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KAPITEL 1 Das einzige Zuhause, das er je hatte

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Als ich durch die vergitterte Metalltür in den Sonnenschein trete, offenbart sich mir eine Kulisse wie aus einem Fellini-Film. Es ist eine Szene, die zugleich vertraut und fremd, fantastisch und authentisch ist.

Auf dem Gehweg in der Hastings Street sehe ich Eva – in ihren Dreißigern, aber immer noch wie ein verwahrlostes Kind wirkend, mit dunklem Haar und olivfarbenem Teint –, wie sie einen bizarren Kokain-Flamenco hinlegt. Sie schiebt ihre Hüften nach außen, bewegt ihren Oberkörper und ihr Becken hin und her, beugt sich in der Taille, wirft einen oder beide Arme in die Luft und bewegt ihre Füße in einer unbeholfenen, aber abgestimmten Pirouette. Die ganze Zeit verfolgt sie mich mit ihren großen, schwarzen Augen.

In Downtown Eastside ist dieses crackgesteuerte Improvisationsballett als „The Hastings Shuffle“ bekannt, und es ist ein vertrauter Anblick. Eines Tages, als ich auf meiner ärztlichen Visite in der Nachbarschaft unterwegs war, sah ich eine junge Frau, die diesen Tanz hoch über dem Verkehr in Hastings aufführte. Sie balancierte auf dem schmalen Rand eines Neonschildes zwei Stockwerke weiter oben. Eine Menschenmenge hatte sich zum Zuschauen versammelt, die Drogenkonsumenten unter ihnen mehr amüsiert als entsetzt. Die Ballerina drehte sich um sich selbst, die Arme waagerecht wie die einer Seiltänzerin, oder machte tiefe Kniebeugen – eine Kosakentänzerin der Lüfte, ein Bein nach vorne tretend. Bevor die Spitze der Feuerwehrleiter ihre Flughöhe erreichen konnte, hatte sich die bekiffte Akrobatin wieder in ihr Fenster zurückgezogen.

Eva bahnt sich ihren Weg zwischen ihren Gefährten durch, die sich um mich drängen. Manchmal verschwindet sie hinter Randall – einem an den Rollstuhl gefesselten, schwerfälligen, ernst dreinblickenden Burschen, dessen unorthodoxe Gedankenmuster nicht unbedingt auf eine ausgeprägte Intelligenz schließen lassen. Er rezitiert eine Ode autistischen Lobes an seinen unentbehrlichen motorisierten Streitwagen. „Ist es nicht erstaunlich, Doc, nicht wahr, dass Napoleons Kanone von Pferden und Ochsen durch russischen Schlamm und Schnee gezogen wurde? Und jetzt habe ich das hier!“ Mit einem unschuldigen Lächeln und ernster Miene schüttet Randall einen sich wiederholenden Schwall von Fakten, historischen Daten, Erinnerungen, Interpretationen, losen Assoziationen, Vorstellungen und Paranoia aus, der fast vernünftig klingt – beinahe. „Das ist der Code Napoleon, Doc, der die Transportmittel der unteren Ränge und Reihen veränderte, wissen Sie, in jenen Tagen, als diese angenehme Langeweile des Nichtstuns noch verstanden wurde.“ Eva schiebt ihren Kopf über Randalls linke Schulter und spielt Kuckuck.

Neben Randall steht Arlene, die Hände an den Hüften, mit vorwurfsvollem Blick und gekleidet mit knappen Jeans-Shorts und Bluse – was an diesem Ort ein Zeichen dafür ist, dass man auf diese Art sein Geld für Drogen verdient und nicht selten schon in jungen Jahren von männlichen Triebtätern sexuell ausgebeutet wurde.

Über das ständige Murmeln von Randalls Gerede hinweg höre ich ihre Beschwerde: „Sie hätten meine Pillen nicht reduzieren sollen.“ Arlenes Arme tragen Dutzende von horizontalen Narben, die parallel verlaufen, wie Eisenbahnschwellen. Die älteren sind weiß, die jüngeren rot, jede markiert ein Andenken an einen Schnitt mit der Rasierklinge, den sie sich selbst zugefügt hat. Der Schmerz der Selbstverletzung löscht, wenn auch nur vorübergehend, bei ihr den Schmerz eines größeren Schmerzes tief in ihrer Seele. Eines von Arlenes Medikamenten kontrolliert diese zwanghafte Selbstverletzung, und sie hat immer Angst, dass ich ihre Dosis reduziere. Das tue ich nie.

Ganz in unserer Nähe, im Schatten des Portland Hotels, haben zwei Polizisten Jenkins in Handschellen gelegt. Jenkins, ein schlaksiger Ureinwohner mit schwarzem, krausem Haar, das bis über die Schultern fällt, ist ruhig und fügsam, als einer der Beamten seine Taschen leert. Er beugt sich mit dem Rücken gegen die Wand, nicht die geringste Spur von Protest im Gesicht. „Sie sollten ihn in Ruhe lassen“, meint Arlene lautstark. „Der Typ dealt nicht. Sie schnappen ihn immer wieder und finden nie etwas.“ Zumindest am helllichten Tag kontrollieren die Polizisten in der Hastings Street mit vorbildlicher Höflichkeit – und nicht, wie meine Patienten sagen, mit der typischen Haltung von Ordnungshütern. Nach ein oder zwei Minuten wird Jenkins freigelassen und verschwindet, ohne etwas zu sagen, mit langen Schritten im Hotel.

In der Zwischenzeit hat der Dichterfürst der Absurdität innerhalb weniger Minuten die europäische Geschichte vom Hundertjährigen Krieg bis Bosnien aufgearbeitet und sich zur Religion von Moses bis Mohammed geäußert. „Doc“, so Randall weiter, „der Erste Weltkrieg sollte eigentlich alle Kriege beenden. Wenn das stimmt, warum gibt es dann die Kriege gegen Krebs oder Drogen? Die Deutschen hatten diese Kanone Dicke Bertha, die sie auf die Alliierten richteten, aber in einer Sprache, die den Franzosen oder Briten nicht gefiel. Gewehre produzieren ein übles Palaver, sie haben einen schlechten Ruf, Doc – aber sie haben die Geschichte vorangebracht, wenn man überhaupt davon reden kann, dass sich die Geschichte vorwärtsbewegt oder sich überhaupt bewegt. Glauben Sie, die Geschichte bewegt sich, Doc?“

Da unterbricht Matthew Randalls Debatte – er ist auf seine Krücken gelehnt, dickbäuchig, einbeinig, lächelnd, kahlköpfig und ungemein jovial. „Der arme Dr. Maté versucht nach Hause zu kommen“, sagt er in seinem charakteristischen Tonfall: sarkastisch und zugleich liebenswert aufrichtig. Matthew grinst uns an, als beträfe der Witz alle, nur nicht ihn selbst. Die verschiedenen Ringe, die sein linkes Ohr durchbohren, schimmern im goldenen Licht der späten Nachmittagssonne.

