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KAPITEL 7 Beethovens Geburtszimmer

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Mir ist es anfangs kaum bewusst, aber Ralph und ich sind bei unserem ersten Treffen dabei, eine spannende Geschichtsdebatte zu führen. Ein dünner, großer Mann mittleren Alters mit hängenden Wangen humpelt in meine Praxis und stützt sich dabei auf einen Stock. Ein Großteil seiner Kopfhaut ist rasiert, eine ungeschickte Selbstrasur mit unebenen Flecken und Schnitten vom Rasiermesser. Sein tief schwarz gefärbtes Haar mit notdürftigem Irokesenschnitt ziert den Scheitel seines Kopfes. Der Hitlerschnurrbart unter seiner Nase ist kein eitles modisches Accessoire, wie unser Gespräch bald zeigen wird.

Der Zweck dieses Besuchs besteht für mich darin, seine Krankengeschichte aufzunehmen, Medikamente zu verschreiben und das Sozialhilfeformular auszufüllen, das Ralph zu einem monatlichen Lebensmittelzuschuss berechtigt. Sein linker Knöchel, der bei einem Arbeitsunfall verletzt worden war, entwickelte in der Folge eine Arthritis, außerdem verhinderte seine Drogensucht eine angemessene medizinische Behandlung. Sein Schmerzmittelbedarf ist legitim, und trotz seiner Drogenabhängigkeit werde ich ihm das Morphium nicht vorenthalten. Auf jeden Fall sind Stimulanzien Ralphs bevorzugte Drogen, wobei Kokain für ihn am wichtigsten ist.

Ich werde Ralph bald als einen der intellektuell begabtesten Menschen kennenlernen, die ich je getroffen habe. Er ist auch ein zutiefst trauriger Mensch – eine verlorene poetische Seele mit einer hoffnungslosen, unerfüllten Sehnsucht nach menschlicher Verbundenheit. Neben seinem breit gefächerten, aber undisziplinierten Intellekt, der es mit jedem Gedanken oder Gefühl, das ihn beherrscht, aufnehmen kann, verfügt er über einen scharfen, selbstironischen Humor. Wenn er unter dem Einfluss der von ihm verwendeten Stimulanzien steht, kann er höchst aggressiv und sogar gewalttätig sein. „Ich bin ein schizo-affektiver, zwanghafter, hyperaktiver, paranoider Depressiver mit bipolaren Tendenzen, die sich mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung überlagern. Außerdem leide ich an halluzinatorischen Zuständen, die durch Drogen ausgelöst werden“, verkündet er einleitend. „All diese Diagnosen wurden mir bereits von dem einen oder anderen Psychiater gestellt“, erklärt er weiter. „Ich war bei vielen.“

Wegen des Lebensmittelzuschusses führt Ralph alle entscheidenden Aspekte an. „Ich brauche frisches Fleisch, Gemüse und Fisch, Wasser in Flaschen und Vitamine. Ich habe Hepatitis C und Diabetes.“

Je mehr Krankheiten eine Person nachweisen kann, desto größer ist die zu erwartende finanzielle Unterstützung. Süchtige, die täglich etwa hundert Dollar oder mehr für ihre illegalen Drogen ausgeben und oft gesundheitsrelevante Termine versäumen, verpassen selten den Zeitpunkt, wenn sie wieder ihre Papiere für die monatlichen zwanzig, vierzig oder fünfzig Dollar ausfüllen müssen, die sie als Unterstützung für Lebensmittel erhalten. Ich fülle diese Formulare pflichtbewusst aus, jedoch mit gemischten Gefühlen, denn ich weiß, wo das Geld landen wird. Ich denke, dass es einen besseren Weg geben muss, um diese unterernährten Menschen angemessen zu versorgen. Um ein alternatives System einzurichten, bräuchten wir Mitgefühl, Fantasie und Flexibilität – Eigenschaften, die unser soziales System nicht ohne Weiteres auf die Hardcore-Drogensüchtigen anwendet.

„Außerdem muss ich mich natriumarm ernähren“, sagt Ralph.

„Warum?“

„Ich esse kein Salz. Ich mag kein Salz. Ich kaufe immer Butter ohne Salz … Und was ist Dysphagie?“, fragt er und wirft einen Blick auf die Liste mit den Bedingungen für einen Zuschuss.

