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2. Feindschaft bis zum Tod

67 nach Christus - Frühling (2. Aprilis)

Imperium Romanum – Exercitus Germania Superior

Die Rückkehr von Boiuvarios Liburne, bis zur Siedlung der Hermunduren am Moenus, gestaltete sich schwierig und ereignisreich. War es zuerst der Vorteil flussab, weil die Strömung sie trug, mit nur wenig Hilfe der Rojer auskommen zu können, stemmten sich die Kälte und ein ungünstiger Wind gegen ein zügiges Fortkommen.

Die Kälte bewirkte das weitere Zufrieren der Wasserfläche, so dass letztlich eine nutzbare Fahrrinne von nur geringer Breite verblieb. Der Wind trieb sein Ungestüm gegen die beabsichtige Fahrtrichtung flussab und wenn er sich aufbäumte, weil er ihnen entgegen blies, glaubte Boiuvario mitunter, dass die Liburne auf dem Wasser stand, trotzdem das Segel im Wind flatterte.

Letztlich blieb ihm nur die Entscheidung, ohne Segel und ohne großen Einfluss der Rojer, allein von der Strömung getragen, vorwärts zu kommen.

So wie das Wetter umschlug und die Temperaturen anstiegen, brachen zuerst die Eisränder der Fahrrinne. Das war ein gar vergnügliches Anschauen, wenn die Liburne einen solchen Eisrand streifte und Teile der Eismassen sich lösten. Die Besatzung jubelte dem Gubernator zu, erlaubte er sich einen dieser Späße, bis Boiuvario auf das Treiben des noch jungen Besatzungsmitgliedes, den er auf der Rückfahrt erstmalig an das Ruder ließ, aufmerksam wurde.

Des Trierarch Wut war mit einem heftigen Tritt in des Gubernator verlängerten Rücken verbunden und zwei heftige Faustschläge begleiteten seinen Unwillen.

„Stronzo, willst du uns umbringen?“ fauchte Boiuvario und fast die gesamte, belustigte Mannschaft starrte erschrocken zum Trierarch.

Auch der Gubernator stierte den Trierarch an und wusste nicht, welcher Verfehlung er den Tritt und die Schläge verdankte.

„Mach das noch ein einziges Mal und du schwimmst bis Mogontiacum…“ Boiuvario verstand zwar den Spaß, die Mannschaft aber wohl nicht die Gefahr.

Es war Gessius, der Segelmeister, der sich einmischte. „Lass ihnen doch wenigstens diesen Spaß, wenn sie schon auf dieser Fahrt sich den Arsch abfrieren…“ lachte er und Boiuvario erkannte im gleichen Augenblick, dass wohl der Vorbesitzer der Liburne im Winter wenig Fahrten unternahm und diese auch nur begann, wenn der Fluss kaum Gefahren bot…

„Wenn du nicht gleich dein Maul hältst und dich um deinen Scheiß kümmerst, kannst du den Kerl beim Schwimmen begleiten…“ Boiuvario war aufgebracht und trübte die Wut seinen Verstand, neigte er nicht nur zur Brutalität, sondern lebte diese zumeist auch aus.

In Gerwins und der Verlorenen Begleitung wäre das ein gefährliches Unterfangen gewesen. Hier aber, auf seiner Liburne, war er nicht nur der Herrscher, er fürchtete auch keine Bedrohung, wenn sie nicht die ganze Mannschaft umfasste.

Ihm war schnell ins Bewusstsein gedrungen, dass weder seine Segelaffen noch seine Rojer allzu viele Mühen aufwendeten und einzig der Gubernator gefordert war, die Liburne in der Flussmitte zu halten. Müßiggang und lange Weile, verbunden mit Nässe und Kälte waren keine nützlichen Begleiter, wenn eine Mannschaft von Unzufriedenheit herausgefordert wurde.

„Was willst du mir mit deiner Drohung verkünden?“ fauchte Gessius zurück.

Boiuvario ließ ihn stehen und wandte sich ab, ohne ihn einer Antwort für würdig zu erachten. Ihm drängte sich eine Erinnerung an Gerwins Worte in den Sinn. Diese verkündeten Gefahr. Ging er zu weit und Gessius spürte den Unwillen der Mannschaft, konnte schnell ihm das Schicksal bereitet werden, dass er soeben seinem Segelmeister und dem Gubernator anbot.

