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KAPITEL 5 Angelas Großvater

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Angela McDowell ist eine Prinzessin der Küsten-Salish, einer indigenen Gruppe, die an der Pazifikküste Nordamerikas in British Columbia, Washington und Oregon beheimatet ist. Sie hat eine aufrechte Haltung, ein ovales Gesicht, dunkle Augen und lange, schwarze Haare, die in Wellen auf ihre Schultern fallen. Hier in Downtown Eastside lebt sie das Leben einer Exilantin. Eine lange, horizontale Narbe überzieht ihre linke Wange. „Ein Mädchen hat mich geschnitten, als ich ins Sunrise Hotel zog“, erzählt sie mir in einem sachlichen Ton.

Sie kommt immer zu spät zu den Terminen, wenn sie diese überhaupt wahrnimmt. Oft übersteht sie einige Tage den Entzug ohne Methadon, bevor sie ihr Rezept einlöst. Oder sie spritzt sich Straßenheroin.

Als Dichterin trägt Angela in ihrer Handtasche ein rosafarbenes Notizbuch mit einer Spiralheftung. Auf jeder Seite stehen in fein säuberlicher Handschrift naive Reime von Hoffnung und Verlust, Trostlosigkeit und Möglichkeiten. Einige, so meine ich, sind authentischer als andere. „Eines Tages werden wir mit dieser Sucht, die wir bekämpfen / alle gewinnen und das Licht sehen“, beschwört sie am Ende eines Gedichts ein Leben, das geprägt ist von der Jagd nach der elenden Droge. Ich habe meine Zweifel: Sind dies ihre wahren Gefühle, oder schreibt sie das, was sie für die angemessene Empfindung hält?

Ich weiß jedoch, dass sie an einem realen Ort gewesen ist, und die Wahrheit, die sie dort erblickt hat, verleiht ihr Autorität. Die Freude, die sie vor langer Zeit erlebt hat, ist in ihrem umwerfend strahlenden Lächeln gegenwärtig. Wenn sich ihre Lippen öffnen, um zu lachen oder zu lächeln, zeigen sich zwei Reihen perfekter, weißer Zähne, die in dieser Ecke der Welt durchaus auffallen. Ihre Augen leuchten, die Anspannung in ihrem Gesicht löst sich und ihre Narbe verblasst. „Die Heilung ist in mir“, sagt sie mir eines Tages. „Ich habe die Stimmen meiner Vorfahren gehört. Als Kind hatte ich einen wirklich mächtigen Geist.“

Angela wurde zusammen mit ihren Brüdern und ihrer Schwester von ihrem Großvater, einem großen Schamanen ihres Stammes, erzogen. „Er war der letzte überlebende McDowell seiner Familie. Alle seine Brüder, Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten wurden getötet, daher wurde mein Großvater in ein Internat geschickt und dort aufgezogen, seit er ein kleiner Junge war. Er wuchs heran, heiratete meine Großmutter und bekam alle seine Kinder – elf Mädchen und drei Jungen. Er trug den Geist all unserer Vorfahren in sich. Jedes First Nation Reservat hat seine eigenen Mächte und Geister. Wir, die Küsten-Salish, tragen die Gabe … – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll – wir können den Tod nahezu vorhersagen. Wir sehen Geister. Wir sehen über das Sichtbare hinaus. Wir sehen die andere Seite.“ Sie schüttelt den Kopf, als wolle sie einem Missverständnis meinerseits entgegentreten. „Es ist nicht so, als ob man ein klares Bild sieht – eher so, als ob man etwas aus den Augenwinkeln sieht. Dies ist eine Gabe, die mir überliefert wurde.“

Ein Jahr, bevor Angelas Großvater starb, –sie war sieben Jahre alt–, begann er, sich damit zu beschäftigen, welcher seiner Nachkommen die Gabe weitertragen sollte. „Er musste uns auf seinen Tod vorbereiten und sehen, wer von uns auserwählt wurde. Ein Jahr lang gingen wir jeden Tag zum Fluss, immer an dieselbe Stelle, und nahmen ein Zedernbad – alle Kinder.“

Der Schriftsteller, Kulturkommentator, Süchtige und Bankräuber Stephen Reid hat mir erklärt, dass das spirituelle Bad in kaltem Wasser mit Zedernblättern eine heilige Zeremonie der Küsten-Salish ist. Zurzeit verbüßt er eine lange Gefängnisstrafe im William-Head-Gefängnis auf Vancouver Island, studiert mit einem Salish-Ältesten, der zu Besuch kommt, und fühlt sich hoch geehrt, am spirituellen Bad teilnehmen zu dürfen. In den Erzählungen von Stephen und Angela klingt es wie ein zermürbendes Ritual, das der spirituellen Reinigung dient.