Eva tänzelt hinter Randalls Rücken hervor. Ich wende mich ab. Ich habe genug vom Straßentheater und will dem jetzt entfliehen. Der gute Arzt will nicht mehr gut sein.

Wir gehören zusammen, diese Fellini-Figuren und ich – oder sollte ich sagen, wir, diese Fellini-Crew –, vor dem Portland Hotel, wo sie leben und ich arbeite. Meine Klinik befindet sich im ersten Stock dieses vom kanadischen Architekten Arthur Erickson entworfenen Gebäudes aus Beton und Glas, eines geräumigen, modernen und zweckmäßigen Gebäudes. Es ist eine beeindruckende Einrichtung, die ihren Bewohnern gute Dienste leistet und das ehemals luxuriöse Haus aus der Jahrhundertwende um die Ecke ersetzt, das das erste Portland Hotel war. Der alte Ort mit seinen hölzernen Balustraden, breiten und geschwungenen Treppenaufgängen, muffigen Treppenabsätzen und Erkern hatte Charakter und Geschichte, die dem neuen Bollwerk fehlt. Obwohl ich die Aura der Alten Welt vermisse, die Atmosphäre von verblasstem Reichtum und Verfall, die dunklen und abblätternden Fensterbänke, die mit Erinnerungen von Eleganz behaftet sind, bezweifle ich, dass die Bewohner Sehnsucht nach den engen Zimmern, den korrodierten Rohrleitungen oder den Armeen von Kakerlaken haben. 1994 gab es einen Brand auf dem Dach des alten Hotels. Eine Lokalzeitung brachte eine Geschichte und ein Foto, auf dem eine Bewohnerin und ihre Katze abgebildet waren. Die Schlagzeile lautete: „Heldenhafter Polizist rettet Fluffy“. Jemand rief im Portland an, um sich zu beschweren, dass Tiere nicht unter solchen Bedingungen leben sollten.

Die gemeinnützige Portland Hotel Society (PHS), für die ich als Arzt tätig bin, verwandelte das Gebäude in eine Unterkunft für Obdachlose. Meine Patienten sind zum größten Teil Süchtige, obwohl bei einigen, wie Randall, die chemischen Gehirnprozesse so weit gestört sind, dass sie auch ohne Drogen den Kontakt zur Realität verloren haben. Viele, wie Arlene, leiden sowohl an psychischen als auch an Suchterkrankungen. Das PHS verwaltet mehrere ähnliche Einrichtungen in einem Umkreis von wenigen Häuserblocks: die Hotels Stanley, Washington, Regal und Sunrise. Ich bin als Arzt für alle Häuser zuständig.

Das neue Portland liegt gegenüber dem Kaufhaus für Armee- und Marinebedarf, wo meine Eltern als Neueinwanderer in den späten 1950er-Jahren den Großteil unserer Kleidung kauften. Damals war dieses Kaufhaus ein beliebtes Einkaufsziel für Berufstätige – und für Kinder aus der Mittelschicht, die auf der Suche nach ausgefallenen Militärmänteln oder Matrosenjacken waren. Draußen auf den Bürgersteigen gab es eine Mischung aus Studenten, die auf der Suche nach etwas Unterhaltung mit dem gemeinen Volk waren, sowie Alkoholikern, Taschendieben, Kauflustigen und Freitagabend-Bibelpredigern.

Jetzt ist es anders. Die Menschenmengen kommen schon seit vielen Jahren nicht mehr. Jetzt sind diese Straßen und ihre Hinterhöfe zum Zentrum von Kanadas Drogenhauptstadt geworden. Einen Block entfernt stand das verlassene Kaufhaus Woodward mit seinem riesigen, beleuchteten „W“-Schild auf dem Dach, das lange ein Wahrzeichen Vancouvers war. Eine Zeit lang belagerten Hausbesetzer und Anti-Armuts-Aktivisten das Gebäude, doch vor Kurzem wurde es abgerissen. Auf dem Gelände soll ein Mix aus schicken Wohnungen und Sozialwohnungen entstehen. Die Olympischen Winterspiele kommen 2010 nach Vancouver und mit ihnen droht die Wahrscheinlichkeit einer Gentrifizierung dieses Viertels. Der Prozess hat bereits begonnen. Es besteht die Befürchtung, dass die Politiker, die die Welt beeindrucken wollen, versuchen werden, die Suchtkranken zu verdrängen.

Eva verschränkt ihre Arme, dehnt sie hinter ihrem Rücken und beugt sich vor, um ihren Schatten auf dem Bürgersteig zu betrachten. Matthew kichert über die Yoga-Übungen der Cracksüchtigen. Randall schwafelt weiter. Ich blicke gespannt auf den vorbeiziehenden Berufsverkehr. Schließlich kommt die Rettung. Mein Sohn Daniel fährt vor und öffnet die Autotür. „Manchmal kann ich nicht glauben, dass das hier mein Leben ist“, sage ich und setze mich auf den Beifahrersitz. „Manchmal glaube ich es auch nicht“, nickt er. „Es kann hier ziemlich heftig zugehen.“ Wir fahren los. Im Rückspiegel sehe ich die sich entfernende Gestalt von Eva, gestikulierend, die Beine verrenkt, den Kopf zur Seite geneigt.

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Das Portland und die anderen Gebäude der Portland Hotel Society stellen ein wegweisendes Sozialprojekt dar. Der Zweck der PHS ist es, ein System der Sicherheit und Fürsorge für marginalisierte und stigmatisierte Menschen zu schaffen – für diejenigen, die „die Erniedrigten und Beleidigten“ sind, um Dostojewski zu zitieren. Die PHS versucht, diese Menschen vor dem zu retten, was ein lokaler Dichter als „Straßen der Vertreibung und Gebäude der Ausgrenzung“ bezeichnet hat.

„Die Menschen brauchen einfach einen Raum, wo sie sich aufhalten können“, sagt Liz Evans, eine ehemalige Gemeindeschwester, deren soziale Herkunft aus der oberen Schicht mit ihrer gegenwärtigen Rolle als Gründerin und Direktorin der PHS unvereinbar zu sein scheint. „Sie brauchen einen Platz, wo sie leben können, ohne verurteilt, gejagt und belästigt zu werden. Es handelt sich um Menschen, die häufig als Belastung angesehen werden, für Verbrechen und soziale Missstände verantwortlich gemacht und … als Zeit- und Energieverschwendung betrachtet werden. Sie werden selbst von Menschen, die Mitgefühl zu ihrem Beruf gemacht haben, barsch behandelt.“

Seit den sehr bescheidenen Anfängen im Jahr 1991 ist die Portland Hotel Society gewachsen und inzwischen sehr aktiv. Sie ist an vielen Projekten beteiligt: an einer Nachbarschaftsbank, einer Kunstgalerie für Künstler des Downtown Eastside, dem ersten betreuten Drogenkonsumraum Nordamerikas, einer kommunalen Krankenstation, wo tiefe Gewebeinfektionen mit intravenösen Antibiotika behandelt werden, einer kostenlosen Zahnklinik und an der Portland Klinik, wo ich seit acht Jahren arbeite. Die zentrale Aufgabe des PHS besteht darin, Menschen, die sonst obdachlos wären, einen Aufenthaltsort zur Verfügung zu stellen.

