Читать книгу Tru & Nelle - G. Neri - Страница 9

Оглавление

4.

Zu heiss für Heckmeck

Ich glaube, ich schmelze», jammerte Truman mit seiner unverwechselbaren Singsang-Stimme. Nachdem sie stundenlang Piraten, Ritter der Tafelrunde, zwei Runden Murmeln und dreimal Jacks gespielt hatten, gingen ihnen die Ideen aus, was sie machen könnten.

Schwitzend und schläfrig ließen er und Nelle sich in den Schatten der Muskateller-Weinlaube plumpsen, wo es kühl war und ein Lüftchen wehte. Sie fächelten sich mit dem Kreuzworträtsel aus dem Monroe Journal Luft zu, das sie heute Morgen auch schon gelöst hatten.

«Die Wirklichkeit ist so langweilig! Ich wünschte, in diesem Ort würde wenigstens einmal irgendwas Aufregendes passieren. Jetzt bin ich schon über einen Monat hier, und es ist mit New Orleans überhaupt nicht zu vergleichen.»

«Tja, vielleicht ist es nicht so aufregend wie New Orleans», sagte Nelle. «Aber hier passieren trotzdem auch Sachen. Erst neulich ist wegen diesem schwarzen Jungen namens Edison eine ganze Menschenmenge auf dem Marktplatz zusammengelaufen, weil er alles nachmachen konnte, was man ihm sagte. Er konnte Vögel und Pferde imitieren, Mr. Barnett und sein Holzbein, die Baumwollentkörnungsmaschine, einfach alles. Ich hab ihn gebeten, den Postzug nachzumachen, und sofort fing er an, mit den Füßen über die Erde zu schlurfen, zu tuckern und zu tuten, wie eine Eisenbahnpfeife! So was sieht man nicht alle Tage!»

Truman ließ sich nicht beeindrucken. «Ich schätze, wir könnten runter zum Drugstore gehen und nochmal ein paar Süßigkeiten umsonst bekommen.» Er drehte die Augen in seinem Kopf nach hinten und begann zu zucken und zu rucken, als hätte er Krämpfe.

«Lass das. Wegen dir hat Mr. Yarborough beinah einen Herzanfall gekriegt. Sein Sohn ist Epileptiker, weißt du? Und ich glaube, er weiß genau, dass Krämpfe nicht mit Bonbons weggehen.»

«Er hat uns trotzdem Lakritze geschenkt.»

«Ja, um uns loszuwerden.»

Truman setzte sich auf. «Wir brauchen irgendein Großstadt-Abenteuer. So was wie … stell dir vor, jemand würde verschwinden. Oder es gäbe einen Mord in der Stadt! Dann hätten wir wirklich was zu tun.»

Nelle starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. «Was zum Kuckuck hätten wir denn mit einem Mord oder einer Entführung zu tun?»

«Na ja, den Fall lösen, natürlich. Wir könnten Detektive sein.» Er schnippte mit den Fingern. «Ich könnte Sherlock sein und du Watson! Das Gehirn und die Muskeln. Guck mal!» Er tat so, als würde er Pfeife rauchen.

«Warum kann ich denn nicht – ach, egal. Hier wird sowieso nie jemand ermordet. Mensch, sogar als General Lee höchstpersönlich nach Monroeville kam, hat er es den langweiligsten Ort der Erde genannt!»

Sie starrten beide in den tiefblauen Himmel von Alabama und zählten die kleinen weißen Baumwollbüschel, die aus der Baumwollentkörnungsmaschine durch die Stadt wehten.

«Also, da hat er mal recht gehabt», sagte Truman schließlich. «Ich schätze, es ist zu heiß für Heckmeck. Der einzige Ort, wo wahrscheinlich was los ist, das ist der Schwimmteich bei der Hatter-Mühle. Wir könnten schwimmen gehen und uns wenigstens abkühlen. Es ist zwar nicht Lake Pontchartrain, aber besser als nichts.»

Nelle verzog das Gesicht. «Da willst du nicht wirklich hin.»

Trumans Augen begannen zu leuchten. «Warum nicht? Gibt’s da Alligatoren? Ist es gefährlich

Nelle wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie kannte die Jungs, die sich bei der Mühle herumtrieben. Billy Eugene und seine Kumpel würden einen Jungen wie Truman gnadenlos verprügeln. Und das Wenigste, was sie tun konnte, war, ihm solchen Ärger zu ersparen.

«Nein, es ist nur …» Ihr fiel keine gute Ausrede ein.

«Was denn?» Neugierig legte er den Kopf schräg. «Du bist doch kein Hasenfuß, oder? Kannst du vielleicht nicht schwimmen?»

Nelle war gekränkt. «Nein, ich bin kein Hasenfuß und ich kann sicher besser schwimmen als du!» Sie wollte ihn mit durchdringendem Blick zum Wegsehen zwingen. Er lächelte sie aber nur an.

«Schön, dann lass uns hingehen», sagte sie. «Aber nur unter einer Bedingung.»

«Und die wäre?», fragte er unschuldig.

«Du musst dir was … Normaleres anziehen.»

«Was Normaleres?», wiederholte Truman und blies sich die langen feinen Ponysträhnen aus den Augen. «Seit wann macht normal denn Spaß? Ich meine, schau dich doch selbst an. Du bist ein Mädchen und ziehst dich an wie ein Junge!»

Nelle zupfte an ihrer Latzhose. Sie wusste, dass es sinnlos wäre, ihm zu widersprechen. Truman war nur ein Jahr älter als sie, aber er benahm sich, als wäre er schon erwachsen. «Schön», sagte sie. «Aber dann gib nicht mir die Schuld, wenn irgendwelche Jungs dich vom Dach der alten Mühle werfen. Du musst immer irgendwie … anders sein.»

