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1.

Ein doppelter Irrtum

Monroeville, Alabama – Sommer, irgendwann während der Weltwirtschaftskrise

Als Truman Nelle das erste Mal sah, hielt er sie für einen Jungen. Sie beobachtete ihn wie eine Katze. Und zwar thronte sie auf einer brüchigen Mauer, die ihre weitläufigen Grundstücke voller alter Bäume voneinander trennte. Barfuß, in einer Latzhose und mit einem burschikosen Haarschnitt sah Nelle ungefähr so alt aus wie er, aber er konnte es nicht genau sagen. Denn er bemühte sich, nicht hinzustarren, und tat so, als würde er in seinem Buch lesen.

«Hey, du», sagte sie schließlich.

Truman schaute von den Seiten auf. Er saß reglos in seinem kleinen weißen Matrosenanzug in einem Korbstuhl auf der seitlichen Veranda des Hauses seiner ältlichen Verwandtschaft.

«Meinst du … meinst du mich?», sagte er mit hoher, dünner Stimme.

«Komm her», befahl sie.

Truman zupfte verlegen an seiner Stirnlocke und warf einen Blick über die Veranda Richtung Küchenfenster. Drinnen bereitete Sook, seine uralte (um drei Ecken verwandte) Großcousine, gerade ihre geheimnisvolle Medizin gegen Wassersucht und Rheumatismus zu. Normalerweise behielt Sook Truman immer im Auge. Aber momentan summte sie gedankenverloren ein Lied vor sich hin.

Truman stieg von der Veranda herunter, weil es ihn interessierte, wer dieser kleine Junge war. Seit er vor zwei Wochen in das Haus seiner Großcousinen gekommen war, hatte er noch keine Freunde gefunden. Es war Frühsommer und er sehnte sich danach, mit den vorbeilaufenden Jungen zu spielen, die auf dem Weg zum Schwimmteich waren. Also strich er seinen weißen Anzug glatt und spazierte langsam an den Spalieren der Glyzinien und Quitten vorbei, bis er zu der Mauer kam.

Truman war verblüfft. Er verzog das Gesicht. Nelles kurze Haare und die Latzhose hatten ihn in die Irre geführt. «Du bist … ein Mädchen?»

Nelle starrte ihn nur umso bohrender an. Trumans hohe Stimme, das weißblonde Haar und der Matrosenanzug hatten auch sie auf die falsche Fährte gelockt. «Du bist ein Junge?», fragte sie ungläubig.

«Ja, natürlich, Dummerchen.»

«Hmmpf.» Nelle sprang von der Mauer und landete direkt vor ihm. Sie war einen ganzen Kopf größer als er. «Wie alt bist du?», fragte sie.

«Sieben.»

«Du riechst komisch», stellte sie sachlich fest.

Er schnupperte an seinem Handgelenk, während er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. «Das kommt von der Parfümseife, die meine Mutter mir aus New Orleans mitgebracht hat. Und wie alt bist du

«Sechs.» Sie schaute auf seinen Kopf und legte dann eine Hand darauf, wobei sie seine Stirnlocke platt drückte. «Wieso bist du so ein Knirps?»

Truman stieß ihre Hand weg. «Weiß ich nicht … Und wieso bist du so … hässlich?»

Nelle schubste ihn mitsamt seinem Buch auf die Erde.

«Hey!», schrie er mit knallrotem Gesicht. Sein schöner Anzug war schmutzig geworden. Wutschnaubend schob er den Unterkiefer vor (wo zwei Schneidezähne fehlten) und schaute sie finster an. «Das darf man nicht.»

Sie grinste. «Du siehst gerade aus wie eine der Bulldoggen vom Sheriff.»

Er zog seinen Kiefer wieder zurück. «Und du siehst aus wie–»

«Was um alles in der Welt hast du da überhaupt an?», fiel sie ihm ins Wort.

Eigentlich konnte sie selbst sehen, dass er seinen Sonntagsstaat mit dazu passenden Schuhen trug. «Man sollte immer bestmöglich aussehen, sagt meine Mutter», stieß er hervor und hatte Mühe, wieder auf die Beine zu kommen.

Sie kicherte. «Ist deine Mutter ein Admiral?»

Dann warf sie einen Blick auf das Buch, das immer noch auf dem Boden lag, und fing an, es mit ihrem nackten Fuß anzustupsen, bis sie den Titel erkennen konnte – Die tanzenden Männchen: Eine Sherlock Holmes Detektivgeschichte.

«Du kannst lesen?», fragte sie.

Truman verschränkte die Arme. «Natürlich kann ich lesen. Und ich kann auch schreiben. Meine Lehrerinnen mögen mich nicht, weil ich die anderen dumm dastehen lasse.»

«Mich kannst du nicht dumm dastehen lassen», sagte sie, schnappte sich das Buch vom Boden und sah sich dessen Rückseite an. «Ich kann auch lesen, dabei gehe ich erst in die erste Klasse.»

Damit drehte sie sich um und kletterte zurück auf die Mauer.

«Hey, mein Buch!», protestierte er. «Ich hab nicht gesagt, dass du es haben kannst!»

Sie hielt inne und musterte Truman, bis irgendetwas hinter ihm ihre Aufmerksamkeit erregte. Sook wedelte Rauch durchs Küchenfenster hinaus. Erst kniff Nelle die Augen in Sooks Richtung zusammen, dann sah sie wieder ihn an. «Sag mal, Miss Sook ist nicht deine Mama – dafür ist sie viel zu alt. Und ich weiß, dass ihr Bruder Bud auch nicht dein Pa ist. Wo stecken eigentlich deine Eltern?»