Die Statistiken sind krass. Eine Überprüfung, die kurz nach der Gründung der PHS durchgeführt wurde, ergab, dass drei Viertel der Bewohner im Jahr vor ihrer Unterbringung mehr als fünf Mal ihre Adresse gewechselt hatten. 90 Prozent waren wegen Verbrechen angeklagt oder verurteilt worden, meist wegen Bagatelldelikten. Gegenwärtig sind 36 Prozent HIV-positiv oder haben Aids, die meisten der Bewohner sind süchtig nach Alkohol oder anderen Substanzen – nach allem von Reiswein oder Mundwasser bis hin zu Kokain oder Heroin. Bei über der Hälfte von ihnen wurde eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Der Anteil der kanadischen Ureinwohner unter den Bewohnern vom Portland ist im Verhältnis fünfmal so hoch wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung.

Für Liz und die anderen, die die PHS mit aufgebaut haben, war es unendlich frustrierend zu beobachten, wie Menschen von einer Krise in die nächste gerieten, ohne dass sie eine konsequente Unterstützung bekamen. „Das System hatte sie im Stich gelassen“, sagt sie, „also haben wir versucht, die Hotels als Stützpunkt für andere Dienstleistungen und Programme einzurichten. Es dauerte acht Jahre, bis die Mittel zusammen waren, sowie vier Provinzregierungen und vier private Stiftungen, bis das neue Portland Wirklichkeit wurde. Jetzt haben die Menschen endlich ihre eigenen Badezimmer, Waschmaschinen und einen vernünftigen Ort zum Essen.“

Was das Modell von Portland so einzigartig unter den Angeboten für Süchtige macht und zugleich so umstritten, ist die zentrale Intention, die Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind – ganz gleich, wie dysfunktional, gestört und störend sie auch sein mögen. Unsere Klienten sind nicht die „Armen, die es verdient haben“; sie sind einfach nur arm – unverdient in ihren eigenen Augen und in denen der PHS. Im Portland Hotel gibt es weder das Hirngespinst der Erlösung noch die Erwartung sozial respektabler Ergebnisse, sondern nur eine unsentimentale Feststellung der realen Bedürfnisse von realen Menschen in einer schäbigen Gegenwart, die bei allen gleichermaßen auf einer tragischen Vergangenheit beruht. Wir können hoffen (und tun es auch), dass Menschen von den Dämonen, die sie heimsuchen, befreit werden können, und arbeiten daran, sie in diese Richtung zu ermutigen, aber wir haben nicht die Vorstellung, dass ihnen irgendein psychologischer Exorzismus aufgezwungen werden kann. Die unbequeme Wahrheit ist, dass die meisten unserer Klienten süchtig bleiben werden und, so wie es jetzt aussieht, auf der falschen Seite des Gesetzes. Kerstin Stuerzbecher, eine ehemalige Krankenschwester mit zwei Abschlüssen in Geisteswissenschaften, ist ebenfalls Direktorin der Portland Society. „Wir haben nicht auf alles eine Antwort“, sagt sie, „und wir können den Menschen nicht unbedingt die Fürsorge bieten, die sie brauchen, um ihr Leben entscheidend zu verändern. Am Ende des Tages liegt es nie an uns – entweder haben sie’s in sich oder nicht.“

Den Bewohnern wird so viel Hilfe angeboten, wie es die finanziell angespannten Ressourcen erlauben. Das Pflegepersonal der Einrichtung reinigt die Räume und hilft den Hilflosesten bei ihrer persönlichen Hygiene. Essen wird zubereitet und verteilt. Wenn möglich, werden die Patienten zu Terminen bei Fachärzten oder für Röntgenaufnahmen oder andere medizinischen Untersuchungen begleitet. Methadon, Psychopharmaka und HIV-Medikamente werden vom Personal ausgegeben. Alle paar Monate kommt ein mobiles Labor nach Portland, um auf HIV und Hepatitis zu testen und um weitere Bluttests durchzuführen. Es gibt eine Schreib- und Lyrikgruppe sowie eine Kunstgruppe, wo auch der Wandbehang entstand, der nach Zeichnungen von Portland-Bewohnern gestaltet wurde und jetzt an der Wand meiner Praxis hängt. Ein Akupunkteur und ein Frisör kommen ins Haus, Filmabende werden organisiert, und es gab – solange wir noch die Mittel hatten – einen jährlichen Campingausflug, um die Bewohner aus dem schmutzigen Umfeld von Downtown Eastside herauszuholen. Mein Sohn Daniel, der zeitweilig in Portland angestellt war, leitete eine monatlich stattfindende Musikgruppe.

„Vor ein paar Jahren hatten wir im Portland so einen Talentabend“, erzählt Kerstin, „zusammen mit der Kunst- und der Schreibgruppe, und es gab auch eine Kabarett-Vorstellung. Die Kunstwerke hingen an der Wand und die Leute lasen ihre Gedichte vor. Ein langjähriger Bewohner trat ans Mikrofon. Er sagte, er habe kein Gedicht, das er rezitieren wolle, oder sonst etwas Kreatives. Was er uns mitteilte war, dass das Portland sein erstes Zuhause sei. Dass es die einzige Heimat sei, die er je hatte, und wie dankbar er für die Gemeinschaft sei, der er angehörte. Und wie stolz er war, ein Teil davon zu sein, und wie sehr er sich wünschte, dass seine Mutter und sein Vater ihn jetzt sehen könnten.“

„Das einzige Zuhause, das er je hatte“ – ein Satz, der das Schicksal vieler Menschen in Downtown Eastside, einem Stadtteil in „einer der lebenswertesten Städte der Welt“* zusammenfasst.

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Die Arbeit kann außerordentlich erfüllend, aber auch zutiefst frustrierend sein, je nach meinem eigenen Gemütszustand. Oft sehe ich mich mit der störrischen Natur von Menschen konfrontiert, die ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden weniger schätzen als die unmittelbaren, drogenbedingten Bedürfnisse des Augenblicks. Ich muss mich auch mit meinem eigenen Widerstand gegen sie als Menschen auseinandersetzen. So sehr ich sie, zumindest im Prinzip, akzeptieren möchte, erlebe ich mich an manchen Tagen voller Missbilligung und Bewertung, lehne sie ab und möchte, dass sie anders sind, als sie es nun mal sind. Dieser Widerspruch hat seinen Ursprung in mir, nicht in meinen Patienten. Es ist mein Problem – nur dass es mir angesichts des offensichtlichen Ungleichgewichts der Kräfte zwischen uns allzu leicht fällt, sie als Problem auszumachen.

