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8 Das Wohnlager auf dem Kolchosacker
ОглавлениеDer historische Kern dieser Trassensiedlung verschwindet eben: das Gehäuse der eingehausten Bauwagen, in denen anfangs die Küche residierte, wird abgerissen, zerlegt in seine Einzelteile: Balken, Kanthölzer, Pappwände, Spitzdach. Rascher Wandel lässt der Erinnerung kaum Zeit zum Verweilen. Die morgen kommen, haben eine Generation versäumt, sind die “jungschen Kerle”, die “keine Ahnung haben vom schweren Anfang”.
Das Wohnlager gibt nur Unterkunft. Der Zweck allen Bauen und Mühens sind hier Gebäude und Anlagen für Gaskompressoren dreißig Straßenkilometer entfernt bei Starojurjewo.
Wolfgang Vierkant, dem ich auf dem Weg zum Essen begegne, deutet auf einen langen Balken, den Zimmermanns-Kollegen eben aus der Dachkonstruktion schlagen: “Zu viert hatten wir den hochgewuchtet, fünf, sechs Zentner. Im August. - O, ja, das war ein guter Monat.” Den Verdienst meint er, das Wetter, die Stimmung. Wehmut schwingt mit darüber, dass sie vieles nur als Vorausbauten der eigentlichen Projekte errichten.
Der Schreibende, anwesend in zufällig diesem oder jenem Augenblick fühlt sich bei allem Engagement betrübt abseits, nicht teilhaftig dieses Arbeitslebens um ihn herum. Gebaut wurde vor ihm, gebaut wird nach ihm. Was erfährt er schon mehr, als Momentaufnahmen. Nicht einmal zu besonderen Höhepunkten weilt er hier, erlebt hastige Begegnungen, aufflackernde Gespräche, angedeutete Biografien. Dem Neueingereisten werden die fehlenden Monate mündlich überliefert, saftiger als jedes geschriebene Trockenfutter.
Aus der geologischen Karte lese ich, dass wir uns mitten im Schwarzerdegebiet befinden, diese Erde sei tiefbraun durch Humus, fruchtbar und nahezu eineinhalb Meter stark. Alle weiteren Eigenschaften erlebe ich an Ort und Stelle mündlich und sie führen in eine wahrlich chaotische Urzeit des Lagers.
Zuerst musste die kostbare Muttererde abgetragen und umgelagert werden, was heißt, von Raupenschleppern zusammengeschoben, von Baggern aufgeladen, von Kippern fortgefahren. Tausende von Kubikmeter über etliche Kilometer. Erst jetzt auf den beginnenden Lehmschichten, Glina, die bis zu fünfzehn Meter tief in die Erde reichen, durfte gebaut werden. Während der trockenen Jahreszeit schwierig, da der Boden zu Asphalthärte trocknete. Schon schwacher Wind oder vorüberfahrende Autos wehten den feinen Mergel zu Staubwolken auf, dass er zwischen den Zähnen mahlte und die Augen verklebte. Doch es blieb nicht trocken, und der Herbst wurde noch feuchter. Regen hielt sich nicht an der Erdoberfläche, sondern wandelte die verbliebene Schwarzerde, den Lehm und Ton in unergründliche Schlammtiefen.
“Trau keiner Pfütze!”, warnt man die Unerfahrenen.
