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4 Im Wohnlager Lipezk
ОглавлениеAuf der Suche nach einem Bett, stapfe ich von Wohnzelle zu Wohnzelle. Habe seit meiner Abfahrt in Moskau etwa drei Stunden geschlafen. Jetzt ist es zwei Uhr nachts. Als ich mein Bett beziehe, fegt ein eisiger Sturm um unsere dünnen Hütten, und die Wände rattern und poltern, als säße ich jeden Moment im Freien. Hier werde ich drei Tage bleiben, um mich bei allen Leitungen anzumelden.
Lipezk am Woronesh Fluss, eine Stadt der Schwerindustrie mit fast einer halben Million Einwohner hatte sich seit Peter I., vor allem in den letzten dreißig Jahren rasant entwickelt.
In Lipezk herrscht tiefer Winter mit einem halben Meter Schnee und etwa Minus fünfzehn Grad Celsius. Eine gestrenge Sachbearbeiterin im Büro der Baustellenleitung erwidert, als ich ihr freudig mein Vorhaben darlege: „Sie können nicht so einfach in den Brigaden mitarbeiten. Sie sind ja dafür gar nicht versichert.“ Sie traut einem Schreibenden offenbar körperliche Arbeit nicht zu. Erst, als ich ihr verrate, mein erster Beruf sei Former, und ich hätte in einer Eisengießerei gearbeitet, greift sie zum Telefon, ruft jemanden an, nickt mir dann zu und flüstert: „Ist genehmigt.“
Während ich dies notiere, sitze ich in einem Zimmer der Reihe Fertighäuschen mit je vier Zimmern der DDR-Arbeiter zwischen sowjetischen Neubauten und den Häuschen und der Fabrik des Ortes Rudnik. Noch im August vorigen Jahres befand sich hier ein Kartoffelacker. Das Zimmer ist recht komfortabel eingerichtet mit drei Betten, drei Schränken, drei Nachtschränkchen, Deckenneonleuchte, zwei Tischlampen, zwei Heißwasserfernheizungskörper, die eine bullige Wärme erzeugen, so dass ich eines der beiden Klappfenster offen lasse. Die Wände sind tabakbraun oder gelb, die Decken weiß, abwaschbar kunststoffbeschichtet, wie mit dünnem Leder bezogen, und auf Jahre hinaus unverwüstlich. Zwei romantische Gemäldedrucke zieren die Wände: Caspar David Friedrich: „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ und „Italienische Landschaft“ von Claude Lorrain.
Jede Trassenbaustelle stellt sich als eine DDR-Enklave in der RFSSR heraus, als eine DDR im Kleinformat, mit Kontrollorganen usw., und dennoch, da sie zwar noch innerhalb des „Eisernen Vorhangs“ liegt, aber außerhalb seiner konkreten Nahtstelle zwischen Ost und West, der Mauer, bietet sie für die hier Anwesenden die Chance für einen scheinbar persönlichen Neuanfang, zumindest für ein Ausbrechen aus den verkrusteten Strukturen von politischer Gängelung und Bevormundung. Man darf Weggehen und Wiederkommen, besitzt ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit.
Lipezk