Buteo, Eponias Sohn und sein treuer Begleiter, mischte sich ein. „Seht ihr nicht die Folgen, wenn das Eis bricht und von der Strömung erfasst wird…“

„Was melden sich Knaben, wenn Männer Spaß haben wollen?“ fauchte Gessius den noch immer sehr jungen Buteo an.

Plötzlich stand Boiuvario mit gezücktem Messer vor dem Segelmeister.

„Greife den Jungen an oder wage es, ihn zu beleidigen und ich schlitze dich auf, von deiner Kehle bis zu deinen Eiern!“ Der Dolch des Trierarch vollführte eine Kreisbewegung unmittelbar vor Gessius Nase. Dessen rechte Hand griff nach dem eigenen Dolch und währe wohl in Boiuvarios Brust gelandet, wäre Zosimos nicht schneller gewesen.

„Segelmeister…“ Zosimos Dolch stach mit dessen Spitze leicht in den Hals seines früheren Freundes. „… du scheinst Atlas Tod schnell vergessen zu haben… Ich aber nicht! Bekomme ich Praeco noch einmal zu fassen und der Trierarch ist nicht dabei, schneide ich ihm seine Ohren und Nase ab. Sicher weißt du, wenn du ein wenig nachdenkst, warum… Atlas war mein Freund, ich glaube auch der Deine… Dir aber scheint sein Tod nichts auszumachen, mir aber schon… Lass dein Messer wo es ist oder meines findet deine Kehle…“ Gessius stand wie zu Stein erstarrt. Er bewegte kein Glied. Seine Zornesader schwoll an, er wurde tiefrot im Gesicht und fauchte den Jüngeren an. „Nimm dein Messer weg oder ich schneide dich in Streifen, Zosimos!“

„Lass dein Messer dort und Dank an dich!“ meldete sich der Trierarch. „Nutzen wir doch den Augenblick, um Klarheit zu schaffen… Wer glaubt, dass Gessius recht hat, geht zum Bug! Wer mir vertraut, sammelt sich im Heck am Ruder… Los, entscheidet euch!“ schrie er und sein Blick musterte die herumlungernde Mannschaft.

Er wusste, dass dies ein Spiel mit dem Feuer war. Gingen mehr Männer zum Bug, konnte er mit nur wenigen Getreuen kaum wirksamen Widerstand leisten. Dennoch war es Zeit, reinen Tisch zu machen und er war entschlossen, sich diesen Moment nicht entgehen zu lassen. Hatte doch Zosimos, mit seinem Eingreifen, diese Gelegenheit herbeigeführt…

Eine Mannschaft im Müßiggang war stets eine Gefahr, zumal auch noch dem Praeco Nachtrauernde eher bereit waren, für dessen Freunde, zu denen Gessius nun einmal zählte, einzustehen.

Plötzlich stand Argelastus neben Boiuvario. Auch Falko, der Hermundure, schob sich an ihn heran.

„Herr…“ meldete sich Fuscus leise Stimme. „… sorge dich nicht… Wir halten zu dir!“

Und wirklich drängte die Mehrzahl der Mannschaft zum Heck. Um Gessius im Bug scharrten sich lediglich fünf der älteren Besatzungsmitglieder.

„Dann scheint mir, die Sache ist entschieden!“ stellte Boiuvario die Aufteilung musternd, mit einem Grinsen fest. „Ich nehme eure Abmusterung zur Kenntnis! Bei nächster Gelegenheit geht ihr von Bord und merkt euch, dass ich keinen von euch jemals wieder in der Nähe meiner Liburne erblicken will! Solltet ihr dies vergessen, wird mein Messer für Erinnerung sorgen… Argelastes, Fuscus und Falko, lasst die Kerle dort wo sie sind! Die Übrigen an die Ruder! Suchen wir uns eine Stelle, an der wir diese Abtrünnigen von Bord werfen können…“

Boiuvario wusste, dass es früher oder später darauf hinauslaufen musste, dass er auch Gessius aus der Mannschaft warf. Zu offenkundig versuchte der Segelmeister mit seinen Händen nach der Macht an Bord zu greifen. Das ihm aber gerade seine zuverlässigsten Männer, so wie er sicherlich glaubte, ihre Freundschaft und Verbundenheit aufkündigten, schien ihn vollständig zu überraschen.