„Vom griechischen phag, essen“, erkläre ich. „Dysphagie bedeutet Schwierigkeiten beim Schlucken.“

„Oh, ja, ich habe Schluckbeschwerden. Und ich muss mich glutenfrei ernähren …“

„Das kann ich nicht alles aufschreiben. Ich habe keine medizinischen Anhaltspunkte dafür, dass Sie Diabetes, Dysphagie oder irgendein salz- oder glutenbedingtes Problem haben.“

Ralphs unmittelbare Reaktion, ein brummeliges Knurren, ist ein spezielles, herausforderndes Hörerlebnis. Den Anfang seines nächsten Satzes kann ich nicht verstehen, er endet mit „… reiche amerikanische Touristen lachen uns aus … amerikanische Juden …“

„Amerikanische was?“

„Amerikanische Juden.“

Ich bin überrascht über diese Wendung des Gesprächs.

„Was ist mit ihnen?“

„Sie lachen über uns. Sie sind so verdammt bösartig … sie fressen die ganze verdammte Welt auf.“

„Amerikanische Juden sind …? Sie sprechen mit einem kanadischen Juden.“

„Ungarischen Juden, habe ich gehört.“ Ralphs trübe Augen haben einen bösartigen Glanz und sein mürrisches Stirnrunzeln verwandelt sich in ein Grinsen.

„Kanadischer und ungarischer Jude“, gebe ich zu.

„Ungarischer Jude“, beharrt Ralph. „‚Arbeit macht frei‘*… Heh, heh … Wissen Sie noch, was das heißt?“

„Ja. Finden Sie das lustig?“

„Natürlich nicht.“

„Wissen Sie, dass meine Großeltern in Auschwitz unter dem Schild mit diesem Schriftzug getötet wurden? Mein Großvater war Arzt.“

„Er hat die Deutschen verhungern lassen“, sagt Ralph, als ob er eine unbestreitbare Tatsache festhält.

Das hätte mein Stichwort sein sollen, um die Diskussion zu beenden. Mich drängt jedoch meine Entschlossenheit, meine professionelle Ruhe und den therapeutischen Kontakt zum Patienten zu bewahren. Außerdem bin ich neugierig zu erfahren, was es mit diesem Mann auf sich hat.

„Mein Großvater war Arzt in der Slowakei. Wie hat er die Deutschen verhungern lassen?“

Ralphs gelassene Pseudo-Rationalität verflüchtigt sich im Bruchteil einer Sekunde. Seine bleichen Wangen zittern vor Wut, seine Stimme hebt sich und das Tempo seiner Rede beschleunigt sich mit jedem Wort. „Die Juden hatten all das Gold, sie nahmen all die Ölgemälde … sie nahmen die ganze Kunst, sie waren die Polizeibeamten, Richter, Anwälte und sie ließen die Deutschen verdammt noch mal verhungern. Dieser Jude Stalin schlachtete 90 Millionen Deutsche ab … die Invasion unseres verdammten Landes … alle wie gelähmt, an Hunger sterbend. Sie wissen das genauso gut wie ich. Ich habe keine Gewissensbissen gegenüber Ihnen und auch keine Trauer.“

Dass ich mir als Jude und Kleinkind, das den Genozid überlebt hat, diese Faseleien ruhig anhören kann, liegt daran, dass ich weiß, dass sie nicht von mir oder meinen Großeltern oder gar vom Zweiten Weltkrieg oder von Nazis und Juden handeln. Ralph stellt den schrecklichen Aufruhr seiner Seele zur Schau. Die leidenden Deutschen und raffgierigen Juden in seiner Erzählung sind Projektionen seiner eigenen Phantome. Der unberechenbare Mischmasch, den er Geschichte nennt, spiegelt sein inneres Chaos, seine Verwirrung und seine Angst wider. „Als Kind bin ich in Deutschland verhungert, und auch in diesem Land bin ich verdammt noch mal verhungert … ich kam 1961 hierher.“ (Ralph kam als Teenager.) „Scheiß Kanadier. Ich hasse die Kanadier.“

Es ist an der Zeit, ethnische Zusammenhänge und die Geschichte hinter sich zu lassen. „Okay“, sage ich. „Mal sehen, wie das Morphium bei Ihnen wirkt.“

„Wie viel bekomme ich?“

„Es reicht für vier oder fünf Tage. Dann muss ich Sie wieder sehen.“

„Ich hasse es, ständig in die Arztpraxis zu kommen. Ich hasse die Arztpraxis. Es ist Zeitverschwendung.“

„Ich hasse auch die Tankstelle“, versichere ich ihm, „aber ich fahre hin, sonst geht mir das Benzin aus.“

Ralph ist versöhnlich. „Danke, mein Herr“, erwidert er auf Deutsch. „… nichts für ungut.“

„Nein“, sage ich.