Mitteleuropäische Kenntnisse von Böden werden zu Illusionen. Erde hat noch lange keine Balken, und Sprichwörter helfen nicht darüber hinweg. Der Boden wandelt seinen Aggregatzustand und auch Ingenieure sinken hilflos bis zum Kinn in ihn hinein. Alle Theorie hilft jetzt nur, wenn sie Knüppeldämme baut, Entwässerungsgräben aushebt, Wege wieder und wieder durch Schotterladungen zumindest kenntlich macht. Der Schlamm wird zur Herausforderung an die Menschen, an die Technik. Laufen darf man vergessen. Gehen ist unangebracht. Schlammwaten als neue Fortbewegungsart setzt sich durch. Eile verfängt sich im mühevollen schnalzenden Vorwärtssinken. Neben den Dieselmotoren der schweren Raupen, der KRAZ-Kipper und Bagger, ist das auffälligste Geräusch jener Flüssigbodenperiode das schmatzende. Mit ihm verbindet sich die Zähflüssigkeit des Arbeitstages, der wie Albdrücken an den Sohlen haftet, sich ans Gummi der Stiefel saugt. Abends, vom Bett aus, hört man die Spätkommenden an den Fenstern vorüberschnalzen, mit den Fingern sich krallend, kratzend an der Wellverkleidung der Wohnbaracken. Man ahnt den Ursprung der Geduld und der Zähigkeit der Menschen dieses Landstriches. Wegekundige für die wenigen hundert Meter sind gefragt. Abkürzungen, unter ihnen leiden die Neueingereisten, enden meist mit jähem Eintunken bis über die Gürtellinie. Etliche finden sich so wieder mit bester Kleidung und zwei Koffer in den Händen. Nur gut, dass weder eine S-Bahn noch eine Buslinie nach Berlin besteht. So mancher wäre auf der Stelle umgekehrt. Auf den Wegen schwappt es schokobraun in die Gummistiefel, neben den Wegen lauern schlammwassergefüllte Gräben. Jemanden allein loszuschicken, ist unverantwortlich: die dunkle zerfurchte Masse sieht rundum trügerisch gleich aus. Man geht besser zu dritt, zu viert, nicht, um den plötzlich Eingesunkenen herausziehen zu können, nein, um einen schweren Wagen zu holen, einen Traktor, eine Raupe, um ein Seil unter die Achseln zu legen und zu ziehen.
Der Filmvorführer, bereits lagererfahren, jedoch jung und spontan, wollte nur mal quer von der Straße zum Kulturwagen, da stak er schon hilferufend bis zur Hüfte im saugenden Erdreich. Zwei Arbeiter kamen mit Schaufeln und schachteten ihn aus.
Ein Koch erzählt: “Es war im Oktober. In den Nächten hatten wir schon Frost. Kurz vor der Essensausgabe zum Abendbrot wollte ich bloß noch schnell mal rüber in die Bude, mir’n Taschentuch holen. Ich kannte den Weg genau, und plötzlich war ich weg: bis zum Kinn, und niemand in der Nähe, der mich hörte. Ich ruderte, strampelte und bekam ein dickes Brett zu fassen. An dem zog ich mich so nach und nach aus dem Dreck. Wer weiß, wie es sonst ausgegangen wäre. Das stellt sich keiner vor. Erzähle ich das zu Hause meinen Kumpels, sagen die: ‚der spinnt‘. Ich dann rein in die Küche, schlammüberzogen und steif vor Kälte, und die wollten mich rausjagen, hatten mich nicht erkannt, und mir klapperten die Zähne. Dann haben sie mich unter die Dusche gezerrt, die Kleider vom Leib gezogen und geschnitten und in den Müllkasten geworfen, mich aufgetaut, frottiert, in Decken gewickelt und rübergetragen in mein Bett”.
Jetzt, zur Zeit der Straßen aus “Februarasphalt” hastet bereits die Warnung durch das Wohnlager: “Wartet nur, wenn das Frühjahr kommt und der Schnee schmilzt ...”
Lang ist’s her. Damals der Sommer und der Herbst vorigen Jahres. Nun wächst um den verschwindenden Altkern wie eine Zwiebel Schale um Schale der moderne, eigentliche, und das Wohnlager stabilisiert sich. Die Küche, zwei Speisesäle mit Verkaufsstelle, zwei Schachtelhallen (wie bei einer Matrjoschka-Puppe, nur zusammenhängend aneinander zu stellen), etliche Reihen Wohnbaracken (mit Bungalowkomfort), die nummeriert sind nach der Folge ihres Entstehens. Da die Zahl der Arbeiter noch immer rascher wächst als die Unterkünfte, stehen Wohnwagen dazwischen.
Die Februarstraßen sind vereist, sandbestreut, verschneit, aufgetaut, abermals vereist, sandbestreut. Reger Verkehr herrscht auf ihnen zwischen den weißen Bungalowbaracken, als solche sie auch später vom Oblast (Verwaltungsbezirk) Tambow vorgesehen sind. Fußgänger eilen von und zu den Büros, von und zu den Autos, die nahezu mit jedem Typ vertreten sind: PKW, Deutrans-Speditionswagen, Kipper, Kräne, Jeeps, Busse. Ein Hupen, Hasten, Rutschen, Rufen, Grüßen; - Exterritorium deutscher Arbeitshektik.