Zosimos Freundschaft zum großen, schwarzen Bären Atlas lag in der Unterschiedlichkeit ihrer körperlichen Voraussetzungen und im Charakter begründet. Der große Starke schützte den kleinen, vermeintlich Schwachen. Der kleine Kluge dachte für seinen großen, etwas schwerfälligen Freund. Die Einheit der Beiden, so unterschiedlichen Matrosen, war eine Besonderheit, die solange geachtet, keinerlei Gefahr hervorrief… Der Tod des Atlas aber brach eine Wunde auf.

Als sich Gessius einst den wieselflinken Zosimos zu seinen Segelaffen holte, nahm sich Atlas des damals Schutzbedürftigen an. Gessius war, schon zu dieser Zeit, wenig nachsichtig gegenüber Zosimos und erzog seinen vermeintlichen Getreuen mit manchem Tauende. Als Atlas aber seine Rolle als Beschützer annahm, wagte Gessius es nicht mehr so oft, den Jüngeren zu züchtigen.

Gessius und Praeco waren einst absolut tonangebend und wer sich nicht fügte, blieb, zumeist mit einer Messerwunde, auf der Strecke. Irgendwie schienen sich die übrigen Segelaffen Falko und Fuscus daran zu erinnern, dass auch ihnen einmal, in dieser Art, gedankt werden könnte. Beide kannten Gessius Fäuste, die ihnen früher, fast genauso wie Zosimos zuletzt, den Weg wiesen.

Gessius bemerkte nicht, dass sich nach Praecos Abmusterung die innere Geschlossenheit der Mannschaft veränderte. Als Boiuvario nach der Übernahme der Liburne zu Alte aussonderte, verlor die Mannschaft einen Teil des inneren Gefüge. Neu Hinzugekommene passten sich an, waren aber nicht so aufgenommen worden, wie zuvor Entlassene dazu gehörten. Dann warf Boiuvario den Praeco von Bord. Die innere Einheit der bisherigen Mannschaft bröckelte weiter, weil sie ihren wichtigsten Kopf verlor…

Rojer und Matrosen sind oft harte Kerle… Wie sollten sie auch nachsichtig und freundlich sein, bestand ihr Leben doch zu großen Teilen nur aus hässlichen Pflichten, schlechtem Essen, wenig Schlaf und ständig einer Peitsche im Rücken…

Auch wenn Freundschaften unter Gleichartigen selten waren, galt es stets der Geschlossenheit der eigenen Mannschaft zu vertrauen. Nach Außen war eine solche Schiffsmannschaft ein festes Gefüge, schloss aber im Inneren nicht aus, das Rivalität, Neid, Missgunst, Brutalität oder einfach auch nur Gemeinheiten wirkten. Je fester eine Mannschaft zusammenhielt, desto unverwundbarer wurden deren einzelne Teile. So war es schon vor Boiuvarios Zeiten auch auf dieser Liburne. Sein Einfluss veränderte aber vieles. Zuerst wich ein Teil der Besatzung, dann wirkte seine Klarheit sowie auch seine Stärke und veränderte die innere Stabilität. Letztlich bewirkten Auseinandersetzungen, dass sich die Mannschaft völlig neu ausrichtete. Boiuvario förderte diesen Vorgang, wenn er auch nicht jede Einzelheit beeinflusste oder gar steuerte. Eines aber gelang ihm hervorragend… Es war seine Beobachtungsgabe, die gepaart mit Geduld und zuweilen auch Forschheit, Entscheidungen herbeiführte. Das letztlich immer alles zu seinem Vorteil ausschlug, verdankte er dem Einfluss der Götter oder einfach nur seinem Glück.

