Читать книгу Tru & Nelle - G. Neri - Страница 11
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Eine knappe Sache
Das Gehupe und die quietschenden Reifen erschreckten sie beide fast zu Tode. Plötzlich starrten sie in zwei Scheinwerfer.
«Truman! Da bist du ja!»
Truman blinzelte und sah schemenhaft, wie sich eine Gestalt in dem Cabriolet aufrichtete, die nun durch den hochgewirbelten roten Staub in seine Richtung spähte.
«Daddy?», fragte er wie unter Schock.
Nelle ließ seinen Arm los. Vor Schreck hatte sie sich in die Hose gemacht.
Während sie mit rotem Kopf dastand und nicht wusste, was sie als Nächstes tun sollte, ging Truman um den Wagen herum zur Beifahrerseite. Sein Vater trug einen Panama-Strohhut und grinste von einem Ohr zum anderen.
«Daddy», sagte Truman atemlos.
«Komm, mein Sohn», sagte der und öffnete die Beifahrertür. «Wir müssen los. Jetzt.»
Truman stieg ein und warf sich seinem Vater in die Arme.
Der drückte ihn fest an sich, blickte aber nervös um sich. «Ich wollte dich überraschen. Bist du überrascht?»
Truman nickte und traute seinen Augen nicht. Zwei Monate hatte er den Vater nicht gesehen.
«Ich würde schon sagen, dass er überrascht ist!», sagte Nelle, deren Verlegenheit sich in Zorn verwandelt hatte. «Wo haben Sie denn bloß gesteckt? Also, wenn mein Daddy mich jemals so lange allein lassen würde, dann –»
«Wer ist denn dein reizender Freund, Truman?», fragte er. «Er scheint ein temperamentvoller Bursche zu sein.»
Da wurde Nelles Gesicht noch eine Spur röter. «Ich bin eine Sie, verdammt! Nur weil ich kein Kleid anhabe, heißt das nicht, dass ich keins anziehen könnte!»
Trumans Daddy tippte an seinen Hut. «Tja, dann musst du wohl die Königin der burschikosen Mädchen sein, was, Schätzchen?» Er stieß Truman mit dem Ellbogen an. «Lass dich nie mit einer temperamentvollen Frau ein, Tru. Das habe ich bei deiner Mutter gelernt. Jetzt müssen wir aber wirklich los –»
Truman schoss vor Aufregung in die Höhe. «Ist Mutter auch hier?»
Sein Vater ließ den Motor an. Es knirschte grässlich, als er den Gang einlegte. «Mehr oder weniger …»
Truman sah ihn mit dem Blick eines Hundewelpen an. «Bedeutet das, dass wir alle zusammen nach Hause fahren werden?»
Sein Vater wurde blass. «Wir haben Familienangelegenheiten zu besprechen, Truman. Lass uns erst einmal zum Haus fahren.»
Der Mann tippte nochmal in Nelles Richtung an seinen Hut. «Nett, dich kennengelernt zu haben, kleiner Hosenmatz. Mein Name ist Archulus Persons.»
Nelle blinzelte. «Einen Moment mal … Archulus?»
Er gab ordentlich Gas und ließ Nelle einfach auf der Straße stehen.
«Freut mich, dass du Freunde gefunden hast», sagte Arch, während er rasch von der Hauptstraße abbog und eine leere Gasse hinauffuhr. Dabei machte er einen nervösen Eindruck.
«Bringst du mich nach Hause?», fragte Truman.
Arch räusperte sich und begann stockend zu sprechen: «Truman … ich weiß, dass das für dich alles nicht leicht war, mein Sohn. Und wenn deine Mutter nicht so stur wäre, dann wären wir auch längst alle wieder zusammen. Aber sie hat diese Idee, in eine teure Großstadt wie New York zu ziehen … weil sie uns für Millionäre hält!» Er stöhnte. «Ach, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.»
Eine Weile fuhren sie schweigend. Truman hatte so viele Fragen. Dann platzte diese aus ihm heraus: «Wieso haben die dich im Gericht gesucht?»
