Читать книгу Tru & Nelle - G. Neri - Страница 8
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Insel der Merkwürdigen
Truman nahm Nelle mit in das große, weitläufige Haus, das mit allen möglichen schönen Dingen dekoriert war, die seine Großcousine Jenny über die Jahre gesammelt hatte: uralte Papierrosen, zierlicher Nippes in jeder Form und Größe, Glasvitrinen mit feinem Porzellan und Silber aus der ganzen Welt.
Vorbei an zwei majestätischen Säulen, die bis zur hohen Decke hinaufreichten, durchquerten sie die kleine Eingangshalle. Im Esszimmer saß Jenny über ihrem Wirtschaftsbuch. Obwohl sie schon über fünfzig war, sah sie mit ihrer milchweißen Haut und dem zu einem Knoten aufgesteckten rötlichen Haar immer noch hübsch aus.
Jennys eisblaue Augen musterten sie über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. «Guten Morgen, Miss Nelle. Wie geht’s deiner Mutter?»
Truman mischte sich ein. «Darüber sollen wir nicht sprechen, Großcousine Jenny. Weil sie doch … du weißt schon, verrückt ist», flüsterte Truman eine Spur zu laut.
Jenny runzelte die Stirn. «Du darfst unserem Truman nicht böse sein, Liebes. Auch wenn er ein schlaues Kerlchen ist, kann er manchmal ziemlich … unhöflich sein.»
«Das ist schon in Ordnung, Miss Jenny», sagte Nelle und sah sich bewundernd um. «Truman wollte mir nur ein neues Buch ausleihen, Ma’am.»
Jenny lächelte. «Wie schön, Liebes.» Erst da bemerkte sie, wie schmutzig Nelle war. Seufzend widmete sie sich wieder ihrer Buchhaltung. «Tja, diese Bücher möchtest du jedenfalls nicht lesen, das kann ich dir versichern. Aber sie halten unsere Finanzen in Ordnung, damit ich die Rechnungen bezahlen kann, um mein Hutgeschäft zu betreiben und damit dieses Haus schuldenfrei bleibt.»
Truman zog Nelle weiter in den Flur, den Regale mit ledergebundenen Büchern in allen Farben vom Fußboden bis zur Decke säumten. Nelle staunte. So viele Bücher hatte sie noch nie gesehen.
«Nicht die hier, Dummerchen», sagte Truman. «Das sind langweilige Erwachsenenbücher. Die richtig guten habe ich in meinem Zimmer.»
«Psst, Tru.»
Es war sein alter Großcousin Bud, der den Kopf aus seiner Zimmertür steckte. Bud hatte schneeweißes Haar und gelbliche Zähne von dem vielen Tabak, den er rauchte. «Lust auf eine Partie Karten, kleiner Kumpel?»
«Jetzt nicht, Bud. Ich habe Besuch.»
Bud sah Nelle und nickte ihr zu. «Morgen, Miss Nelle. Wie geht’s deiner –»
Truman fiel ihm ins Wort. «Ich schaue später vorbei und vielleicht können wir dann Quartett spielen, ja?»
Bud zwinkerte ihm zu. «Alles klar, kleiner Kumpel.» Damit schloss er die Tür zu seinem verrauchten Zimmer.
Nelle rümpfte die Nase. «Dieser Tabak riecht seltsam.»
«Das ist medizinischer … gegen sein Asthma. Komm weiter.»
Er führte sie über den Flur zu seinem Zimmer. Aber gerade als er die Tür aufmachen wollte, schwang die Tür genau gegenüber auf. Darin stand seine Großcousine Callie. Callie war Lehrerin, streng gekleidet, mit kohlschwarzem Haar und schmalen grauen Augen.
«Was hast du denn vor, junger Mann?», sagte sie und musterte ihn. «Hast du deine Aufgaben erledigt?»
Truman verschränkte die Arme und richtete sich groß auf. «Nein, Ma’am. Weil nämlich Sommer ist. Und weil du nicht meine Mutter bist!»
«Du impertinenter Wicht – ich hab ja gesagt, dass du nichts als Ärger machen wirst, sobald du einen Fuß in dieses Haus gesetzt hast», schnaubte sie. «Wenn du eine Mutter hättest, die sich um dich kümmern würde, dann würden wir uns nicht um dich kümmern müssen! Was du brauchst, wäre ein ordentlicher Schlag mit dem Stock auf dein Hinterteil –»
Truman lachte. «Wenn du mir nur ein Haar krümmst, wird Jenny dich mit dem Stock verhauen!»
Callie schnappte nach Luft.
Nelle räusperte sich.
Callie hatte gar nicht bemerkt, dass Nelle auch da stand. «Miss Nelle.» Nelles schmutzige Gestalt schien sie nicht zu beeindrucken und sie zögerte auch nicht, das laut auszusprechen. «Ich habe Schüler mit so viel Dreck in den Ohren, dass man Mais darin anbauen könnte. Aber sie arbeiten auf den Farmen. Was für eine Entschuldigung hast du vorzubringen?»