Auch dieses Mal entschied er sich scheinbar richtig. Die Lage an Bord spitzte sich nach des Praecos Abgang zu. Gessius nahm sich Dinge heraus, die Boiuvario nicht zu dulden gewillt war. Er zögerte jedoch, weil er noch immer nicht wusste, ob die Mehrheit der Mannschaft zu ihm halten würde. Zosimos war das Pendel, das ihm zeigte, dass der Augenblick einer Entscheidung gekommen schien. Erkannt und genutzt, schrumpfte der Teil ihm feindlich Gesinnter auf Gessius und nur noch weitere fünf Rojer. Merkwürdigerweise entschieden sich alle verbliebenen Segelaffen für ihn und gegen ihren bisherigen Segelmeister.

Es war wieder der Flusshafen in Borbetomagus, an dem sie anlegten und die Abmusterung vollzogen. Boiuvario stand an der Planke, vom Boot auf die Mole, als Gessius festen Boden betrat.

„Gessius, ich bedaure deinen Entschluss, dich hinter Praeco gestellt zu haben… Den allerdings verfluche ich! Ihm und dir rate ich, nie wieder in meine Nähe zu kommen… Solltet ihr dennoch auftauchen, werde ich euch töten!“

Gessius blickte auf. „Wir werden sehen, wer wen…“ antwortete er und Boiuvario wusste, dass diese Feindschaft bis zum Tod hielt.

Er hätte dem Kerl seinen Dolch in die Rippen schieben sollen, statt auf Verständnis zu hoffen. Die Gelegenheit ergab sich mehrfach, allein die Verbundenheit der Segelaffen fürchtend, zögerte er. Nun war es zu spät und sich dessen gewiss, würde er öfter hinter sich blicken müssen, bis der Praeco und der Segelmeister ihre Götter trafen.

Dieser Zwischenfall zeigte einen neuen Geist. Boiuvario machte Falko zum Segelmeister und griff sich zwei der jüngeren Burschen, um aus diesen neue Matrosen zu machen. Damit war die entstandene Lücke scheinbar geschlossen. Neue Rojer würde er in Mogontiacum oder in Gaidemars Sippe finden. Er hoffte auf das Verständnis und die Hilfe des Eldermann.

Das Wetter ließ den bärbeißigen Winter ausklingen. Sie hatten Mogontiacum noch nicht erreicht, als sie von der heranwälzenden Masse gebrochener Eisschollen eingeholt wurden. Jetzt begriffen seine Männer die vom Eis ausgehende Gefahr. Um die Liburne herum schwammen alle Arten von Schollen. Kleine und Ungefährliche ebenso wie große, breite und lange, selbst riesige, ungebrochene Stücke… Auch sich auftürmende Blöcke erschienen immer zahlreicher. Der Trierarch begriff, dass ein einziges Hindernis im Fluss zu einer Eiswand aufwachsen konnte, die seine winzige Liburne zerdrückte, gelangte er dann nicht hinter einen, wie auch immer gearteten Schutz.

Also blickte er sich um und fand endlich, sowohl die Gelegenheit zum Verlassen der kräftigsten Strömung, als auch einen Schutzwall, der jeder Eismasse als unüberwindliches Hindernis erschien. Hinter der in den Fluss hineinragenden Landzunge bildete sich eine Bucht, in die das Eis nicht hineindrückte. Boiuvario hoffte, dass dies in den nächsten Tagen und Nächten so blieb und wartete in dieser Zeit auf das Abklingen der Bedrohung. Erst dann, als er sich sicher war, dass der Fluss vor und hinter ihm fast vollständig vom Eis befreit war, wagte er die Fortsetzung der Fahrt.

In Mogontiacum hielt er am Ufer des Handelshofes, um von Finley Waren aufzunehmen, neue Verpflegung zu fassen und nahm auch zwei neue Besatzungsmitglieder an Bord. Dann setzte er seine Reise flussauf, auf dem Moenus, fort. Er brachte Waren für die Hermunduren, sehnte sich nach Wilgard und hoffte auf einige geruhsame, gemeinsame Tage. Außerdem hatte ihn Gerwin mit einer Botschaft für Gaidemar beglückt, die er unbedingt sofort an den Mann bringen wollte.

Kaum ein wenig auf dem Moenus vorgedrungen, bäumte sich der Fluss gewaltig auf. Eismassen wälzten sich heran und machten die Fortsetzung der Fahrt unmöglich. Im letzten Moment gelangten sie in eine kleine Bucht, legten am Ufer an und bestaunten die Eisblöcke, die sich flussab wälzten.