Die Süchte meiner Patienten machen jede ärztliche Behandlung zu einer Herausforderung. Wo sonst finden Sie Menschen, die sich in einem so schlechten Gesundheitszustand befinden und die dennoch so abgeneigt sind, sich um sich selbst zu kümmern oder gar anderen zu erlauben, sich um sie zu kümmern? Manchmal muss man sie buchstäblich zu einer Behandlung im Krankenhaus überreden. Nehmen Sie Kai, der eine immobilisierende Infektion in seiner Hüfte hat, die ihn zum Krüppel machen könnte, oder Hobo, dessen Brustbeinentzündung sich auf seine Lungen ausbreiten könnte. Beide Männer sind so sehr auf ihren nächsten Kokain-, Heroin- oder Cristal Meth-Trip fixiert, dass die Selbsterhaltung keine Bedeutung mehr für sie hat. Viele haben auch eine tief verwurzelte Furcht vor Autoritätspersonen und misstrauen Institutionen aus Gründen, die ihnen niemand verübeln kann.

„Der Grund, warum ich Drogen nehme, ist, dass ich dann nicht die verdammten Gefühle habe, die da sind, wenn ich keine Drogen nehme“, sagte mir Nick, ein vierzigjähriger Heroin- und Crystal-Meth-Süchtiger, einmal weinend. „Wenn ich keine Drogen nehme, werde ich depressiv.“ Sein Vater hämmerte seinen Zwillingssöhnen die Vorstellung ein, dass sie nichts als ein „Stück Scheiße“ seien. Nicks Bruder beging als Teenager Selbstmord, Nick wurde drogenabhängig.

Das Höllenreich der schmerzlichen Emotionen macht den meisten von uns Angst. Drogensüchtige fürchten, dass sie dort für immer gefangen bleiben, wenn sie keine Drogen nehmen. Dieser Drang zur Flucht fordert einen schrecklichen Preis.

Die Flure und der Aufzug im Portland Hotel werden häufig, manchmal mehrmals täglich, gereinigt. Einige Bewohner haben von den Injektionsnadeln chronisch wässernde Wunden. Blut tropft auch von Platzwunden und Schnitten, die ihnen von ihren Mitsüchtigen zugefügt wurden, oder aus Verletzungen, die Patienten sich während kokaininduzierter Paranoia in ihre Haut gekratzt haben. Es gibt einen Mann, der unaufhörlich auf sich einschlägt, um imaginäre Insekten loszuwerden.

Nicht, dass es uns an echtem Befall in Downtown Eastside mangelt. Nager gedeihen hinter den Wänden der Gebäude und in den mit Müll übersäten Hinterhöfen. Ungeziefer bevölkert die Betten, Kleider und Körper vieler meiner Patienten: Bettwanzen, Läuse, Krätze. In meiner Praxis fallen gelegentlich Kakerlaken aus ausgeschüttelten Röcken und Hosenbeinen heraus und huschen unter meinem Schreibtisch in Deckung. „Ich habe gerne ein oder zwei Mäuse um mich herum“, erzählte mir ein junger Mann. „Sie fressen die Kakerlaken und Bettwanzen. Aber ich ertrage kein ganzes Mäusenest in meiner Matratze.“

Ungeziefer, Geschwüre, Blut und Tod: die Plagen Ägyptens.

In Downtown Eastside tötet der Todesengel mit schockierendem Eifer. Marcia, eine fünfunddreißigjährige Heroinsüchtige, war aus ihrer PHS-Wohnung ausgezogen und wohnte in einem Mietshaus einen halben Block entfernt. Eines Morgens erhielt ich einen verzweifelten Anruf wegen einer vermuteten Überdosis. Ich fand Marcia im Bett, die Augen weit aufgerissen, auf dem Rücken liegend und bereits in Totenstarre. Ihre Arme waren ausgestreckt, die Handflächen nach außen gerichtet, eine Geste des angstvollen Protestes, als wollte sie sagen: „Nein, du bist zu früh gekommen, um mich zu holen, viel zu früh!“ Plastikspritzen zerbrachen unter meinen Schuhen, als ich mich ihrem Körper näherte. Marcias geweitete Pupillen und einige andere körperliche Anzeichen erzählten ihre Geschichte – sie starb nicht an einer Überdosis, sondern an Heroinentzug. Ich stand für einige Augenblicke an ihrem Bett und versuchte, in ihrem Körper den charmanten, wenn auch immer geistesabwesenden Menschen zu sehen, den ich gekannt hatte. Als ich mich abwandte, um zu gehen, kündigten heulende Sirenen die Ankunft der Rettungsfahrzeuge vor dem Haus an.

Marcia war erst eine Woche zuvor gut gelaunt in meiner Praxis gewesen und hatte mich um Hilfe bei einigen medizinischen Formularen gebeten, die sie ausfüllen musste, um wieder Sozialhilfe zu erhalten. Es war das erste Mal seit sechs Monaten, dass sie zu mir gekommen war. In dieser Zeit, so erzählte sie mir in lässiger Resignation, hatte sie ihrem Freund Kyle dabei geholfen, eine Hundertdreißigtausend-Dollar-Erbschaft durchzubringen – eine Aktion, bei der ihnen viele andere befreundete Drogensüchtige und Mitläufer selbstlos geholfen hatten. Trotz all dieser Popularität war sie allein, als der Tod sie erwischte.

Ein weiteres Opfer war Frank, ein zurückgezogener Heroinsüchtiger, der einen nur dann widerwillig in sein beengtes Quartier im Regal Hotel ließ, wenn er sehr krank war. „Ich werde auf keinen Fall im Krankenhaus sterben“, erklärte er, als klar wurde, dass der Sensenmann AIDS an seine Tür geklopft hatte. Darüber oder über etwas anderes konnte man nicht mit Frank diskutieren. 2002 starb er in seinem eigenen zerlumpten Bett, aber es war sein eigenes Bett.

Frank war eine gute Seele, was seine griesgrämige Schroffheit nicht verbergen konnte. Obwohl er nie mit mir über seine Lebenserfahrung sprach, drückte er das Wesentliche davon in dem Gedicht Der Höllenzug der Stadt aus, das er einige Monate vor seinem Tod schrieb. Es ist ein Requiem für ihn selbst und für Dutzende von Frauen – drogensüchtige Prostituierte –, die mutmaßlich auf der berüchtigten Pickton-Schweinefarm außerhalb von Vancouver ermordet worden sind.