«Kümmer dich gar nicht um sie, Nelle. Sie langweilt sich bloß wie ein Stück Brot, weil sie im Sommer keine Schüler hat, die sie rumkommandieren kann», sagte er. «Aber wenn du es wissen willst, Großcousine Callie, wir gehen jetzt in mein Zimmer und schauen uns Bücher an!»
Schnell zog Truman Nelle in sein Zimmer, bevor Callie noch irgendetwas dazu sagen konnte. Mit ihr zu streiten, war sowieso ein sinnloses Unterfangen.
Er machte die Tür hinter ihnen zu. «Endlich!», sagte er. «Hier schlafe ich.»
Nelle sah sich um und steuerte sofort auf ein kleines Regal zu, in dem alle möglichen Kinderbücher standen. «Donnerwetter», sagte sie beeindruckt. «Wer braucht eine Bibliothek, wenn er die alle hat?»
Sie legte den Kopf schräg, um die Titel entziffern zu können. «Welches Buch soll ich als Nächstes lesen?», fragte Nelle.
«Tja, was gefällt dir denn? Abenteuer? Fantasiegeschichten?» Er versuchte, ihren Geschmack zu erraten. «Warte mal. Ich weiß, was genau das Richtige …»
Er trat an sein Bett, griff unters Kopfkissen und zog ein schmales grünes Buch darunter hervor. «Das habe ich gerade ausgelesen. Sherlock Holmes, Der Mann mit dem geduckten Gang», sagte er und gab es ihr.
Nelle betrachtete die Umrisse des Pfeife rauchenden Sherlock Holmes auf dem Einband. «Kommt Watson da drin auch vor?»
«Selbstverständlich! Die beiden sind ein Team. Jeder weiß doch, dass beim Lösen von Kriminalfällen zwei Köpfe besser sind als einer.»
Nelle zuckte nur mit den Achseln und schob das Buch vorsichtig in die vordere Tasche ihrer Latzhose. Erst dann bemerkte sie das zweite Bett neben Trumans.
«Das ist eigentlich Sooks Zimmer», sagte er. «Sie haben mich nur hier einquartiert, bis ich wieder zu meiner Familie nach Hause gehe. So leiste ich ihr Gesellschaft, dem armen alten Ding.»
Nelle nickte. «Ich muss mir ein Zimmer mit meinen großen Schwestern Bär und Weezie teilen.»
«Du hast eine Bärin als Schwester?», fragte er.
«Nein, Dummerchen, wir nennen sie nur so. Sie ist fünfzehn Jahre älter als ich und so groß wie ein Bär.»
«Ich wünschte, ich hätte Schwestern, über die ich mich beklagen könnte», sagte er.
«Nein, das wünschst du dir nicht. Du hast es doch perfekt – schläfst mit deiner besten Freundin im Zimmer und hast Bücher gleich neben dem Bett. Das ist doch … himmlisch.»
Sie betrachtete verträumt das Regal und strich mit einem Finger über die Buchrücken: Tom Swift in Gefangenschaft, Das Geheimnis der Alten Mühle aus der Hardy Boys Serie, Nancy Drews Die verborgene Treppe.
«Manchmal wünschte ich mir, meine Schwestern würden verschwinden und mich in Ruhe lassen.» Sie seufzte.
«Denkst du das wirklich?», fragte er.
Sie wurde nachdenklich. «Sie machen sich immer lustig über mich. Sagen, dass Mama mich unter einem Stein gefunden hätte und ich nicht wirklich zur Familie gehören würde, weil sie ja so viel älter sind als ich. Ich hab Daddy danach gefragt, und er hat gesagt, das stimme überhaupt nicht.»
«Du hast Glück, einen Daddy zu haben, der auf deiner Seite ist …», sagte Truman, auch wenn Nelle ihm nicht wirklich zuhörte.
Sie starrte aus dem Fenster. «Als sich letzte Woche beim Murmelspielen drei Jungs über mich lustig gemacht haben, hielt ich es einfach nicht mehr aus, also musste ich sie zum Heulen bringen.»
«Wie denn?», fragte Truman.
«Indem ich ihre Gesichter in den Dreck gedrückt hab. Und weißt du, was meine Schwestern dann gemacht haben? Sie haben sich auf die Seite der Jungs gestellt! Ist das zu fassen?»
Truman wusste, wie es sich anfühlte, unerwünscht zu sein. «Ist das dein Zimmer da drüben? Mit dem Fenster neben der Hausecke?»
Sie nickte.
«Na gut, ich sag dir was. Wenn deine Schwestern sich jemals wieder gegen dich verbünden, dann gib mir ein Zeichen und dann schleich ich mich ans Fenster und erschreck sie zu Tode!» Truman kicherte voller Vorfreude.
Nelle gluckste. Irgendwie mochte sie diesen seltsamen kleinen Jungen. «Danke, Tru.»