Auf dem kleineren Moenus schien die Kälte etwas später zurückgegangen zu sein. Diese Vermutung lag nahe. Boiuvario aber wusste, dass der Fluss am Oberlauf zugefroren gewesen sein musste, somit erst jetzt das geschmolzene und aufgebrochene Eis flussab trieb und mit seiner Kraft hinweg hieb, was sich in den Weg stellte.

Alles Fluchen half nichts, auch die Götter schienen kein Erbarmen zu kennen. Er würde erneut Tage und Nächte warten müssen, bis eine Weiterfahrt möglich wäre. Es half nichts. Sie bauten ein Lager und brachten die Liburne in den äußersten Winkel der Bucht.

In der folgenden Nacht wurde Boiuvario vom Krachen und Bersten der Eisschollen geweckt. Ihre Nähe zum Fluss zeigte Auswirkungen. Der von dort kommende Lärm berstender Schollen, sich ständig verschiebenden Eises schwoll unmerklich an und schien sich in ihre Nähe vorwärts zu bewegen. Boiuvario lag mit offenen Augen auf seinem Lager und lauschte in den Lärm hinein.

Plötzlich sprang er auf. Er hatte begriffen. Das Eis war noch mächtiger geworden und schob Teile davon in die kleine Bucht, in der die Liburne vertäut lag. Fackeln in der Hand, rannte er zum Schiff, sah das sich türmende Eis und dessen Näherrücken. Die Gefahr für seine Liburne war greifbar. Ginge es in dieser Art weiter, würde er am Morgen kein Schiff mehr besitzen. Also stürmte er zum Buchteingang und sah sich dort an, was seiner erwartete. Auch erste Männer seiner Mannschaft tauchten, Fackeln in der Hand, auf und besahen sich die Eisbedrohung.

Was konnte er tun, um sein Schiff zu beschützen? Auf das Eis in der Buchteinfahrt besaß er keinen Einfluss. Eine kleine Landzunge ragte in den Fluss hinein. War diese doch zuvor ihre einzige Hilfe gewesen, die Bucht überhaupt zu erreichen. Jetzt staute sich genau dort das Eis in gewaltigen Blöcken, türmte sich auf, brach auseinander, schob sich aufeinander und die Landzunge trennte die Blöcke. Der größere Teil wälzte sich zurück in den Moenus. Ein Drittel der Masse aber drängte in die kleine Bucht. Wie konnte er diese Eisflut aufhalten?

Einen vorsichtigen Versuch, sich auf das Eis zu wagen, gab er schnell auf. Konnten sie die Liburne auf das Land ziehen? Würde dann aber nicht das Eis auch dorthin gedrückt, sollte es dennoch möglich sein…

Boiuvario spürte die Unruhe der herumlaufenden und fluchenden Männer. Sie lenkte ihn ab. Sein Blick schweifte über die kleine Bucht, seine Liburne am äußersten Ende, dass sich auftürmende Eis und dessen Bewegung zur Liburne hin. Dann schwenkte sein Blick zum Buchteingang. Er musterte die Breite und die Form des Eingangs und sah die Dunkelheit des Waldes, der alles Licht der Fackeln schluckte, hörte das Tosen brechenden Eises, das Zerbersten, das Knallen und Platzen und dann wusste er, wo die Lösung lag.

Ein Schrei von ihm und die Männer stürzten auf ihn zu. Schnell waren zwei Trupps gebildet, die sich mit Äxten bewaffneten und zu beiden Ufern der Buchteinfahrt bewegten. Von dort hämmerten sie gegen die Stämme der dort stehenden Bäume und fällten Baum für Baum so, dass alle Bäume, wenn sie brachen, ihre Wipfel in die Buchteinfahrt warfen. Schwitzende, schimpfende und zum Teil verzweifelt handelnde Männer mühten sich mit eisernem Willen. Weil sie die geschlagenen Bäume, mit deren letzten Teilen, noch immer verbunden mit dem Stamm beließen, türmte sich in der Einfahrt zur Bucht ein solches Gewirr von Baumwipfeln, Ästen und Zweigen auf, die zum Bollwerk für das Eis wurden. Der Strom des Eises, der einen Teil in die Bucht schieben wollte, verlangsamte sich, hielt gegen Morgen dann gänzlich an und kehrte sich letztlich um. Kaum eine neue Scholle driftete in die Bucht, Das Gewirr der Bäume verhinderte jede weitere Gefährdung.