Um fünf Uhr morgens, es ist schon später Winter, führten der alte Mann und seine Frau die Kinder zu einer Gruppe von Zedernbäumen am Flussufer. Im Sommer wie im Winter lagen die Kinder am Ufer, nackt ausgezogen. Der Schamane sang, während ihre Großmutter kleine Zweige von den Stellen riss, wo die aufgehende Sonne auf die Bäume schien. Dann tauchte sie in absoluter Stille, man hörte nur das Rascheln der Blätter und das Rauschen des Baches, die Zweige in das kalte, sprudelnde Wasser. Sie badete die Kinder und bürstete mit den Zweigen ihre Körper. „Sie haben uns abgewaschen und gereinigt und uns für unser Erwachsenenleben gestärkt“, sagt Angela, „um uns darauf vorzubereiten, dass wir keine Knochenbrüche erleiden und dass wir, wenn wir krank sind, nicht sehr lange krank bleiben. Und es war auch eine Möglichkeit für meinen Großvater, herauszufinden, welches von uns Kindern stark genug ist, um die Spiritualität weiterzuführen. Alle unsere Vorfahren leben in diesem Auserwählten weiter.“

„Wie findet er das heraus?“

„Du stehst in eiskaltem Wasser und es fühlt sich an, als würden sie dir die Haut von der Haut kratzen – das ist für ein kleines Kind kein Vergnügen. Wir glaubten nicht, dass es das war, was er uns erzählte. Aber schon bald konnte ich Trommeln hören – die Trommeln der Ureinwohner. Nach einer Weile war es das, was mich beruhigte, das, was ich hörte. Als mein Großvater betete und meine Großmutter mich badete, konnte ich Trommeln hören. Es war so kalt und wir mussten still liegen. Ich beschloss, dass der einzige Weg, es zu überstehen, darin bestand, nicht wahrzunehmen, was mein Körper fühlte. Ich lag einfach nur da, hörte den Trommeln zu und ließ es geschehen. Als die Zeit verging und es schneite, begann ich einen leisen, ruhigen, schönen Gesang in einer Sprache zu hören, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Es war die Musik der Ureinwohner. Seltsam war, dass ich damals noch nicht wusste, wie man Küsten-Salish spricht, aber in dem Moment sang ich mit.“

Ich höre Angela mit Faszination und einer vagen Sehnsucht zu – es ist das Gefühl der verlorenen Verbindung zu vergangenen Generationen. In meinem Leben gab es keine Großeltern. Angela ist durchdrungen von Traditionen und der Welt der Geister. Sie hat die Stimmen ihrer Vorfahren gehört. Ich lese die Stimmen meiner Vorfahren, aber ich höre nur meine eigenen Gedanken.

„Woher kommt das Lied?“, fragte der Schamane Angela eines Tages, als er seine Frau beobachtete, wie sie das Kind mit den Zedernzweigen bürstete, und sah, dass sie, das kleine Mädchen, nicht litt. Sie wurde ihm gebracht, das wusste er, und könnte nun seine Führerin sein. Die beiden gingen langsam den Weg am Fluss entlang und ließen Angelas Brüder, Schwester und Großmutter zurück, bis sie ganz allein waren. Und dort saßen sie auf einer Lichtung, der Schamane und seine junge Enkelin, und lauschten den Stimmen der Toten ihres Stammes. Die Toten vieler Generationen klagten, jammerten und sangen in einer alten Sprache von ihrem Leben, erzählten ihre Geschichten und wie sie seit der Ankunft des weißen Volkes und bereits davor gearbeitet und gekämpft hatten und wie sie gestorben waren. Angela erfuhr die Geschichten und alle Weisheiten.

Ich sehe es in ihr. Ich habe miterlebt, wie sie in meiner Praxis anderen Süchtigen gegenüber Worte des Mitgefühls und des Trostes sprach. Ich war auch beeindruckt von der stillen Zuversicht, mit der sie bei einer öffentlichen Veranstaltung in der Zentralbibliothek von Vancouver die Bühne betrat.

Ich hielt einen Vortrag über Sucht und hatte Angela eingeladen, ihre Gedichte vorzutragen, und wie immer kam sie zu spät. Als ich sie vorstellte, schritt sie zielstrebig von ihrem hinteren Platz auf das Podium zu. Unbekümmert blickte sie über die dreihundert Zuhörer und rezitierte ihre Werke mit klarer, klangvoller Stimme, als wäre es für sie eine selbstverständliche, alltägliche Praxis. Es war eine bewegende Darbietung, die von ihren Zuhörern mit langem und warmem Applaus belohnt wurde.

Diese Lichtung am Fluss ist nach wie vor Angelas Ort der Erhabenheit, auch wenn ihre Verbindung dorthin durch Misshandlungen später in ihrer Kindheit verdunkelt wurde. Sie ist weit weg davongelaufen und weiß nicht, ob sie jemals zurückkehren wird. Sie ist heute keine Hüterin der heiligen Stammesüberlieferungen mehr, sondern lebt in Downtown Eastside als kokainabhängige Hinterhof-Stricherin. „Blow for your dough / play for your pay“ [„Einen blasen für Geld / spielen gegen Lohn“], sagt sie in einem Gedicht.

Doch ihr fröhliches Lächeln und ihre patrizische Autorität verdankt sie ihrem tiefen Wissen, dass es einen solchen Ort gibt und dass sie dort gewesen ist und die Stimmen gehört hat. Sie sprechen zu ihr durch all ihr Elend hindurch. Sie helfen ihr immer noch, sich selbst zu finden. „Spiegel meines inneren Selbst, was sehen andere?“, fragt Angela in einem ihrer Verse. „Ist es die Wahrheit in meinem Herzen oder menschliche Eitelkeit? Und was sehe ich?“

Im Reich der hungrigen Geister

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