Unablässig wird gegraben, geschachtet, betoniert, gerammt, gemauert, gezimmert, gebaut. In wenigen Tagen wachsen aus Stahlträgern und Schaumbeton Wände und Dach einer Lagerhalle mit den Ausmaßen eines mittleren Hauptbahnhofs. Während einem beim Zusehen die Nase vereist, sitzen angegurtet in zehn Metern Höhe Arbeiter rittlings auf einem Träger und verschrauben die Dachverspannung. Andere stehen unten, beobachten sie aufmerksam, und einige hantieren von einer hydraulischen Hebebühne aus.
Wenige Schritte weiter ein schwarzer gähnender Spalt, den ein emsiger Schaufelbagger verlängert. Greift ins weiche (zuvor durch Brikettfeuer aufgetaute) Erdreich, von dort unter die zähe eis- und schneebedeckte Kruste, bricht sie auf: der Fundamentgraben für eine zweite Riesenhalle, an dessen vorderem Teil bereits betoniert wird. Feuerwehrschläuche kriechen dort wie Adern aus der Erde durch den Schnee zu einer Pumpe, die stetig das sich sammelnde Oberflächenwasser absaugt. Arbeiter verteilen im Graben Beton. Vermummt in blauen Wattejacken, über die Ohren gezogenen Schapkas, in Gummistiefeln im Wasser watend. Am Rande des Grabens müht sich ein Arbeiter, gefrorenen lehmhaltigen Sand durch ein Standsieb zu schaufeln und vom Sieb in den Mischer. In der Nähe mit Zeltbahn und weißem Perlonfließ verkleidete Holzgerüste: provisorische Werkstätten für Bagger, Kräne und Wagen.
Wie die Hausfrau, deren rastloses Mühen die Familie großzügig toleriert, wirkt die Küche als nimmer ruhende Speisefabrik. Zahllose Köchinnen und Köche lösen sich ab an Kesseln, Kippbratpfannen, in der kalten Küche und im Geschirrspültrakt, produzieren fünf bis sieben Mahlzeiten von fünf Uhr morgens bis zum „Mittag“ um Mitternacht, das auch an die außenliegenden Arbeits- und Baustellen gefahren wird.
Zum Essen belädt man seine Arme im Vorübergehen oder nach Schlangestehen mit Tellern und Trinknäpfen und jongliert sie im Gewirr von Platzsuchenden in einen der beiden Speisesäle. Beide sind getrennt durch einen Zwischenraum für den Filmvorführer. Im kleinen Speisesaal stehen die Tische zu langen Tafeln gereiht. Man setzt sich auf einen freien Platz, täglich vor neue Gesichter. Gedämpfte Gespräche, Frischluft. Hier wird nicht geraucht. An der Stirnwand zur Küche hängt der Speiseplan des Tages, dargestellt in “Grundsortimenten” an Vorspeisen, Hauptspeisen, Nachspeisen. Die Fachsprache verschont den Esser nicht, macht ihn zum Laienesser, der nicht geringschätzig nur zu „essen“, sondern gefälligst Grundsortimente zu sich zu nehmen hat. An den Seitenwänden Glaskästen mit Zahlen zur täglichen Planerfüllung, sowie Fluglisten der Urlauber für den kommenden Monat. Schönstes Gesprächsthema. Seit zehn Wochen träumt man von dem Datum, nun, nach etlichen Verschiebungen, hat man es vier Wochen lang schwarz auf weiß.
Findet man im kleinen keinen freien Platz, drängt man hinüber zum großen Speisesaal. Das erste, was auffällt: schallende Musik gesteuert aus der Filmvorführerloge, laute Gespräche, Zigarettenqualm. Die Tische stehen schräg zur Wand in Fischgrätenmusterreihen. Hier wird gegessen wie in riesiger ständig feiernder Familie. Immer trifft man Freunde, Bekannte, Bärtige, nach Öl und Diesel riechende Wattekleidung; Neueingereiste mit glatten blauen bügelfrischen Arbeitsanzügen, glatten Gesichtern, ruhelosen staunenden Augen; Mädchen aus Büros, aus der Küche wie zarte Tupfen auf rauer Fassade, mit zärtlich tastenden, grabschenden, spöttischen, sehnsüchtigen Blicken verfolgt.