Müde und abgekämpft sammelten sich die Männer am Feuer. Boiuvario war zur Landzunge gelaufen und machte sich ein Bild von der abgewendeten Gefahr. Die Stämme der gefällten Bäume verhinderten eine weitere Bedrohung. Er hatte sich nicht geirrt. Sie würden, wenn diese Gefahr vorbei war, die Ausfahrt wieder freilegen müssen. Noch aber sah Boiuvario kein Ende der Eismassen.

Drei weitere Tage gingen verloren und der Trierarch sah voraus, dass ein Befahren des Moenus in der Schneeschmelze ebenso gefährlich war, wie unter driftendem Eis. Auch wenn ihn die Verzögerung ärgerte, war er nicht gewillt seine Liburne zu gefährden. Erst als das Eis aufgab, wagte er das Verlassen der Bucht und die Fortsetzung der Fahrt.

Nach dem Eis kam, so wie er es erwartet hatte, das Wasser der Schneeschmelze. Wogende, brodelnde Fluten, die alles fortrissen, was nicht fest stand oder einfach in der Nähe des Wassers wuchs. Ganze Bäume, mit dem Wurzelwerk voran, begegneten ihnen und Boiuvario stieß jedes mal einen Seufzer aus, waren sie an einer erneuten Gefahr vorbeigeschrammt.

Mitgerissenes Strauchwerk, Zweige, Äste und ganze Bäume verdichteten sich zuweilen im Wasser und trieben als geschlossenes, gefährliches Hindernis mit der Strömung. Oft gelang ein Ausweichen erst im letzten Augenblick. Nachts zu fahren, war unmöglich. Dank der Götter gab es genügend kleinere Buchten, in denen die Liburne zur Nacht sicher war. Am letzten Tag, kurz vor ihrem Ziel, brachen erste Ruder. Dann krachte es am Rumpf der Liburne und ein Baum, mit mächtigem Wurzelwerk, verklemmte sich.

Nur das schnelle Handeln seiner Segelaffen bewahrte sie vor einer Katastrophe. Mit Äxten die verhakten Wurzeln durchtrennend, löste sich der Baum und trieb fort. Die Liburne erreichte, mit letzter Anstrengung, die Mündung der Salu. Kurz dahinter lag ein See, den zu befahren Vorsicht angeraten schien. Der Fluss war weit über die Ufer getreten.

Boiuvario steuerte die Liburne selbst und orientierte sich an Buschwerk und Bäumen, um in der Fahrrinne des sonstigen Flusses verbleibend, nicht irgendwo auf Grund zu laufen.

Der Fluss hatte den Uferstreifen zwischen der Lagerbefestigung und dem ursprünglichem Verlauf der Salu zu einer einzigen Wasserfläche vereint, so dass Boiuvario seine Liburne bis zum Lagertor steuerte. Das Entladen stellte sich als schwierig heraus und so gab der Trierarch es auf. Irgendwann würde das Wasser zurückgehen und wenn sie Glück hatten, dann wieder die Laufstege vorfinden oder eben neue errichten müssen. Es war ihm gleich, wenn nur seine Liburne unbeschadet überstand…

Weil die Salu ein zu gefährliches und unberechenbares Gewässer war, wich er auf die Sania aus. Zwischen mehreren Bäumen am Ufer vertäut, hoffte er auf das Überstehen jeder Flut dieses Flusses. Durch ständige Bewachung gesichert, umging er an diesem Platz tatsächlich jedweder Bedrohung. Boiuvario sollte mit seiner Vermutung, der größeren Gefahr auf der Salu, recht behalten.