Truman grinste wie ein schelmischer Kobold, der einen Streich ausheckte. «Wer, ich? Was kann ich dafür, wenn ich ein … Trendsetter bin.» Er wartete auf eine Reaktion von Nelle, die sich einfach weigerte, bei seinem kleinen Wörterbuchspiel mitzumachen. Er zückte trotzdem sein Mini-Wörterbuch und schlug es auf einer markierten Seite auf. «Das bedeutet ‹auf Neuerungen aus seiender Pionier› –»

«Ach, ist mir doch egal, was es bedeutet, Streckfus», sagte sie und tat so, als interessiere er sie überhaupt nicht.

Truman schob die Unterlippe vor und schmollte. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. «Wie du willst, Nä-lie Haar-perr!»

Sie streckte ihm die Zunge raus und er zuckte mit den Schultern.

«Na gut, dann los, zieh dich um», sagte sie. «Wir treffen uns da drüben, du alter … Leithammel

Truman kicherte. Nelle war der einzige Mensch, den er kannte, der genauso gut wie er mit Wörtern umgehen konnte.

Natürlich waren an diesem Nachmittag alle am Teich bei der Hatter-Mühle. Billy Eugene, Hutch, Doofie und Twiggs Butts blödelten herum, sprangen kopfüber ins Wasser und schrien den anderen Kindern ständig irgendwas zu. Die mädchenhaften Mädchen, die Angst hatten, sich das Haar nass zu machen, gaben niedliche Bemerkungen zurück und versuchten, sie dazu zu bringen, dass sie vom Dach der Mühle sprangen. Nelle blieb für sich und watete durch das kühle Wasser am Ufer, wo Fische sie an den Beinen kitzelten.

Plötzlich wurde alles still. Nelle blickte auf und sah Edison, den schlaksigen Jungen mit besonders dunkler Haut. Sie fand, er sah wie ein richtiger Afrikaner aus. In Shorts, die aus einem alten Mehlsack genäht waren, stand er am Teichufer, tauchte seine Zehen ins Wasser und machte dazu das Geräusch eines rauschenden Bachs.

«He, Junge, was treibst da du eigentlich?», schrie Billy Eugene.

Edison blickte sich um und merkte, dass alle ihn anstarrten. «Tauche meine Zehen ein und unterhalte mich mit dem Bach», antwortete er leise.

Die Jungs lachten. «Du weißt doch, dass Farbige hier nicht erlaubt sind. Du musst rüber zum Negerteich.*»

Edison machte ein verwirrtes Gesicht. «Der Negerteich ist ausgetrocknet, seit ihr den Damm gebaut habt.» Er zeigte ein Stück weiter auf den ausgetrockneten Teil des Teichs, in dem sich nur noch eingetrockneter Schlamm befand.

«Was kann dir denn ein bisschen Schlamm schaden, Junge?», sagte Billy. «Schwärzer kannst du sowieso nicht werden!» Er und seine Freunde lachten sich darüber kaputt.

Nelle konnte sehen, wie Edison die Zähne zusammenbiss. Sie hasste das, wenn Jungs wie Billy absichtlich Kinder schikanierten, die sich nicht wehren konnten. Denn ein farbiger Junge, der einen weißen schlug? Das war nicht erlaubt. Sie wollte schon selbst rübergehen und Billy Eugene einen Schlag auf die Nase verpassen, damit er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Doch da hörte sie jemand singen.

«I found a million-dollar baby … in a five-an’-ten-cent store!» Nach dem Gesang wurde die Melodie gepfiffen und dann bog Truman um die Ecke. Unauffällig wie ein Pfau stolzierte er mit einem Sonnenschirm den Weg herunter und tat wie Der kleine Lord.

«Hey, Edison!» Er winkte und blieb stehen, damit jeder sein Badekostüm bewundern konnte.

Während die Jungs alle barfuß waren und alte Badehosen trugen, die aus abgeschnittenen langen Hosen gemacht waren, präsentierte Truman sich in einem knallroten Hawaiihemd, weißen Schwimmsandalen und einer modischen babyblauen Badehose, die seine Mutter ihm auf einer Reise nach Florida gekauft und geschickt hatte.

Nelle hatte das Gefühl, sie müsste vor Verlegenheit sterben. Als Edison Trumans Hemd anfassen wollte, wedelte dieser seine Hand scherzhaft weg. «Nicht berühren! Nur mit den Augen bewundern, so wie alle anderen auch.» Dann zwinkerte er Edison zu und flüsterte: «Jetzt komm mit mir.»

Edison folgte ihm grinsend.

Truman war klein für sein Alter, aber er hielt seinen großen Kopf hochgereckt und stolzierte so elegant wie ein schicker Prinz aus Monaco zu Nelle – was alle anderen mit staunenden Blicken verfolgten. Nelle war sich sicher, die Jungs würden ihn zusammen mit Edison in den Schlamm zerren, aber niemand sagte etwas – sie glotzten nur mit sperrangelweit aufgerissenen Mündern.

«Warum normal sein, wenn man auch Spaß haben kann?», sagte er, während er mit Edison zu Nelle watete. «So halten wir das jedenfalls in New Or-leeeens

Sie gaben ein eindrucksvolles Bild ab – der kleine Prinz, das jungenhafte Mädchen und der schlaksige schwarze Junge, der alles nachmachen konnte. In Monroeville waren sie vorläufig eine Attraktion.

Nur Truman konnte aus einem schläfrigen Samstag etwas Aufregendes machen.

*Dieser hier verwendete Begriff gehört in die Zeit und wird im Glossar erklärt.

Tru & Nelle

Подняться наверх