Grauer Betonfußboden, Fenster mit Decken verhängt, geweißte Wände, die Decke des Saales behängt mit Neonleuchtstäben.
Zum Abendbrot, wenn die Verkaufsstelle auch Bier freigibt, ähnelt die Stimmung mehr und mehr der, die man sich in einer modernen Goldgräberstadt vorstellt. Hin und wieder ein kühler Luftzug. Die Tür steht offen. Niemand vermag sie zu schließen, denn unmittelbar hinter der Schwelle setzt man den Fuß auf einen Eisbuckel.
An einem Tisch putzt Sam Kowalski Gläser für einen „Umtrunk“. Jemand aus der Brigade hat Geburtstag, und er selbst fliegt in einer Woche auf Urlaub, für vier Wochen. Arbeitet ohne Unterbrechung seit vierzehn Wochen an der Trasse.
Das Abendessen geht unmerklich über ins Feierabendtrinken, in eine Kinovorstellung oder in eine Disko. Manch einer ist zuvor schon stark angesäuselt und muss vom Stuhl, und durch das Wohnlager ins Bett gehievt werden.
Speise- und Kulturbaracke in Perwomaiskij
Dialekte der südlichen, vor allem der thüringischen Bezirke, überwiegen, werden durch Trassenjargon überbrückt und durch das hier übliche „Du“. Distanzpronomen sind hier wenig gebräuchlich. Verwendest du es versehentlich, stößt dir die Fremdheit sofort auf. Die Hierarchiepyramide zeigt sich hier (zumindest vom Umgangston) stumpfkegelig, ihre Spitze basisgeneigt. Du hast rasch Kontakt zu schließen, oder findest dein Hiersein als Eigenbrötler schwer.
Deinen Pass gibst du in Verwahrung, besitzt keine anderen dich ausweisenden Dokumente als deine Familienfotos. Dein Hiersein, dein Hierangekommensein sind ausreichende Legitimation, dass man dich kleidet, speist, beherbergt, bezahlt. In Rubel. Er bleibt die einzig gültige Währung für die Zeit deines Aufenthaltes. Selbst für Einkäufe in der Kantine, deren Wände bestapelt sind mit nützlichen wie flüssigen Artikeln, vom Vorhängeschloss bis zum gefürchteten aserbaidschanischen Portwein “Agdam”. Die Längswand wird verstärkt durch eine Mauer aus Bierkästen, die von einer nicht abreißenden Schlange fleißig Dürstender abgetragen, von wenigen Restaurateuren mühevoll in seiner Stabilität erhalten wird. Und die Wand aus “Braustolz-Export” hat dickwandig und aufragend zu bleiben, an ihr lehnt, so höre ich hinter vorgehaltener Hand, die Baustelle. Die Bausteine zur Wand liefern Deutrans-Container in pausenlosen Nachschubfahrten. Die lösen Verwunderung aus und Stolz: „Was alles rangeschleppt wird aus der Heimat: Bier, Straßenplatten, Platten für den Wohnungsbau, Kohlen, eigentlich alles“. Immer wieder höre ich dieses schöne Wort „Heimat“, zerrissen und belastet wie deutsche Vergangenheit und Gegenwart.
Von den Wochentagen ist der Dienstag mit diesem Wort am meisten verknüpft: Er ist Urlaubertag. Unter den Fußgängern des Wohnlagers trifft man heute eine auffällige Zahl Bekannter in fremdartigem Zivil: ohne die loddrige Arbeitsschapka, schlank, ohne Wattespeck, ohne blaue Arbeitshosen, ohne Filzstiefel, ohne Gummistiefel. Nach dem Abendessen im kleinen Speisesaal (derweil im großen ein Film läuft: „Plattfuß am Nil“) mit Koffern, Bier und Wein, den Pass zu empfangen. Unüblich gründlich gereinigt und rasiert, führen sie unübliche Gespräche mit unüblich gelöster Heiterkeit. „Zu Hause erst mal’n Glas frische Milch und ‘ne Semmel“, sagt Volker. „Erst mal?“, fragt Sam Kowalski spöttisch. „Kann dir die Reihenfolge aufzählen: erst mal ..., dann noch mal ..., dann wieder und dann die Koffer reingeholt“. Reisefiebernd schleppen sie schließlich ihr Gepäck vor zur Wache, wo der Bus mit dem Reiseleiter sie bereits erwartet, und sie zum Bahnhof fährt. Tags darauf werden Urlauber zurückkehren und Neue einreisen: steter Gesichtertausch.