Archs Augenbrauen schossen in die Höhe. «Wovon redest du, mein Sohn? Warum sollte man den guten alten Archulus in einem Gericht suchen?»
«Das hab ich mich auch gefragt. Aber als der Richter im Gerichtssaal deinen Namen aufgerufen hat –»
Archs Gesicht lief dunkelrot an. «Oooh … das. Das war gar nichts. Nur ein Missverständnis drüben in Burnt Corn – oder war es in Cobb Creek? War da auch eine Frau, die aussah, als käme sie aus Indien?»
Truman überlegte und erinnerte sich an so eine Frau. «In gold-schwarzen Gewändern?»
«Genau die. Das war die Witwe des Großen Hadjah. Leider.» Er blickte nervös über seine Schulter. «Gott schenke ihm die ewige Ruhe.»
«Wer ist das?», fragte Truman.
Arch tat ungläubig. «Du meinst, du hast noch nie von ihm gehört, von dem Großen –» Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. «Natürlich nicht. Er hat das Zeitliche gesegnet, bevor wir die Chance zu einer Vorstellung hier in der Stadt hatten.»
Trumans Augen begannen zu strahlen. «Betreibst du ein Varieté?»
Arch grinste. «Varieté ist noch untertrieben. Es ist eher eine Extravaganza. ‹Lebendig begraben!›», verkündete er wie der legendäre Zirkusdirektor P. T. Barnum höchstpersönlich. «Das größte Wunder unserer Tage!»
«Du hast ihn lebendig begraben?»
«Das hättest du sehen sollen, Tru. Ich habe diesen ägyptischen Burschen drüben in Mississippi gefunden. Er konnte die Luft richtig lange anhalten. Dabei senkte er seinen Puls, bis er für Stunden in so eine Art Winterschlaf fiel!»
«Wirklich?», fragte Truman fasziniert.
«Tja, zumindest eine Stunde lang. Er trat wie ein indischer Prinz gekleidet auf, und dann begruben wir ihn für eine Stunde in einem Sarg mitten auf dem Marktplatz! Die Leute waren außer sich und wetteten, dass er niemals die ganzen sechzig Minuten durchhalten würde. Aber das tat er. Hat ein Vermögen damit gemacht!»
«Und was ist dann mit ihm passiert?»
Arch wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Tja, bei der letzten Show lockten wir eine so große Menge an, dass bis ich alles Geld eingesammelt und die Wetteinsätze aufgeschrieben hatte, fast zwei Stunden vergangen … und traurigerweise auch der Große Hadjah von uns gegangen war.»
«Du meinst … er war gestorben?»
Arch nickte düster. «Wie sich rausstellte, war eine Stunde ungefähr die maximale Zeit, die er aushielt. Aber wer hätte das wissen können? Armer Kerl. Leider hab ich dadurch auch alles verloren. Und jetzt versucht diese Frau, mich auf den Anteil ihres Mannes zu verklagen. Lächerlich! Er war schließlich derjenige, der immer damit angab, wie lange er es unter der Erde aushalten würde. Aber wer ist am Ende immer der Dumme? Der gute alte Arch natürlich.»
Er hielt neben dem Zaun aus Tierknochen hinter dem Haus von Großcousine Jenny und stellte den Motor ab. Der Wagen kam klappernd zur Ruhe. Einen Moment lang saß Arch nur da und blickte zum Haus. «Hör zu, Truman, kein Wort davon zu deiner Mutter. Sie ist sowieso schon wütend genug auf mich. Da braucht sie nicht zu wissen, dass wir vielleicht sogar noch mehr verlieren. Aber ich werde es wiedergutmachen. Ich habe schon einen neuen Plan. Es gibt da diesen Boxer –»
Doch da war Truman schon ausgestiegen und rannte aufs Haus zu. Er hatte dieses überwältigende Gefühl, dass, wenn seine Mutter erst sein Gesicht sähe und merkte, wie sehr sie ihn vermisst hatte, die Familie vielleicht endlich wieder vereint sein würde.