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Die hungrigen Geister:
Im Reich der Süchte
ОглавлениеDer Cassius dort hat einen hohlen Blick.
WILLIAM SHAKESPEARE
Julius Cäsar
Das buddhistische Lebensrad in Gestalt eines Mandalas durchläuft sechs Bereiche. Jeder Bereich wird von Charakteren bevölkert, die Aspekte der menschlichen Existenz repräsentieren – unsere verschiedenen Wege des Seins. In der Welt der Tiere werden wir von grundlegenden Überlebensinstinkten und Begierden wie physischem Hunger und Sexualität getrieben, dem, was Freud das Es nannte. Die Wesen des Höllenreichs sind in Zuständen unerträglicher Wut und Angst gefangen. In der Welt der Götter transzendieren wir unsere Sorgen und unser Ego durch sinnliche, ästhetische oder religiöse Erfahrungen, aber nur vorübergehend und in Unkenntnis der spirituellen Wahrheit. Selbst dieser beneidenswerte Zustand ist von Verlust und Leid geprägt.
Die Bewohner der Welt der Hungergeister werden als Kreaturen mit dürren Hälsen, kleinen Mündern, abgemagerten Gliedmaßen und großen, aufgeblähten, leeren Bäuchen dargestellt. Dies ist der Bereich der Sucht, in dem wir ständig nach etwas außerhalb von uns selbst suchen, um die unstillbare Sehnsucht nach Erlösung oder Erfüllung zu dämpfen. Die schmerzende Leere ist immerwährend, weil die Substanzen, Objekte oder Bestrebungen, von denen wir hoffen, dass sie sie lindern, nicht das sind, was wir wirklich brauchen. Wir wissen nicht, was wir brauchen, und solange wir uns im Zustand der hungrigen Geister befinden, werden wir es nie wissen. Wir geistern durch unser Leben, ohne vollständig präsent zu sein.
Manche Menschen verbringen einen Großteil ihres Lebens in dem einen oder anderen Bereich. Viele von uns bewegen sich zwischen ihnen hin und her, vielleicht sogar durch alle hindurch, im Laufe eines einzigen Tages.
Meine medizinische Arbeit mit Drogensüchtigen in Vancouvers Stadtteil Downtown Eastside hat mir die einzigartige Gelegenheit gegeben, Menschen kennenzulernen, die fast ihre ganze Zeit als Hungergeister verbringen. Es ist ihr Versuch, so glaube ich, dem Höllenreich mit seiner überwältigenden Angst, Wut und Verzweiflung zu entkommen. Die schmerzhafte Sehnsucht in ihren Herzen spiegelt etwas von der Leere wider, die auch Menschen mit einem scheinbar glücklicheren Leben erfahren können. Diejenigen, die wir als „Junkies“ abtun, sind keine Geschöpfe aus einer anderen Welt, sondern nur Männer und Frauen, die am äußersten Ende eines Kontinuums feststecken, auf dem wir uns alle hier oder dort durchaus wiederfinden könnten. Das kann ich persönlich bezeugen. „Sie schleichen mit einem hungrigen Blick um Ihr Leben herum“, sagte einmal jemand zu mir, der mir nahestand. Angesichts der schädlichen Zwänge meiner Patienten musste ich mich mit meinen eigenen auseinandersetzen.
Keine Gesellschaft kann sich selbst verstehen, ohne ihre Schattenseiten zu betrachten. Ich glaube, dass allen derselbe Suchtprozess zugrunde liegt, sei es der Abhängigkeit meiner Downtown-Eastside-Patienten von tödlichen Substanzen, der verzweifelten Selbstbefriedigung durch übermäßiges Essen oder dem zwanghaften Shoppen, der Besessenheit von Spielern, Sexsüchtigen und zwanghaften Internetnutzern oder dem gesellschaftlich akzeptablen und sogar bewunderten Verhalten von Workaholics. Drogensüchtige werden oft abgelehnt und abgewertet, als verdienten sie kein Mitgefühl und keinen Respekt. Mit dem Erzählen ihrer Geschichten verfolge ich eine doppelte Absicht: Ich möchte dazu beitragen, dass ihre Stimmen gehört werden, und ich möchte Licht bringen in den Ursprung und das Wesen ihres unglückseligen Kampfes um die Überwindung ihres Leidens durch Drogenmissbrauch. Sie haben viel gemeinsam mit der Gesellschaft, die sie ausgrenzt. Auch wenn sie scheinbar einen Weg ins Nichts gewählt haben, haben sie uns anderen noch viel beizubringen. Im dunklen Spiegel ihres Lebens können wir unsere eigenen Umrisse erkennen.
Es gibt eine Reihe von Fragen, die zu berücksichtigen sind, zum Beispiel:
• Was sind die Ursachen von Süchten?
• Was ist das Wesen der suchtgefährdeten Persönlichkeit?
• Was geschieht physiologisch in den Gehirnen von Suchtkranken?
• Wie viele Wahlmöglichkeiten hat der Süchtige wirklich?
• Warum ist der „Kampf gegen Drogen“ ein Fehlschlag und was könnte ein humaner, evidenzbasierter Ansatz zur Behandlung schwerer Drogenabhängigkeit sein?
• Wie könnten einige Süchtige, die nicht von starken Substanzen abhängig sind, erlöst werden – das heißt, wie nähern wir uns der Heilung der vielen Verhaltensabhängigkeiten, die durch unsere Kultur gefördert werden?
Die erzählerischen Passagen in diesem Buch basieren auf meinen Erfahrungen als Arzt im Drogenghetto von Vancouver und auf ausführlichen Interviews mit meinen Patienten – von denen es mehr gibt, als ich anführen kann. Viele von ihnen haben sich freiwillig gemeldet, in der großzügigen Hoffnung, dass ihre Lebensgeschichte anderen helfen könnte, die mit Suchtproblemen zu kämpfen haben, oder dass sie dazu beitragen könnten, die Gesellschaft über Suchterfahrung aufzuklären. Ich präsentiere auch Informationen, Reflexionen und Einsichten, die ich aus vielen anderen Quellen gewonnen habe, einschließlich meines eigenen Suchtmusters. Und schließlich biete ich eine Synthese dessen, was wir aus der Forschungsliteratur über Sucht und die Entwicklung des menschlichen Gehirns und der Persönlichkeit lernen können.
Obwohl die Schlusskapitel Gedanken und Anregungen zur Heilung des süchtigen Geistes bieten, ist dieses Buch keine Anleitung. Ich kann nur sagen, was ich als Mensch gelernt habe, und beschreiben, was ich als Arzt erlebt und begriffen habe. Nicht jede Geschichte hat ein Happy End, wie der Leser herausfinden wird, aber die Entdeckungen der Wissenschaft, die Lehren des Herzens und die Offenbarungen der Seele versichern uns, dass jeder Mensch eine Chance auf Erlösung hat. Die Möglichkeit der Erneuerung besteht, solange es das Leben gibt. Wie wir diese Möglichkeit in anderen und in uns selbst fördern können, ist die ultimative Frage.
Ich widme diese Arbeit all meinen Hungergeister-Gefährten, seien es HIV-infizierte Obdachlose in den Innenstädten, Gefängnisinsassen oder ihre glücklicheren Pendants, die ein Zuhause, eine Familie, einen Arbeitsplatz und eine erfolgreiche Karriere haben. Mögen wir alle Frieden finden.