Sämtliche Güter kommen aus der DDR mit Bahn oder Auto
Ich wohne mit einem Graubärtigen auf dem Zimmer. Er ist stellvertretender Baustellenleiter. Humorvoll, aufmerksam zuhörend, beweglich. Er bestätigt mir, es gäbe nur zwei Tätigkeiten auf der Trassenbaustelle: Zehn bis vierzehn Stunden arbeiten und Schlafen, wenn man Trinken und Rauchen nicht hinzurechnet.
Das Gewerk „Kultur“ bemüht sich redlich, Abwechslung ins Trassenleben zu bringen, wenn man von den in diesen Breiten unglaublich komfortablen Lebensbedingungen absieht, die von uns als selbstverständlich betrachtet werden. Es gibt einen Singeklub, Malzirkel, eine Bibliothek und sonnabends Disko in den beiden Speisesälen.
Heute sprach ich mit dem schwarzbärtigen langhaarigen stellvertretenden Parteisekretär Heinz. O., Klaus P. musste wegen eines tödlichen Verkehrsunfalls zur Miliz. Anschließend wollte ich zum Leiter des BMK, der aber war zum Rapport. Ich traf seine Sekretärin, eine schlanke kühle Blondine. Als sie hörte, ich wolle auf dem Verdichterfeld in den Brigaden mitarbeiten, äußerte sie Bedenken: Sicherheit, Versicherungsschutz. „Sind Sie Facharbeiter? Dann müssen Sie mit dem BMK vereinbaren, ob Sie als Zimmerer oder Betonierer mitarbeiten können und einen Vertrag abschließen.“ Da der Leiter nicht zu sprechen war, wurde alles auf den anderen Tag verschoben. Deshalb lebe ich momentan vom Beobachten und Betrachten, also vom Gaffen und habe das beschämende Gefühl, Tourist zu sein, streune im Wohnlager umher, fotografiere, möglichst unauffällig, um wenigstens etwas „in der Tasche“ zu haben. Eine Gruppe Arbeiter mit Pressluftmeißel hebt an der Küche für das Regenrinnenwasser einen Graben aus. Sie schuften in blauen gefütterten Jacken, die blauen Schapkas mit der grauen Fütterung auf dem Kopf. Jemand von ihnen ruft: „Hau‘ bloß ab!“ Ich gehe zu ihnen, frage: „Weshalb reagiert ihr so empfindsam?“ „Was heißt: empfindsam? Es ist in Wirklichkeit nicht so, wie es in der Zeitung zu lesen steht. Du musst die Wahrheit schreiben und kein Propagandascheiß.“ „Was gibt es hier schon zu fotografieren? Dieser Schwarzerdeschlamm und wir hier – das ist nicht ermutigend.“
Was soll ich ihnen antworten, was soll ich groß reden? Soll ich ihnen von meinem früheren Beruf in der Eisengießerei erzählen? Dass ich mit ihnen mitfühle, dass ich wegen fehlender Arbeitserlaubnis hier stehe und zuschaue und aus Hochachtung vor ihrer Arbeit, wie sie sich bei der Kälte mit dem zähen Boden abmühen, dass ich ihre Tätigkeit jeder anderen auf der Welt ebenbürtig finde? Was soll ich schwätzen. Ich stehe da, schweige und nicke und kann mir lediglich, wie so oft, vornehmen, keinen Stuss zu fabrizieren.
