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2 Im „Knoblauchzug“
Оглавление21. Januar 1983
Dreiundzwanzig Uhr. Wir steigen in einen Zug, der aus allen Wagendächern dampft. Die Trassenleute nennen ihn seiner dominierenden Gerüche wegen „Knoblauchzug“. Eine untersetzte Frau in schwarzer Eisenbahneruniform schließt den Waggon auf und wir dürfen einsteigen. Erst einmal kein Knoblauch. Toilettendüfte – den ganzen Waggon entlang. Erst, als geraucht wird, geben sie klein bei. Die Waggons sind eingerichtet für lange Fahrten: auf der rechten Seite türlose Abteile mit zwei hart gepolsterten breiten Bänken, deren Polsterteil sich aufklappen lassen und einen geräumigen Gepäckkasten freigeben. Darüber ergeben die herunterklappbaren Rückenpolster zwei Liegen mit zwei darüberliegenden breiten Gepäckfächern. Dieses Abteil liegt wie üblich quer zum Zug. Links neben dem schmalen Gang zwei weitere Liegen. Auf den oberen Liegen und in den Gepäckfächern zusammengerollte Steppdecken und weißes Bettzeug. Die Leute verstauen ihr Gepäck, rollen Decken auf die Liege, legen ein Federkissen ans Kopfende. Die Schaffnerin hat ihre Uniform mit Hausfrauenkleidung getauscht und bringt restliches Bettzeug und Wolldecken. Die ersten liegen bereits und versuchen zu schlafen, als sich herumspricht, die Schaffnerin koche Tee. Ihr gehört das erste Abteil, das aus zwei oder drei kleinen Räumen besteht. In dem einen, vollgestopft mit Decken und Bettzeug, steht ihre Liege und ein Tischchen voller Teegläser in vernickelten Metallfassungen. In dem Raum daneben lagern Holz und Kohle für den Heizungskessel, den sie nebenher bedient. Der Kessel mit der Form eines stabilen Badeofens versorgt die Wagenheizung mit heißem Dampf und von einem kleinen Hahn aus die Teegläser mit siedendem Wasser. Ein Etagenheizungssamowar. Die Schaffnerin stellt eine Anzahl Gläser mit Teelöffel und Würfelzucker auf ein Brett vor der Feuerung, gießt aus der Kanne dunklen vorgebrühten Teesud in die Gläser und füllt sie am Kesselhahn. Es ergibt einen kräftigen schwarzen Tee für acht Kopeken. Wir geben zehn. Unermüdlich, ohne Murren brüht die Frau Tee, als sei sie verantwortlich dafür, dass niemand Durst leide. Bald riecht es im Waggon nach Tee, Zigarettenqualm, Schnaps und Bier. In einem Abteil wird bis kurz vor Ankunft in Perwomaiskij bei Musik aus dem Rekorder getrunken und gelacht. Die anderen schlafen.
In unserem Abteil fehlen Wolldecken, und wir frieren am Rücken. Ich suche die Schaffnerin auf, und radebreche, um ihr das Wort „Decke“ zu übersetzen. Sie weiß sogleich. Was soll ich auch schon von ihr wollen, wenn nicht Tee, Bettzeug oder Decken. Sie mimt ein frierend schmerzliches Gesicht, kriecht in sich zusammen, zieht mit den Fingern eine imaginäre Decke über ihre Schultern und blickt mich fragend an. Ich nicke. „Da, da.“
Wir fahren über die Bahnstation Lew Tolstoi, ehemals Astapowo, wo Leo Tolstoi 1910 verstarb.