Ich ging in die Stadt – nach Hastings und Main

Auf der Suche nach Linderung meiner Schmerzen

Alles, was ich gefunden habe, war

Eine Fahrkarte für eine einfache Fahrt in einem Höllenzug

Auf einem Bauernhof nicht weit entfernt

Wurden mehrere Freundinnen entführt

Mögen sich ihre Seelen von den Schmerzen erholen

Möge ihre Fahrt mit dem Höllenzug enden

Gib mir Frieden, bevor ich sterbe

Die Strecke ist so gut ausgebaut

Wir alle erleben unsere private Hölle

Nur noch mehr Fahrkarten für den Höllenzug

Höllenzug

Höllenzug

Einfache Fahrkarte für einen Höllenzug

Da ich in der Palliativmedizin, der Betreuung von unheilbar Kranken, gearbeitet habe, bin ich dem Tod oft begegnet. Streng genommen ist die Suchtmedizin bei dieser Bevölkerungsgruppe ebenfalls Palliativarbeit. Wir erwarten nicht, jemanden zu heilen, sondern nur, die Auswirkungen der Drogenabhängigkeit und der damit verbundenen Leiden zu lindern sowie die Auswirkungen der rechtlichen und sozialen Qualen abzumildern, mit denen unsere Gesellschaft den Drogensüchtigen bestraft. Abgesehen von den seltenen Glücklichen, die dem Drogen-Slum von Downtown Eastside entkommen, erleben nur sehr wenige meiner Patienten ein hohes Alter. Sie sterben an einer Komplikation ihrer HIV-Infektion oder Hepatitis C, an Meningitis oder einer massiven Sepsis, die sie sich durch mehrfache Selbstinjektionen während ihres anhaltenden Kokainkonsums zuziehen. Einige erliegen bereits in relativ jungen Jahren einer Krebserkrankung, da ihr gestresstes und geschwächtes Immunsystem nicht in der Lage ist, den bösartigen Tumor unter Kontrolle zu halten. So ist Stevie gestorben, an Leberkrebs, mit dem gutmütig-spöttischen Ausdruck, der immer auf ihrem Gesicht lag, das von tiefer Gelbsucht gezeichnet war. Oder sie erwischen eines Nachts schlechten Stoff und sterben an einer Überdosis, wie Angel im Sunrise Hotel oder wie Trevor, ein Stockwerk höher, der immer lächelte, als ob ihn nie etwas gestört hätte.

An einem Februarabend, es dämmerte bereits, erwachte Leona, eine Patientin, die in einem nahe gelegenen Hotel wohnte, auf der Liege in ihrem Zimmer und fand ihren achtzehnjährigen Sohn Joey leblos und starr in ihrem Bett liegen. Sie hatte ihn von der Straße geholt und Wache gehalten, um ihn vor Selbstverletzung zu schützen. Nach der durchwachten Nacht war sie am nächsten Vormittag eingeschlafen. Am Nachmittag hatte Joey eine Überdosis genommen. „Als ich aufwachte“, erinnert sie sich, „lag Joey regungslos da. Niemand musste mir etwas erklären. Der Krankenwagen und die Feuerwehr kamen, aber es gab nichts, was sie hätten tun können. Mein Baby war tot.“ Ihre Trauer ist riesig, ihr Schuldgefühl unermesslich.

Der Schmerz ist eine Konstante in der Portland-Klinik. Die medizinische Fakultät unterrichtet die drei Kennzeichen einer Entzündung mit den lateinischen Bezeichnungen: calor, rubror, dolor – Hitze, Rötung und Schmerz. Die Haut, Gliedmaßen oder Organe meiner Patienten sind oft entzündet und dagegen kann meine Behandlung zumindest vorübergehend wirksam sein. Aber wie kann man die Seelen trösten, die durch intensive Schmerzen gequält werden, die zuerst durch die Erfahrungen in der Kindheit – fast zu widerlich, um sie zu glauben – und dann, in mechanischer Wiederholung, durch den Leidenden selbst hervorgerufen werden? Und wie kann man sie trösten, wenn ihre Leiden durch die gesellschaftliche Ächtung täglich schlimmer werden – durch das, was der Gelehrte und Schriftsteller Elliot Leyton als „die seelenlosen, rassistischen, sexistischen und klassistischen Vorurteile beschrieben hat, die in der kanadischen Gesellschaft vergraben sind: eine institutionalisierte Verachtung der Armen, Prostituierten, Drogensüchtigen, Alkoholiker und Ureinwohner“.1 Der Schmerz hier in Downtown Eastside bringt Menschen dazu, um Geld für Drogen zu betteln. Er starrt aus kalten und harten Augen oder zeigt sich niedergeschlagen, im Gefühl der Unterlegenheit und Scham. Der Schmerz äußert sich in schmeichelnden Tönen oder aggressivem Geschrei. Hinter jedem Blick, hinter jedem Wort, hinter jeder gewaltsamen Tat oder desillusionierten Geste verbirgt sich eine Geschichte von Leid und Erniedrigung, eine selbst geschriebene Geschichte mit täglich neu hinzugefügten Kapiteln und selten einem glücklichen Ende.

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Während Daniel mich nach Hause fährt, hören wir im Autoradio CBC und diesen seltsamen Nachmittagsmix aus fröhlichem Geplapper, Klassik und Jazz. Erschüttert von dem Kontrast zwischen der großstädtischen Radiowirklichkeit und der geplagten Welt, die ich gerade verlassen habe, denke ich zurück an meine erste Patientin an diesem Tag.

Madeleine sitzt gekrümmt vor mir, die Ellenbogen auf ihre Oberschenkel gestützt, ihr hagerer, sehniger Körper ist durch heftiges Schluchzen verkrampft. Sie umklammert ihren Kopf mit den Händen, ballt immer wieder die Fäuste und schlägt rhythmisch gegen ihre Schläfen. Ihr glattes, braunes, nach vorne gefallenes Haar verdeckt ihre Augen und Wangen. Ihre Unterlippe ist geschwollen und aufgeplatzt, aus einem kleinen Schnitt sickert Blut. Ihre raue, jungenhafte Stimme ist heiser vor Wut und Schmerz. „Ich bin schon wieder verarscht worden“, weint sie. „Immer bin ich es, die die Scheiße der anderen ausbaden muss. Woher wissen sie, dass sie mir das jedes Mal wieder antun können?“ Sie hustet, als ihr der Speichel in die Luftröhre rinnt. Sie ist wie ein Kind, das seine Geschichte erzählt und um Mitgefühl und Hilfe bittet.

Die Geschichte, die sie erzählt, ist die Variation eines Themas, das in Downtown Eastside bekannt ist: Drogensüchtige, die sich gegenseitig ausbeuten. Drei Frauen, die Madeleine gut kennt, geben ihr einen Hundert-Dollar-Schein. Der Deal ist, dass sie zwölf „Rocks“ Crack von einem Typen kaufen soll, den sie „Spic“ nennt. Einen kann sie behalten, die anderen Frauen werden einen Teil für sich nehmen und den Rest weiterverkaufen. „Die Bullen dürfen nicht sehen, dass wir so viel kaufen“, sagen sie ihr. Die Transaktion ist abgeschlossen, Geld und Crack haben den Besitzer gewechselt. Zehn Minuten später holt der ‚großartige Spic‘ Madeleine ein, „packt mich an den Haaren, wirft mich zu Boden und versetzt mir einen Schlag ins Gesicht“. Der Hundert-Dollar-Schein ist gefälscht. „Sie haben mich reingelegt. ‚Oh, Maddie, du bist mein Kumpel, du bist meine Freundin.‘ Ich hatte keine Ahnung, dass es ein gefälschter Hunderter ist.“

Meine Klienten erzählen oft von „dem Spic“, aber er scheint unsichtbar zu sein, eine mystische Figur, von der ich nur höre. An den Straßenecken in der Nähe des Portland Hotels treffen sich junge, dunkelhäutige Mittelamerikaner mit schwarzen, über die Augen geschobenen Baseballmützen. Wenn ich an ihnen vorbeilaufe, sprechen sie mich im leisen Flüsterton an, selbst wenn ich eindeutig ein Stethoskop um meinen Hals trage: „Upper und Downer“ oder „gute Rocks“. (Upper und Downer ist Junkie-Slang. Upper sind Stimulanzien wie Kokain, und Downer, wie zum Beispiel Heroin, haben eine beruhigende, entspannende Wirkung. Rock steht für Crack/Kokain.) „Hey, siehst du nicht, dass das der Arzt ist?“, zischt gelegentlich jemand. Der Spic könnte durchaus zu dieser Gruppe gehören, aber vielleicht ist der Beiname auch nur ein allgemeiner Begriff, der sich auf jeden von ihnen bezieht.