Als er nach ihrer Ankunft glaubte, alles Erforderliche getan zu haben, ging er zu Wilgard. Eine stürmische Begrüßung erwartete ihn und er konnte an seinem Weib erkennen, dass sie über seine Rückkehr hocherfreut war. Was er selbst sah, war ein enormer Bauch am Weib. Wilgard war füllig geworden. Ihr Bewunderung zollend, küsste er sie zärtlich, streichelte ihren Bauch und ließ sich zu einer Bemerkung verleiten, die ihm gespielte Wut einbrachte.

„Schatz, als ich dir einst eine Distel schenkte, wollte ich aber nicht, dass du mir in einem einzigen Falle der Geburt eine ganze Mannschaft gebärst… Ich wollte das Stück für Stück …“ Weiter kam er nicht. Die Backpfeife saß.

„Schuft, der du biii…“ Danach blieb ihr die Luft weg, weil sein Kuss ihren Mund verschloss.

Als er sie los ließ, hob sie erneut ihre Hand. Doch er fing den Arm ab.

„Lass ab vom Zorn und sage mir lieber, wie dir die Bälger zu schaffen machen… Das kann doch unmöglich nur ein Kind sein… Ich nehme sie alle, wie sie kommen, nur bitte las das Schlagen… Du könntest dich überanstrengen…“ Boiuvario lachte vor Glück.

Erst jetzt wich die Anspannung von ihm. Er war müde, aber glücklich. Ihm blieb Zeit, sich seinem Weib zu widmen. Der Fluss würde ihn vorerst zum Bleiben zwingen. Doch bevor er sich der Erholung hingab, hatte er noch eine Pflicht zu erfüllen. Also machte er sich auf den Weg.

Gaidemar hieß ihn willkommen, reichte einen Becher Met und wartete auf kommende Ereignisse. Ihr Verhältnis war nicht immer gut. Es gehörte zum Handel dazu, dass man stritt, egal ob es um die Ware oder den Preis ging. Boiuvario und Gaidemar waren stur, unnahbar, hinterlistig, übervorteilend und weil es beim Handeln so zuging, fanden sie in anderer Art auch nicht zusammen.

„Was treibt Gerwin?“ ließ sich Gaidemar, das Schweigen des Anderen unterbrechend, vernehmen.

„Zieht in Eis und Schnee durch die Alpen… Kennst du sowieso nicht!“ gab der Trierarch Auskunft.

„Ist das wirklich so schlimm? Ich hörte von den Bergen…“ Gaidemar wirkte verwirrt.

„Aber gesehen hast du sie noch nicht?“ blaffte ihn Boiuvario an.

Gaidemar schüttelte sein Haupt.

„Warst du schon einmal in der Gegend aus der ich komme?“ lenkte der Trierarch ein.

„Nein!“

„Dann hast du keinen Begriff von der Höhe der Berge und auch nicht von dem gesamten Gebiet… Ritte ich in seiner Länge hindurch, brauchte ich, wäre es flaches Land, gewiss einen Mond lang. Weil aber Gipfel und Täler den Weg verlegen, würde es eher zwei Monde dauern… Selbst eine Durchquerung in anderer Richtung, den Weg der Sonne kreuzend, brauchte ich wegen der Schroffheit des Gelände, fehlender Wege etwa einen Mond… Und überall dort liegt Schnee, zumeist mannshoch im Winter und selbst im Sommer fehlt Schnee nicht… Denke nicht, dass du dort bequem laufen kannst. Jeder Schritt ist mit Mühe verbunden und je höher du kommst, desto schwerer fällt dir das Atmen. Erreichst du einen ersten Gipfel, folgt zumeist ein Tal, dann der nächste Berg und wieder ein Tal und hast du das dann, zwanzig oder dreißig mal erlebt, verzweifelst du am nächsten Anstieg… Es gibt nur wenige Wege, die an den Gipfeln vorbei, von Tal zu Tal führen oder auf bescheidener Höhe verlaufen… Glaube mir, es ist nicht schön dort zu reisen…“

„Warum tut es Gerwin dann?“ Gaidemar erschrak vor dem Bild seines inneren Auges, auch wenn er dies nur als ein Trugbild, nach gehörten Worten, schuf.