Das Wohnlager ist eine Arbeitsstadt, ein Arbeitsdorf mit den Wohnzellen, in der Schriftsteller wenig gefragt sind, da Schreibende anderer Kategorien das Vorfeld verdorben haben durch laxe, leidenschaftslose, stereotype und plakative Schreibweise. Im Gegensatz zur „Heimat“ fallen hier diejenigen noch auf, machen sich verdächtig, die nicht mit anpacken. Wie kann man mich auch zwingen wollen, mich behaglich in meinen geheizten Wohnwagen zu setzen, die Füße in Pantoffeln neugierige Blicke durch die Scheibe auf die Arbeiter, die draußen ungeschützt in eisigem Wind bei Minus fünfzehn Grad Celsius Stahlgerüste für Lagerhallen montieren, auf freiem Feld an der Ramme arbeiten, Gräben in den gefrorenen Boden rackern, der kein üblicher Boden ist, sondern eine zähe hartgummiähnliche Masse. Wer will von mir verlangen, genussvoller, vor allem an mich selbst denkender Zuschauer zu sein?
Der Baustellenleiter mit dem eisgrau-meliertem Bart klagt über Seitenschmerzen. Der Arzt kommt, ein blasser schlaffbäuchiger sanfter Mann. Er untersucht, stellt fest, er sei nierenkrank. Er kocht Tee in der Kochecke neben dem Zimmer, reicht ihn seinem Patienten. „Wir werden ins Krankenhaus fahren, ins Labor, Urinwerte besorgen“, sagt er, dort seien sie hilfsbereit, in der Medizintechnik aber dreißig Jahre zurück. Dann versorgt er einen Bauarbeiter, der seit dem Ziehen mehrerer Zähne über neuralgische Schmerzen klagt. Ein anderer Bauarbeiter liege mit perforiertem Wurmfortsatz im Krankenhaus, sagt der Arzt, sei zuvor aber noch mit Bauchschmerzen von Lipezk nach Perwomaiskij und raus zur Verdichterstation gefahren. In den nächsten Tagen käme auch der Zahnarzt her. Zuerst aber käme der Zahnarztwagen mit Turbine, dann Zahnmedizintechniker aus der DDR, um die Anlage zu kontrollieren, anschließend die Zahnärztin und eine Zahnarztschwester.
Der Speisesaal besteht aus zwei Sälen mit einem Zwischenstück für den Filmvorführer, da hier mehrmals wöchentlich Spielfilme gezeigt werden. In jedem der Säle stehen zweimal fünf Reihen Tische ähnlich langer Tafeln, im vorderen (dem an der Küche) stehen sie längs, im hinteren (dem an der Kantine) quer, da er mit seiner Bühnenerhebung als Kinosaal, als Gaststätte sowie als Diskotanzsaal dient. Im ersten Saal genießt man Frischluft, im anderen darf geraucht werden. An der Stirnwand des ersten Saales hängen zwei Glaskästen, der erste mit dem Speiseplan des Tages sowie den Fluglisten der Urlauber für den kommenden Monat, die auch ein beliebtes Gesprächsthema sind. Im zweiten Glaskasten ist der Stand der Planerfüllung zu betrachten. Im hinteren Saal hängt die Kulturwandzeitung mit Angeboten vom Singeklub, vom Mal-und-Zeichenzirkel, mit Diskoterminen und Kinoprogramm. Zurzeit läuft der Film: „Grünes Eis“.
In den beiden Sälen wird gegessen wie in riesiger Familie. Immer trifft man Bekannte, Freunde; Bärtige, nach Diesel riechende Wattejacken, Mädchen aus der Küche, aus den Büros, die Ingenieure, den Baustellenleiter. Es wird geraucht, nach der Essenszeit getrunken. Manch einer liegt dann unter dem Tisch, wird in seinen Bungalow gehievt.
Am Tag nach dem „Kappenfest“ ist an der Wandzeitung zu lesen: „Zimmermannnshut am Sonntag auf dem Kappenfest bzw. auf dem Weg zur Unterkunft abhandengekommen. Ich bitte den ehrlichen Finder den Hut abzugeben bei Heinz in der Baracke 5/4, erster Eingang. Danke.“
Dieser alltägliche Vorfall steht für das Trinken aus Heimweh, Kummer und Alleinsein. Die entferntesten Baracken liegen ja nur zweihundert Meter vom Speisesaal entfernt.