Ich weiß nicht, wer er ist oder auf welchem Weg er in die heruntergekommene Gegend von Vancouver gelangt ist, wo er die abgemagerten Frauen mit Kokain und Ohrfeigen versorgt, die stehlen, dealen, betrügen oder billigen Oralsex anbieten, um ihn zu bezahlen. Wo wurde er geboren? Durch welchen Krieg und welche Entbehrungen wurden seine Eltern gezwungen, ihren Slum oder ihr Bergdorf zu verlassen, um ein Auskommen so weit nördlich des Äquators zu suchen? Waren es die Armut in Honduras, Milizen in Guatemala oder die Todesschwadronen in El Salvador? Wie wurde er zu dem Latino, dem Bösewicht der Geschichte, die ich von der spindeldürren, verzweifelten Frau in meiner Praxis erzählt bekomme, die tränenerstickt ihre blauen Flecken erklärt und mich bittet, ihr nicht vorzuwerfen, dass sie letzte Woche beim Methadon-Termin nicht erschienen ist. „Ich habe seit sieben Tagen keinen Juice mehr getrunken“, sagt Madeleine. („Juice“ ist Slang für Methadon, denn das Methadonpulver wird in einem Getränk mit Orangengeschmack aufgelöst.) „Und ich werde niemanden auf der Straße um Hilfe bitten, denn wenn sie dir helfen, schuldest du ihnen dein gottverdammtes Leben. Selbst wenn du es ihnen zurückzahlst, denken sie immer noch, dass du ihnen etwas schuldest: ‚Da ist Maddie, die kriegen wir. Sie wird es uns geben.‘ Sie wissen, dass ich nicht kämpfe. Denn wenn ich mich jemals wehren sollte, würde ich eine von diesen Schlampen umbringen. Ich will nicht den Rest meines Lebens im Knast verbringen wegen einer gottverdammten Fotze, mit der ich mich von vornherein nicht hätte einlassen sollen. So wird’s laufen. Ich kann nur ein gewisses Maß ertragen.“

Ich gebe ihr das Methadon-Rezept und biete ihr an, wiederzukommen und zu reden, nachdem sie ihre Dosis in der Apotheke bekommen hat. Obwohl Madeleine einverstanden ist, werde ich sie heute nicht mehr sehen. Wie immer lockt der Drang nach dem nächsten Schuss.

Ein anderer Besucher an diesem Morgen war Stan, ein fünfundvierzigjähriger Ureinwohner, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war und ebenfalls wegen seines Methadon-Rezeptes kam. In den achtzehn Monaten seiner Inhaftierung war er etwas pummelig geworden, was seine bisher bedrohliche Wirkung aufgrund seiner Größe, muskulösen Statur, glühenden dunklen Augen, seines Apachenhaars und seines Fu-Manchu-Schnurrbarts dämpfte. Vielleicht ist er auch milder geworden, da er die ganze Zeit ohne Kokain war. Er schaut aus dem Fenster zum Bürgersteig auf der anderen Straßenseite, wo einige seiner Mitsüchtigen in eine Szene vor dem Armee-Shop verwickelt sind. Es wird viel gestikuliert und scheinbar ziellos hin- und hergelaufen. „Schauen Sie sich das an“, sagt er. „Sie sitzen hier fest. Wissen Sie, Doc, ihr Leben erstreckt sich von hier bis vielleicht zum Victory Square auf der linken Seite und der Fraser Street auf der rechten. Die kommen hier nie raus. Ich will wegziehen, will mein Leben hier nicht mehr vergeuden.“

„Ach, was soll’s. Schauen Sie mich an, ich habe nicht einmal Strümpfe.“ Stan zeigt auf seine abgelaufenen Schuhe und seine abgewetzte rote Jogginghose mit Gummibündchen ein paar Zentimeter über seinen Knöcheln. „Wenn ich in diesem Outfit in den Bus steige, wissen die Leute sofort Bescheid. Sie wenden sich von mir ab. Einige starren mich an, die meisten schauen nicht einmal in meine Richtung. Wissen Sie, wie sich das anfühlt? Als wäre ich ein Alien. Ich fühle mich erst dann wieder wohl, wenn ich hier zurück bin; kein Wunder, dass niemand jemals geht.“

Als er zehn Tage später wegen eines Methadon-Rezepts zurückkehrt, lebt Stan immer noch auf der Straße. Es ist ein Märztag in Vancouver: grau, nass und ungewöhnlich kalt. „Sie wollen nicht wissen, wo ich letzte Nacht geschlafen habe, Doc“, sagt er.

Für viele der chronischen, hartgesottenen Süchtigen in Vancouver ist es so, als ob ein unsichtbarer Stacheldraht das Gebiet umgibt, das sich ein paar Blocks von Main und Hastings aus in alle Richtungen erstreckt. Es gibt eine Welt jenseits davon, aber für sie ist sie größtenteils unerreichbar. Diese Welt hat Angst vor ihnen und lehnt sie ab, und sie wiederum verstehen deren Regeln nicht und können dort nicht überleben.

Es erinnert mich an einen Gefangenen, der aus einem sowjetischen Gulag geflohen war, und sich, nachdem er draußen fast verhungert war, freiwillig wieder inhaftieren ließ. „Die Freiheit ist nichts für uns“, sagte er seinen Mitgefangenen. „Wir sind für den Rest unseres Lebens an diesen Ort gekettet, auch wenn wir keine Ketten tragen. Wir können fliehen, wir können umherziehen, aber am Ende werden wir zurückkommen.“

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Menschen wie Stan gehören zu der kränksten, bedürftigsten und am meisten vernachlässigten Bevölkerungsgruppe überhaupt. Ihr ganzes Leben lang wurden sie ignoriert, im Stich gelassen und haben sich ihrerseits immer wieder selbst aufgegeben. Wie entsteht die Bereitschaft einer solchen Gruppe zu helfen? In meinem Fall weiß ich, dass die Wurzeln dazu in meinen Anfängen als jüdisches Kleinkind im 1944 von den Nazis besetzten Budapest liegen. Ich bin mit dem Bewusstsein aufgewachsen, wie schrecklich und schwierig das Leben für manche Menschen sein kann – ohne dass sie etwas dafür können.