Wir tauschen auf Deutsch ein herzliches Auf Wiedersehen aus, um diese - unsere erste - Begegnung zu beenden. Es wird noch viele weitere geben, einige enden damit, dass Ralph zum Abschied den Arm zum Hitlergruß hochreißt. Wenn er wütend ist, weil ich mich weigere, ihm das eine oder andere Medikament zu verschreiben, schreit er: „Heil Hitler!“ oder „Arbeit macht frei!“ oder die immerwährende Beschimpfung „Schmutziger Jude“. Nicht, dass ich endlose Toleranz gegenüber Nazi-Parolen habe, die er auf Deutsch auf mich abfeuert! Im Allgemeinen stehe ich auf, wenn die Schimpftirade beginnt, und öffne die Tür, um das Ende des Besuchs zu signalisieren. Ralph geht normalerweise auf den Wink ein, aber einmal musste ich ihm mit der Polizei drohen, sollte er sich nicht schnellstens aus meinem Büro entfernen.

———

Das Deutsch, das Ralph spricht, ist nicht immer voller hasserfüllter Beschimpfungen. Er deklamiert im Stakkato in fließendem Deutsch oder er rezitiert Zeilen aus der Ilias in einer Sprache, die wie Altgriechisch klingt. Bei unserem zweiten Treffen bricht er in einen Schwall deutschsprachiger Rezitationen aus; das einzige Wort, das ich erkenne, ist „Zarathustra“. „Nietzsche“, erklärt er. „Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge …“

Diese Zeilen von Nietzsche gleiten ihm schnell von der Zunge, ebenso wie Zitate aus anderen Klassikern der Literatur seines Heimatlandes. Es ist unmöglich zu erkennen, wie viel Wahrheit in seinen eigentümlichen Anekdoten steckt, aber seine kulturellen Kenntnisse sind beeindruckend – umso mehr, als sie weitgehend selbst erworben zu sein scheinen. Seine Behauptungen, er habe irgendwo das College abgeschlossen, erscheinen mir zweifelhaft. Diplom hin oder her, er ist auf jeden Fall belesen.

„Ich liebe Dostojewski“, teilt er mir eines Tages mit. Ich beschließe, ihn zu prüfen.

„Mein Lieblingsautor“, sage ich. „Was haben Sie von ihm gelesen?“

„Oh“, antwortet Ralph und leiert nonchalant einige Titel der Romane und Kurzgeschichten des russischen Autors herunter: „Der Idiot, Schuld und Sühne, Der Spieler– das gefiel mir besonders gut, wissen Sie, weil es um einen Suchtkranken geht –, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Die Brüder Karamasow habe ich nicht geschafft. Zu lang.“

Ein anderes Mal erzählt er mir von einem Abenteuer, das er als Jugendlicher erlebt hat, als er zu Besuch in Deutschland war.

„Ich nahm dieses Mädchen mit in Beethovens Geburtszimmer.“

Ich erinnere mich an mein rudimentäres Deutsch aus der Kindheit – geboren: to be born; Zimmer: room. „Beethovens Geburtszimmer?“

„Ich nahm etwas Wein, Käse und etwas Salami mit sowie ein bisschen Marihuana. Ja, das Zimmer, in dem er geboren wurde. Wir sind eingebrochen. Ich knackte das Schloss, nahm dieses Mädchen mit, spielte auf seinem Klavier und hatte eine tolle Zeit.“

„Ha“, sage ich und hebe skeptisch eine Augenbraue. „In welcher Stadt war das?“ Ein weiterer Test.

„Bonn.“

„Ja, Beethoven wurde in Bonn geboren“, murmelte ich.

Ralph, ein bisschen Kokain-durchgeknallt, geht spontan zu einer völlig unerwarteten Aufführung über.