Truman blickte zum Haus zurück. «Sie ist meine Großcousine mütterlicherseits», sagte er. «Genau wie Bud und Jenny und Callie.»

«Ich hab mir schon immer gedacht, wie seltsam das ist, dass keiner von ihnen je geheiratet hat oder so», sagte Nelle und beobachtete Sook wieder. «Und jetzt wohnen sie immer noch alle zusammen, genau wie damals, als sie noch Kinder waren – obwohl sie so alt sind wie meine Granny.»

«Das liegt an Großcousine Jenny. Sie ist die Chefin von uns allen. Führt den Hutladen und den Haushalt gleichzeitig – und sie sorgt dafür, dass wir alle in der Familie bleiben.»

«Na schön, aber warum wohnst du hier?», fragte Nelle.

«Ich bleibe nicht lange hier. Mein Daddy ist weg, um sein Glück zu machen. Er ist ein … Entre-pre-nöör, wie er das nennt. Ich arbeitete mit ihm auf den Dampfern, die den Mississippi rauf und runter schippern, aber dann hat der Kapitän gesagt, ich muss gehen. Deshalb passen jetzt Sook und die anderen auf mich auf.»

«Warum haben die dich denn von einem Dampfer geschmissen?»

«Weil …» Er überlegte genau. «Weil ich zu viel Geld verdient habe», sagte er schließlich und zupfte an seinem übergroßen Kragen. «Weißt du, mein Daddy hat mich zur Unterhaltung mit an Bord genommen. Ich habe immer Stepptanz gemacht, wenn dieser farbige Typ, Satchmo Armstrong, Trompete spielte. Dann warfen die Leute mir so viel Geld zu, dass der Kapitän wütend wurde und gesagt hat, ich muss weg!»

Nelle wirkte skeptisch. «Du lügst. Oder zeig mal, wie du tanzen kannst.»

Truman blickte auf die weiche Erde, in der er stand. «Das kann ich hier nicht. Man braucht einen Holzboden zum Steppen. Außerdem habe ich meine Tanzschuhe nicht an.»

Nelle betrachtete seine Kleider. «Wer hat dich überhaupt diese komischen Klamotten gesteckt?», fragte sie.

«Die hat meine Mama in New Orleans gekauft. Von da kommen wir.»

Kein Junge, den sie kannte, trug je so etwas. «Na ja, da unten in New Or-liiiiins ziehen die Leute sich echt komisch an. Ist deine Mama jetzt dort?», fragte sie.

Truman schaute auf seine Schuhe. «Vielleicht.»

«Vielleicht? Ja, zum Kuckuck, warum bist du denn nicht bei ihr?», fragte sie.

Truman zuckte mit den Achseln. Darüber wollte er nicht reden.

«Wie du willst», meinte Nelle. «Sag mal, wie heißt du überhaupt?»

«Truman. Und du?»

«Ich bin Nelle. Nelle ist Ellen von hinten buchstabiert. So heißt meine Granny. Hast du auch einen Mittelnamen?»

Truman wurde rot. «Vielleicht. Und du?»

«Harper. Und du?»

Truman wurde noch ein bisschen röter. «Äh … Streckfus», sagte er sehr verlegen.

Nelle sah ihn verblüfft an, also erklärte Truman: «Mein Daddy hat mich nach der Firma benannt, für die er gearbeitet hat – die Streckfus Dampfschiff Company.»

Nelle verbiss sich ein Lachen. «Also, war das mit dem Boot wohl doch kein Scherz.» Sie wollte noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anscheinend anders. «Okay, dann. Man sieht sich.»

Sie sprang auf ihrer Seite von der Mauer.

«Hey! Was ist mit meinem Buch?», rief er ihr nach.

Doch sie rannte schon auf ihr Haus zu. «Kriegst du zurück, wenn ich damit durch bin, Streckfus!»

Nachdem er selbst ins Haus zurückgekehrt war, erzählte Truman der alten Sook von seiner seltsamen Begegnung mit Nelle. Die schüttelte nur den Kopf. «Armes Kind. Ihr Daddy arbeitet die ganze Zeit und ihre Mama … na ja, die ist ein bisschen krank im Kopf.»

«Wie meinst du das?», fragte er.

Sook blickte zu Nelles Haus hinüber und fuhr sich mit den Händen durch ihr immer dünner werdendes graues Haar. Sie war klein und zierlich, aber voller Leben – und in ihren Ansichten unerschütterlich. «Ihre Mama benimmt sich manchmal wirklich eigenartig – läuft durch die Straßen und erzählt Leuten die seltsamsten Dinge. In manchen Nächten spielt sie um zwei Uhr morgens auf der Veranda Klavier und weckt die ganze Nachbarschaft auf. Manche sagen, sie macht das, um die Stimmen in ihrem Kopf zu übertönen.»

«Kann sie nicht etwas von deiner entwässernden Medizin dagegen nehmen?», fragte Truman.

Sook schüttelte den Kopf. «Manche Dinge lassen sich nicht heilen – nicht mal von meinem Spezial-Zauber-trank.» Sie beugte sich hinunter und flüsterte ihm zu: «Manchmal vergisst ihre Mama, Abendessen zu kochen, dann kriegen der arme Mr. Lee und seine Kinder nur Wassermelone zu essen!»

Kein Wunder, dass Nelle sich seltsam benahm.

An diesem Abend ging Truman seine Büchersammlung durch und suchte eines für Nelle aus. Ein Abenteuer der Rover Boys. Es hieß: Das Geheimnis des gesunkenen U-Boots.

Das wird ihr gefallen, dachte er. Dann legte er es für sie oben auf die Mauer.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war das Buch fort.

Tru & Nelle

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