Aber ebenso, wie sich das Einfühlungsvermögen, das ich für meine Patienten empfinde, auf meine Kindheit zurückführen lässt, so gilt dies auch für die intensiven Gefühle der Verachtung, Geringschätzung und Verurteilung, die manchmal aus mir herausbrechen und oft gegen dieselben schmerzgetriebenen Menschen gerichtet sind. Später werde ich darauf eingehen, wie meine eigenen Suchttendenzen auf meine frühkindlichen Erfahrungen zurückzuführen sind. Im Grunde genommen unterscheide ich mich gar nicht so sehr von meinen Patienten – und manchmal kann ich es kaum ertragen zu sehen, wie wenig psychologische Distanz, wie wenig vom Himmel geschenkte Gnade mich von ihnen trennt.

Meine erste Vollzeitstelle als Arzt hatte ich in einer Klinik in Downtown Eastside. Es war eine kurze, sechsmonatige Anstellung, aber sie hat ihre Spuren hinterlassen, und ich wusste, dass ich eines Tages zurückkommen würde. Als mir zwanzig Jahre später angeboten wurde, Klinikarzt im alten Portland zu werden, ergriff ich die Gelegenheit, weil es sich richtig anfühlte: genau die Kombination aus Herausforderung und Sinngebung, die ich zu dieser Zeit in meinem Leben suchte. Ohne groß nachzudenken, verließ ich meine Hausarztpraxis und wechselte in ein von Kakerlaken verseuchtes Hotel im Stadtzentrum.

Was zieht mich hierher? Alle, die wir zu dieser Arbeit berufen sind, reagieren auf eine innere Anziehungskraft, die mit denselben Frequenzen schwingt, die auch im Leben der geplagten, ausgelaugten, dysfunktionalen Menschen in unserer Obhut vibrieren. Aber natürlich kehren wir täglich nach Hause zurück, zu unseren anderen Interessen und Beziehungen, während unsere süchtigen Klienten in ihrem städtischen Gulag gefangen sind.

Manche Menschen fühlen sich zu schmerzvollen Orten hingezogen, weil sie hoffen, dort ihren eigenen Schmerz zu lindern. Andere melden sich freiwillig, weil ihr mitfühlendes Herz weiß, dass ihre Liebe hier am meisten gebraucht wird. Wieder andere kommen aus beruflichem Interesse: Diese Arbeit ist eine ständige Herausforderung. Menschen mit geringem Selbstwertgefühl fühlen sich vielleicht angezogen, weil es ihr Ego nährt, mit solch hilflosen Menschen zu arbeiten. Einige werden von der magnetischen Kraft der Süchte angezogen, weil sie ihre eigenen Suchttendenzen noch nicht gelöst oder gar erkannt haben. Ich vermute, dass die meisten von uns Ärzten, Krankenschwestern und anderen professionellen Helfern, die in Downtown Eastside arbeiten, von einer Mischung dieser Motive angetrieben werden.

Liz Evans begann im Alter von sechsundzwanzig Jahren in dieser Gegend zu arbeiten. „Ich war überwältigt“, erinnert sie sich. „Als Krankenschwester dachte ich, ich hätte etwas Fachwissen weiterzugeben. Das stimmte zwar, aber ich stellte bald fest, dass ich in Wirklichkeit sehr wenig zu geben hatte – ich konnte die Menschen nicht von ihrem Schmerz und ihrer Traurigkeit erlösen. Alles, was ich anbieten konnte, war, ihnen als Mitmensch, als verwandte Seele, zur Seite zu stehen.“

„Eine Frau, die ich Julie nenne, wurde ab ihrem siebten Lebensjahr von ihrer Pflegefamilie in ihrem Zimmer eingesperrt, mit einer Flüssignahrung zwangsernährt und geschlagen – sie hat eine Narbe am Hals, wo sie sich selbst aufgeschlitzt hat, als sie gerade mal sechzehn war. Seitdem konsumiert sie einen Cocktail aus Schmerzmitteln, Alkohol, Kokain und Heroin und arbeitet als Prostituierte. Eines Abends kam sie zurück, nachdem sie vergewaltigt worden war, und kroch schluchzend auf meinen Schoß. Sie sagte mir wiederholt, dass es ihre Schuld sei, dass sie ein schlechter Mensch sei und nichts Gutes verdient habe. Sie konnte kaum atmen. Ich sehnte mich danach, ihr etwas zu geben, was ihren Schmerz lindern würde, während ich dasaß und sie in meinen Armen hielt. Es war zu intensiv, um es ertragen zu können.“ Denn Liz stellte fest, dass etwas in Julies Schmerz ihren eigenen auslöste. „Diese Erfahrung machte mir deutlich, dass wir verhindern müssen, dass uns unsere eigenen Probleme im Wege stehen.“

„Was hält mich hier?“, sinniert Kerstin Stuerzbecher. „Anfangs wollte ich helfen. Und jetzt … Ich will immer noch helfen, aber es hat sich geändert. Nun kenne ich meine Grenzen. Ich weiß, was ich tun kann und was nicht. Was ich tun kann, ist, hier zu sein und mich für Menschen in verschiedenen Lebensphasen einzusetzen und ihnen zu erlauben, so zu sein, wie sie sind. Wir haben als Gesellschaft die Pflicht, … die Menschen so zu unterstützen, wie sie sind, und ihnen Respekt entgegenzubringen. Das ist es, was mich hier hält.“

Es gibt noch einen weiteren Faktor in der Gleichung. Viele Menschen, die in Downtown Eastside gearbeitet haben, haben es bemerkt: ein Gefühl der Authentizität, der Wegfall der üblichen sozialen Spiele, der Verzicht auf die Heuchelei – die Realität von Menschen, die nicht so tun können, als wären sie etwas anderes als das, was sie sind.

Natürlich lügen, betrügen und manipulieren sie – aber tun wir das nicht alle, auf unsere eigene Art und Weise? Im Gegensatz zum Rest von uns können sie nicht so tun, als seien sie keine Betrüger und Manipulatoren. Sie sind aufrichtig, wenn es um ihre Weigerung geht, Verantwortung zu übernehmen und den sozialen Erwartungen zu entsprechen, sowie um ihre Akzeptanz, alles um ihrer Sucht willen verloren zu haben. Das ist gemessen an den strengen gesellschaftlichen Maßstäben nicht viel, aber man findet paradoxerweise in jedem Betrug, der mit der Sucht zwangsweise einhergeht, einen ehrlichen Kern. „Was erwarten Sie, Doc? Schließlich bin ich ein Süchtiger“, sagte mir einmal ein kleiner, dünner siebenundvierzigjähriger Mann mit einem schiefen und entwaffnenden Lächeln, nachdem es ihm nicht gelungen war, mich zu einem Morphium-Rezept zu überreden. Vielleicht liegt in dieser Art von unverschämter, unentschuldbarer Pseudo-Authentizität eine gewisse Faszination. Wer von uns würde in seinen geheimen Fantasien nicht gerne ebenso leichtfertig und dreist mit seinen Schwächen umgehen?

