und wir rasen dahin. Ein mir unbekanntes Gefühl der Leichtigkeit, der Schwerelosigkeit. „Pass auf!“, sagt die Mutti, „gleich hebt sie ab.“ Der Boden versackt plötzlich unter uns. Wir steigen in beinahe vierzig Grad Schräge. Ehe sich meine Augen an die Veränderung gewöhnen, liegen Häuser, Bäume, Menschen geschrumpft, wie vor mir auf einen Tisch hingezaubert. Wälder schrumpfen zu Sämlingspflanzungen, Flüsse zu blanken Bändern und Fäden, Dörfer zu Flecken mit rötlichen Punkten, Seen zu Teichen, Ackerflächen zu Kleingärten. Diese Draufsicht eine mir unbekannte Landkarte. Selbst mein Denken folgt dem Tempo nur schwerfällig, ist S-Bahngeschwindigkeit gewohnt. Es sucht unter den Bausteinflecken Köpenick, unter den zahlreichen Pfützen und Rinnsalen Müggelsee und Spree. Währenddessen überfliegen wir bereits Frankfurt an der Oder.

„Mama, sieh mal, die Häuser sind nicht mehr zu sehen, und darüber die Wolken.“ „Ach, Junge, da gucke ich schon gar nicht mehr hin.“ Sie dreht dem Fenster den Rücken zu und sieht gelangweilt auf den Fußboden. Ihr bulliger Mann sitzt hinter ihr, hatte ihrer beider Pelzmäntel nach auffällig lärmender Platzsuche ins Gepäcknetz geschoben. „Wie schwer war das Gepäck?“, fragt er. „siebzig Kilogramm?“ „Fünfundsiebzig Kilogramm“, sagt sie mit gelangweiltem Blick aus hellblauen Augenschatten und streicht über ihr dünnes aufgemotztes Haar. „Fünfundsiebzig?! - Dafür war der Preis aber günstig.“ Halb vorwurfsvoll wendet sich ihr blasses schläfriges Gesicht an ihn: „Wir fliegen doch immer so günstig.“

Hin und wieder bebt die Maschine, wenn die Tragflächen zittern. Wir fliegen eine Kurve, und ich fühle mich wie in einem Riesenkarussell. Der Flugkapitän sagt die Flugdaten durch: „Flughöhe zehntausendundfünfzig Meter, Geschwindigkeit achthundertvierzig km/h, Außentemperatur Minus sechsundfünfzig Grad Celsius. Voraussichtliche Ankunftszeit in Moskau – Siebzehn Uhr fünfzehn Ortszeit.“ Eine Liste mit diesen Angaben wird von Sitzreihe zu Sitzreihe gereicht.

Die Wolken scheinen auf dem Erdboden aufzuliegen wie aufgezupfte Watteberge in gleichmäßigen Haufenreihen. Häuser sind kaum mehr zu erkennen. Nur das Dunkel der Wälder im zunehmenden Weiß. Je weiter wir nach Osten kommen, desto weniger sieht man von der Landschaft, desto weißer: auf dem Boden Schnee und darüber mehr und mehr Wolken bis an den Horizont.

In mittlerer Höhe, bevor sie zu einem Feld grafischer Linien entrückt, wirkt die Landschaft, als sähe ich sie aus einem Traum heraus, aus der unendlichen Ferne des Nichtmehrsehens, des eigentlich Fortseins. Ich greife zu meinem Notizheft, um mir all die Linien und Formen der mir bekannten Naturdetails aufzuzeichnen. Später möchte ich diese neuen Zeichen studieren und bestaunen. Doch nur eines habe ich mir rasch notiert, teils aus Scheu vor meinem Nachbarn, teils, weil ich mit den Blicken nicht fortkam vom Fenster. Alle bekannten Details sind entrückt, das Oben ist zum großen Teil unten: die Wolken; nur das Blau über uns grüßt als alter Bekannter.

An meiner Neugier erkennt mein Nachbar den „Erstflieger“, und wir kommen ins Gespräch. Er sei Vertreter einer belgischen Bank in Moskau, fliege monatlich einmal diese Route von Brüssel nach Berlin, von dort nach Moskau. Unterhalte dort ein Büro mit sowjetischen Sekretärinnen, vertrete die Bank bei Geschäften in der SU. Zu sowjetischen Bürgern jedoch habe er keinen Kontakt, da dies westlichen Ausländern untersagt sei. Anfangs hätte er darunter gelitten, nur dienstlich zu sein, ohne private Kontakte, hätte sich aber daran gewöhnt. Die Akkreditierung sei schließlich wichtig. Dieses Mal bleibe er bis Ostern in Moskau. Er beherrsche Französisch, Englisch, Deutsch und ein wenig Russisch. Es freute ihn, dass es schneit, da könne er Skilanglaufen in Moskau, in einem von den Behörden festgelegten Waldstück von achtzehn Kilometer Länge. In die Umgebung dürfe er nur mit einem Sondervisum, gebuchten Hotelplätzen, auf vorgeschriebenen Straßen, über vorgeschriebene Ausfallstraßen aus Moskau hinaus. Wir kommen auf die Mauer zu sprechen, und er meint, die persönliche Freizügigkeit sei wichtig, um sich mit Menschen anderer Länder treffen. Da lerne man den anderen verstehen, seine Probleme, die Probleme des Landes, Vorurteile und Misstrauen verschwänden. Wir trennten uns als gute Bekannte.

