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5 Drei Linien und ein Punkt

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Bevor ich nach Perwomaiskij ins große Wohnlager fahren darf, melde ich mich in Lipezk wie gefordert in der Baracke mit dem Büro des Parteistabes. Ich glaubte, man würde mich nach meinen Plänen und bisherigen Eindrücken befragen. Es begrüßt mich im sächsischen Dialekt ein untersetzter schwarzhaariger Mann Ende dreißig, mit großer Nase, der sich als „Diedoa“ (Dieter) vorstellt. Er bringt mir gastfreundlich eine Tasse Kaffee, erläutert mir dann an Hand einer Karte von der Trasse recht freimütig und aufrechtsitzend die Funktion von Verdichterstationen und die vorangegangenen Arbeiten, um mit ihrem Bau beginnen zu können und erwähnt eine geplante Initiative. Ich sitze in Wattejacke mit Umhängetasche, meine Schapka auf den Knien.

Mitten im Gespräch erscheint aus dem Nebenraum ein Mann mit bleichrötlichem schütterem Haar, schlaffen zitternden Wangen voller Sommersprossen. Dieter, der plötzlich in eine gekrümmte Haltung verfällt, stellt ihn mir als „Leider des Bardeistabes“ vor. Ich erhebe mich, der Leiter drückt mir jovial lächelnd die Hand und sagt: „Guden Dach! Ärich“. Sie sächseln beide und erinnern mich an den Witz eines sächsischen Kabarettisten: Ein Elektriker aus Sachsen besucht einen Kollegen namens Dieter in Berlin. Er klingelt an der Wohnungstür. Die Hausfrau öffnet. Er fragt: ‘Guden Dach. De Diedoa da?’ ‘Wat woll’n se?’ ‘De Diedoa da?.’ Sie geht ins Zimmer zu ihrem Mann und sagt: ‘Du. Draußen steht jemand von der Feuerwehr.’

Erich und Dieter bieten in der folgenden Stunde einen Einakter für zwei Personen. Um Rahmen, Bedeutungsgehalt und Darstellungsweise ihres Auftritts zu charakterisieren, genügen drei Linien und ein Punkt: eine Waagerechte bildet den Tisch, eine Bogenlinie zur Mitte charakterisiert „Dieda“, eine aufsteigende Schräge von der Mitte weg „Ärich“, und der Punkt steht für meine bescheidene Position.

Nach der kurzen Begrüßung, während der sie mich scheinbar nicht deutlicher als eine Fliege am Fenster wahrgenommen haben, setzen sie sich in die Mitte des Raumes an einen der zahlreichen Tische und vertiefen sich sogleich in ein Gespräch, oder vielmehr in ein Rede- und Bestätigungsspiel. Erich redet und Dieter bestätigt seine Worte in dienstbeflissenem Ton und einer beinahe unterwürfigen Haltung. Die Minuten verrinnen, und sie reden und bestätigen. Und ich sitze nahe der Tür, und überlege, ob ich bereits entlassen bin, entschließe mich sitzen zu bleiben, ziehe meine Jacke aus, nehme mein Notizbuch aus der Tasche, rücke die Tasse Kaffee zu mir, konzentriere mich.

Der schwarzhaarige Dieter in der Haltung einer Bogenlampe betätigt sich eifrig mit Zettel und Bleistift, während der rötlichblonde Erich auf seinem Stuhl fast liegend ausgestreckt sich in die Materie hineininspiriert. Vor ihm liegt ein Stoß beschriebener Seiten, offenbar die seine schöpferische Laune auslösende Schrift einer übergeordneten Leitung. Er raucht nicht bloß, er atmet den Qualm (sichtlich auf Inspirationen hoffend) wie den Geist seiner Muse - tief ein bis zu den Zehenspitzen, beäugt für Augenblicke die graue Wand, richtet jetzt sichtlich erleuchtet die Blicke auf seinen Gegenüber, sagt: „Für die ‘Fünfundsiebzig-Rote-Sterne-Bewägung’ schlage ich folgende Bungde vor,“ und gibt von einseins bis einsfünfundsiebzig Vorschläge zu bedenken. Dieter nickt tiefernst und vermerkt: „Nu, glar, Ärich, ’Fünfundsiebzig-Rote-Sterne-Bewägung’, „Bungd eins, Bungd einseins, Bungd zweieins...“

Erich sieht nur ihn und die ihn inspirierenden Luftlöcher, nicht mich. „Das häßt: fünfundsiebzig fertsche Objekte bis 1985. Nämlich fünfunddreißig zu Ähren des 35. Jahrestages der DDR, vierzig zu Ähren des Jahrestages der Befreiung vom Faschismus. Ähnlich der ‚Sechzig-Rote-Nelken-Bewägung‘ damals an der Drushba-Trasse eins.“

Dieter rechnet: „vierzig plus fünfunddreißig – genau!“ Es erfreut ihn, wie gut das hinhaut - „das macht - fünfundsiebzig. Nu, glar, Ärich.“

Ich schlürfe meinen Kaffee und notiere interessiert schweigend. Eine Stunde sitzen wir so, und sie sehen nicht ein einziges Mal zu mir. Mich lenkt das ab vom Zuhören und ich grübele über ihr eisernes Nichthersehen. Doch wie Erich so redet, so schöpferisch gelaunt, so spielerisch leicht seine Gedanken auf Dieters Papier einen Platz finden sieht, weiß ich, er beobachtet mich aus den Augenwinkeln: Soll der Schriftsteller mal ruhig in die Heimat tragen, welch kraftvoll-schöpferischer Parteimann ihm an der Trasse begegnet ist. Umfassend analytisch steckt er mit gehobenem Blick den Rahmen ab und nähert sich überraschend vorstoßend den eigentlichen, den lebendigen Unterpunkten, den zu erarbeitenden Tatsachen: „Erschtens: zur Vorbereidung Verbündete sammeln, erläudern, welche Objegte, weshalb, bis wann und so weiter. Mitgliederversammlungen der Bardei, der FDJ. Zwätens: Bobularisieren im ‚Drassenecho‘, aber so, dass gäner einschläft beim Läsen. - Ausschreibung für junge Dalente in Musik, Lyrik, Prosa. Einsatz des Disko-Mobils ...“

„Nu, glar, Ärich.“

„Drittens: Wer ist bedeilicht? Das wirft noch eenmal große Fraren auf. - Zum Beispiel, nehmen wir an: Sterne-Objekt eins, bedeilicht sind die und die Gewerge, Leude vom erschten Spadenstich, die längst in der Heimat sind, wenn das Objekt übergäben wird.“

„Nu!“

„Dann die Urgunde – bei der Übergabe, was muss da alles hinein? Dann zweisprachig, in Russisch und in Deutsch, möglicherweise durch unsere Regierung übergeben an die SU und so weiter. - Und da is noch än Hagen: Wir brauchen än Lied! Wer schreibt den Dext, wer die Melodie?“

„Ja, ja, is glar, Ärich, das is wichtig. Än Lied. Ich habe da schon äne Idee.“

„Und äne ährenamtliche Drubbe schaffen, und än Ährenbuch einrich-ten...“

„Nu, glar, Ärich.“

In der Herberge zum Steppenwolf

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