„Bei uns hier geht man ehrlich mit den Menschen um“, sagt Kim Markel. Sie ist Krankenschwester an der Portland-Klinik. „Ich kann hierherkommen und kann wirklich so sein, wie ich bin. Ich finde das lohnend. Bei der Arbeit in den Krankenhäusern oder den verschiedenen Einrichtungen der Gemeinde gibt es immer den Druck, sich an die Regeln zu halten. Weil unsere Arbeit hier so vielfältig ist und mit Menschen zu tun hat, deren Bedürfnisse so grundlegend sind und die nichts mehr zu verbergen haben, hilft es mir, bei meiner Arbeit authentisch zu sein. Es gibt keinen so großen Unterschied zwischen dem, was ich bei der Arbeit, und dem, was ich außerhalb der Arbeit bin.“

Inmitten der Ruhelosigkeit reizbarer Drogensüchtiger, die für ihr nächstes Hochgefühl lügen und betrügen, gibt es auch häufig Momente der Menschlichkeit und der gegenseitigen Unterstützung. „Es gibt immer wieder erstaunliche Momente der Wärme“, sagt Kim. „Obwohl es eine Menge Gewalt gibt, sehe ich viele Menschen, die sich umeinander kümmern“, fügt Bethany Jeal hinzu, eine Krankenschwester von Insite, dem ersten betreuten Drogenkonsumraum Nordamerikas, der sich in Hastings, zwei Blocks vom Portland entfernt, befindet. „Sie teilen sich Essen, Kleidung und Make-up – alles, was sie haben.“ Die Menschen kümmern sich, wenn jemand krank ist, sie berichten mit Besorgnis und Mitgefühl über den Zustand eines Freundes und sind oft anderen gegenüber freundlicher als normalerweise sich selbst gegenüber.

„Da, wo ich wohne“, erzählt Kerstin, „kenne ich die Person, die zwei Häuser weiter wohnt, nicht. Ich weiß vielleicht vage, wie sie aussieht, aber ihren Namen kenne ich ganz sicher nicht. Hier ist es anders. Hier kennt man sich, und das hat seine Vor- und Nachteile. Es bedeutet, dass die Menschen aufeinander schimpfen und wütend sind, und es bedeutet auch, dass die Menschen ihre letzten fünf Pennys miteinander teilen.“

„Die Menschen hier sind sehr roh, was sich in Gewalt und Hässlichkeit ausdrückt und auch oft in den Medien hervorgehoben wird. Aber diese Rohheit bringt auch unverfälschte Gefühle der Freude und Freudentränen hervor – wenn jemand eine Blume sieht, die mir nicht aufgefallen ist, aber jemandem, der in einem Einzelzimmer im Washington Hotel lebt und jeden Tag hier unterwegs ist. Das ist seine Welt, und er achtet auf andere Details als ich …“

Auch der Humor kommt nicht zu kurz. Wenn ich meine Hastings-Runden von einem Hotel zum anderen mache, werde ich Zeuge von viel Schulterklopfen und lautstarkem Gelächter. „Doctor, doctor, gimme the news“, ertönt ein jazziger Singsang unter dem Torbogen des Washington. „Hey, you need a shot of rhythm an’ blues“, singe ich über die Schulter zurück. Kein Grund, mich umzudrehen. Mein Partner in diesem gut einstudierten musikalischen Ritual ist Wayne, ein sonnenverbrannter Mann mit langen, schmutzigen blonden Locken und Schwarzenegger-Armen, die vom Handgelenk bis zum Bizeps tätowiert sind.

Ich warte darauf, eine Kreuzung mit Laura zu überqueren, einer Ureinwohnerin in den Vierzigern, deren beängstigende Lebensgeschichte, Drogenabhängigkeit, Alkoholismus und HIV ihren schelmischen Witz nicht ausgelöscht haben. Als die rote Hand an der Fußgängerampel blinkt und der kleinen gehenden Figur weicht, ertönt Lauras leicht spöttische Stimme: „Weißer Mann sagt: Los.“ Wir haben noch ein paar Häuserblöcke entlang den gleichen Weg und die ganze Zeit kichert Laura laut über ihren Witz. Mir geht es ebenso.

Die Witze sind oft herzhaft selbstverspottend. „Früher schaffte ich beim Bankdrücken neunzig Kilo, Doc“, sagt Tony, abgemagert, geschrumpft und durch AIDS bereits vom Tod gezeichnet, bei einem seiner letzten Praxisbesuche. „Jetzt kriege ich nicht mal mehr meinen eigenen Schwanz hoch.“

Wenn mich meine süchtigen Patienten anschauen, suchen sie nach meinem wahren Ich. Wie Kinder sind sie unbeeindruckt von Titeln, Errungenschaften und weltlichen Referenzen. Ihre Sorgen sind zu unmittelbar, zu dringlich. Wenn sie anfangen, mich zu mögen oder meine Arbeit mit ihnen zu schätzen, zeigen sie spontan ihren Stolz darüber, einen Arzt zu haben, der gelegentlich im Fernsehen interviewt wird und Bücher schreibt. Aber nur dann. Was sie interessiert, ist meine Präsenz oder Abwesenheit als Mensch. Sie prüfen mit untrüglichem Auge, ob ich an jedem beliebigen Tag genug geerdet bin, um zu ihnen zu kommen und ihnen als Menschen zuzuhören, deren Gefühle, Hoffnungen und Bestrebungen ebenso berechtigt sind wie meine. Sie erkennen sofort, ob ich mich wirklich für ihr Wohlergehen einsetze oder nur versuche, sie mir vom Hals zu schaffen. Da sie durchgehend nicht in der Lage sind, sich selbst eine solche Fürsorge zu bieten, nehmen sie umso sensibler wahr, ob sie bei denjenigen vorhanden ist, die sich um sie kümmern sollen.

Es ist belebend, in einer Atmosphäre zu arbeiten, die so weit vom normalen Arbeitsalltag entfernt ist, in einer Atmosphäre, die auf Authentizität besteht. Ob es uns bewusst ist oder nicht, die meisten von uns sehnen sich nach Authentizität, nach einer Realität jenseits von Rollenbildern, Etiketten und sorgfältig gefeilten Persönlichkeiten. Mit all seinen schwärenden Problemen, Funktionsstörungen, Krankheiten und Verbrechen bietet das Downtown Eastside die frische Luft der Wahrheit, auch wenn es sich um die entblößte, ausgefranste Wahrheit der Verzweiflung handelt. Sie hält einen Spiegel hoch, in dem wir alle, als einzelne Menschen und insgesamt als Gesellschaft, uns selbst erkennen können. Die Angst, der Schmerz und die Sehnsucht, die wir sehen, sind unsere eigene Angst, unser eigener Schmerz und unsere eigene Sehnsucht. Auch uns gelten die Schönheit und das Mitgefühl, das wir hier erleben, ebenso wie der Mut und die große Entschlossenheit, das Leiden zu überwinden.

* Wie Vancouver international oft beschrieben wird, zuletzt in der New York Times vom 8. Juli 2007.

Im Reich der hungrigen Geister

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