Als neues Detail: die weite Fläche der Landschaft, das Brausen der Turbinen, das Gefühl, in dieser Höhe hilflos ausgeliefert zu sein, die plötzlich körperlich spürbaren Gedanken an Absturzbilder, an wirbelnde Trümmer, an suchende Rettungsmannschaften. Ein mir bisher wenig bekanntes Gefühl der Angst.

Wir überfliegen zweimal die polnische Grenze, überfliegen Vilnjus. Es dämmert. Die Dunkelheit bricht unerwartet früh und rasch herein. Riesige Dampfschwaden scheinen die Erde einzuhüllen. Der Horizont dämmriges Blaugrau. Und jetzt fällt mir auf, man spürt das Tempo kaum, weder an der Bewegung des Flugzeugs, noch am Vorübergleiten des Erdbodens, lediglich an der Zeit, die wir unterwegs sind und der sich verändernden Landschaft. Wir scheinen zu schweben. Der Kommandant gibt bekannt, es schneie in Moskau bei Minus sechs Grad Celsius. Meine Ohren scheinen mir plötzlich wie verklebt. Wir verlieren an Höhe. Ich höre meinen Nachbarn kaum noch, der mir eben erklärt, die Wälder unter uns gehörten einst zum Grundbesitz des Grafen Scheremetjewo. Auf dessen ehemaligen Grundbesitz der neue Flughafen gebaut wurde. Lichter im Dunkel. Straßen tauchen auf als Lichterketten, sich bewegende Lichter werden erkennbare Autos. Jetzt blaue und rote Lichterketten: der Flughafen Moskau-Scheremetjewo. Nach zweieinviertel Stunden Flugzeit landen wir um siebzehn Uhr fünfzehn. Der Pilot setzt die Maschine so weich auf, dass ich unsere Landung erst spüre, als die Fluggäste applaudieren. Man sei schon des Öfteren mit ihm geflogen, höre ich von einigen Trassenleuten. Er lande immer so weich. Wir rollen aus, rollen langsam weiter. Unruhig laut dreht sich die Mutti zu ihrem Mann um und fragt: „Wo rollen wir hin? Etwa Scheremetjewo eins?! Das vorige Mal landeten wir in zwo. - Das wär’ ja ‘n Ding. So weit zum Bahnhof von dort. - Tatsächlich! Er rollt nach eins.“

Wir fahren noch einige Minuten und halten vor der neuen Flughafenhalle, die zu den Olympischen Spielen 1980 fertiggestellt worden war.

An der Grenzkontrolle mustern zwei junge Grenzer mein Passfoto und dann mich. Der eine fragt, ob ich das bin. Ich lache. „Ja, vor zehn Tagen.“ Er bleibt ernst. „Wovon Sie fliegen?“ „Von Berlin.“ „Wann sind Sie geboren?“ „Neunzehnhunderteinundvierzig.“ Ich habe kein gutes Gewissen beim Sprechen dieser Jahreszahl. Welche Erinnerungen wird sie bei dem jungen Mann auslösen?“ Ein kleiner Junge warst du am Ende des Krieges. Dennoch, das Schuldgefühl wird bleiben, dass du den Namen Fritz trägst und dazu diese Jahreszahl. Die deutschen Soldaten im Osten, die „Fritzen“, die Jahreszahl, die deutsche Stadt, aus der du kommst. Das Wort „Deutsch“ hängt dir an wie ein Kainsmal.

Ich hatte von einem Vorfall gelesen: ein junger Mann aus Deutschland mit einer Gruppe eingereist in Russland, wird am Ausgang des Flughafens von einem alten Mann beschimpft und ins Gesicht geschlagen. Der Alte hatte in dem Jungen einen Mann erkannt, der im Krieg an Verbrechen beteiligt war. Und es stellte sich heraus, es war der Vater des Jungen. Die Schuld wird bleiben über Generationen.

Wir nehmen unser Gepäck vom Band und gehen durch den Zoll.

Dann sitzen wir noch etwa zwei Stunden im Flughafenrestaurant, essen etwas und erzählen. Einige alte Hasen unter den Trassenleuten erzählen Erlebnisse von im Schlamm steckengebliebenen Arbeitern und Fahrzeugen, vom Ort Perwomaijskij, Perwo genannt. Von dessen primitiv einfachen Holzhäuschen, von der protzigen Kirche, von Begräbnissen mit Klagewimmern der Frauen auf dem Friedhof nach der Beisetzung. Von der „Steherdisko“, bei der es keine Stühle gebe, und Alkohol und Zigaretten verboten seien. „Drei Tänze, dann kannst du gehen. Dann wird die Disko beendet.“ Ich höre von selbstgebranntem Schnaps, den sie „Samo“ nennen. „Du musst, bevor du den trinkst, einen Schluck auf den Teller gießen, anzünden und eine Glasscheibe drüber halten. Bleibt darauf ein schmieriger Rest zurück, weg kippen, sonst erblindest du oder krepierst frühzeitig.“ - Wir fahren dann mit einem Bus durch Moskau zum Zug. Auf dem Bahnhof sagt mir der Begleiter, ich müsse mit den Leuten nach Perwomaiskij fahren, da für mich keine Fahrkarte nach Lipezk hinterlegt worden ist.

In der Herberge zum Steppenwolf

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