„Er will einen Krieg verhindern…“ knurrte Boiuvario. „…oder so was Ähnliches…“ fügte er an. „Außerdem muss er nicht durch das ganze Gebiet, eigentlich nur am Rande vorbei…“

„Schafft er das?“ Gaidemars Frage wurde von einer Befürchtung begleitet.

„Aber ja! Der schafft, was er sich vornimmt… Die Berge sind das kleinere Übel. Wind, Sturm, Schnee, Eis und dann die verdammten Gallier…“ Boiuvario ließ offen, was er meinte.

„Du kennst die Gallier?“

„Sicher!“ Der Trierarch lachte. „Ich bin doch auch ein Kelte und alle Gallier sind Kelten… Außerdem ging ich als junger Bursche auch diese Wege und kam in eine große Stadt am Meer… Ich soll dir von Gerwin etwas mitteilen.“ schloss Boiuvario diesen Teil ihres Gespräches ab.

Er war nicht geneigt, zu viel zu erzählen… Was gingen Gaidemar seine frühen Erfahrungen an?

„Ich soll dich an den Treverer Tutor erinnern! Er wird bald kommen. Du sollst auf jede Einzelheit achten. Der Mann ist verschlagen, hinterlistig und gefährlich!“ fügte er umgehend, der zuvor gegebenen Erklärung, an.

„Ist das alles?“ fragte Gaidemar misstrauisch.

„Ja und nein…“ grinste der Trierarch.

„Was meinst du?“ Gaidemar schüttelte fragend seinen Kopf.

„So sagte mir Gerwin, würdest du antworten…“ Das Grinsen blieb.

„…und…“

„… und dann wird dir Tutor durch die Fänge gleiten und Gerwin schneidet dir die Eier ab…“

„Was…“ fuhr Gaidemar hoch.

„Genau das sagte er voraus und ich soll dich mit deiner Wut allein lassen, denn dann würdest du das Richtige tun!“

Boiuvario schob seinen leeren Becher zurück zu Gaidemar. „Füll nach! Dein Met ist gut!“ erklärte er nachsichtig.

„Ich denke, du sollst danach gehen?“ fuhr ihn Gaidemar an, goss aber dennoch ein.

„Tust du immer, was dir Andere sagen? Dann müsste ich doch darauf verzichten, deine Verwandlung von Wut in Vernunft zu sehen…“ Boiuvario grinste.

„Du bist ein merkwürdiger Kerl… Was wäre, würde ich dir die Eier abschneiden?“

„Nichts! Wilgard ist schon schwanger und bei dem Umfang des Weibes könnten bis zu drei kleinen Boiuvarios aus ihr kriechen… Das reicht mir dann!“ grinste der Kelte. „Außerdem schaffst du das nicht ohne Hilfe…“

Gaidemar musterte den Gast. Dann lachte er, ohne auf die Antwort einzugehen. „Was hat der Bursche sonst so noch von sich gegeben?“

„Er hat geflucht, wie alle, hat meine Mannschaft herausgefordert, wollte Teile meiner Mannschaft wegjagen und noch so manchen Unsinn… Du kennst ihn doch besser als ich, oder?“

„Früher glaubte ich dies, jetzt aber, bin ich mir nicht sicher… Er hat sich sehr verändert…“ Der Eldermann wurde nachdenklich.

„Nein, er ist noch immer, wie du ihn gebogen hast… Nur seine Umgebung veränderte sich und er hat sich angepasst. Du kennst das nicht und deshalb wirkt er jetzt fremd auf dich! Gerwin ist der Kerl, den du aus ihm gemacht hast… Nur haben die Römer, ich und auch Andere noch ein wenig nachgeholfen… Sieh es mal von dieser Seite! Am Anfang war mir der Bursche so gleichgültig, dass ich ihn hätte sehr leicht zu seinen Göttern geschickt… Jetzt aber, sollte der mich fürchten, der Hand an ihn legt…“ Boiuvario sprach mit offenen und herzlichen Worten. Der Trierarch hatte ausgesprochen, was er zu sagen vorhatte. Er erhob sich, trank seinen Becher aus und dankte dem Gastgeber.

„Vergiss Tutor, den Treverer nicht und sei ruhig wütend auf deinen Zögling…“ Dann ging Boiuvario.

Die Legende vom Hermunduren

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