„Hier ist ein Gedicht von mir, das Ihnen gefallen könnte. Es heißt ‚Präludium‘.“ Sein mit einer tiefen, körnigen Stimme vorgetragenes Stakkato-Rezital ist so schnell, dass man als Zuhörer kaum mitbekommt, ob er zwischendrin Luft holt. Das Gedicht besteht aus Paarreimen in durchgehendem Pentameter. Es handelt von Einsamkeit, Verlust und Fatalismus.

„Haben Sie das geschrieben?“

„Ja. Ich habe fünfhundert Seiten Gedichte geschrieben. Es war mein Leben. Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben sind. Ich war fünf Jahre lang obdachlos. Ich ließ meine Gedichte in einem Hostel, wo ich eine Woche lang gewohnt hatte. Sie wollten hundert Dollar haben, wenn ich mein Zeug zurückhaben wollte, aber ich konnte es mir nicht leisten. Vielleicht wurde es versteigert, vielleicht hat es der Wachmann bekommen, vielleicht ist es in den Müll gewandert. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur an wenige Texte. Es ist alles weg. Ich habe alles verloren.“

Ralph ist für einen Moment ungewohnt nachdenklich. Plötzlich leuchtet sein Gesicht auf. „Das werden Sie erkennen“, sagt er und deklamiert in schnell gesprochenen Reimen auf Deutsch. Ich konnte die Sprache nie fließend sprechen, ich verstehe nichts von dem, aber ich rate gerne. „Das klingt mehr nach Goethe als nach Goebbels.“

„Ist es auch“, bestätigt Ralph triumphierend. „Die letzten acht Zeilen von Faust“. Ohne eine Zeile auszulassen, rezitiert er auf Englisch:

All things transitory

Are but a parable,

Earth’s insufficiency

Here finds fulfillment.

The ineffable

Wins life through love.

The eternal feminine

Leads us above

[Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche,

Hier wird’s Ereignis;

Das Unbeschreibliche,

Hier ist’s getan;

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan.]

Er trägt die Verse ohne die übliche Hast vor, seine Stimme ist weich und sanft.

Als ich an diesem Abend wieder zu Hause bin, nehme ich Faust II aus dem Bücherregal und blättere zur letzten Seite. Da steht es: Goethes Lobgesang auf die spirituelle Erleuchtung, die selige Vereinigung des menschlichen Geistes mit dem weiblichen Prinzip, mit der göttlichen Liebe. Goethe stellt, wie Dante in Die Göttliche Komödie, die göttliche Liebe als weibliche Eigenschaft dar. Ich finde Ralphs Übersetzung von Goethe, sei es seine eigene oder eine auswendig gelernte, bewegender als die Version, die ich in meinen Händen halte.

Während ich die Verse des großen deutschen Dichters in meinem gemütlichen Zuhause in einem gehobenen, grünen Vancouver-Viertel lese, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ralph, unterstützt von seinem Stock, in diesem Moment irgendwo in der düsteren und schmutzigen Hastings unterwegs ist und es ihn nach seinem nächsten Kokain-Trip drängt. Und in seinem Herzen wünscht er sich Schönheit, nicht weniger als ich, und braucht Liebe, genau wie ich.

Wenn ich ihn richtig verstehe, sehnt sich Ralph vor allem nach der Einheit mit der ewig weiblichen caritas – der gesegneten, seelenrettenden göttlichen Liebe. Göttlich bezieht sich hier nicht auf eine übernatürliche Gottheit, sondern auf die unsterbliche Quintessenz der Existenz, die es in uns, durch uns und über uns hinaus gibt. Religionen mögen darin einen Gottesglauben erkennen, aber die Suche nach dem Ewigen geht weit über bekannte religiöse Konzepte hinaus.

Eine Folge spiritueller Entbehrung ist die Sucht, und zwar nicht nur nach Drogen. Auf Konferenzen, die der wissenschaftsbasierten Suchtmedizin gewidmet sind, gibt es immer häufiger Vorträge über den spirituellen Aspekt von Süchten und deren Behandlung. Gegenstand, Form und Schwere von Süchten werden durch viele Einflüsse geprägt – durch die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umstände, die persönliche und familiäre Geschichte sowie physiologische und genetische Veranlagungen –, doch im Kern aller Abhängigkeiten gibt es eine spirituelle Leere. Im Fall von Serena, der Ureinwohnerin von Kelowna, entstand diese Leere durch den unerträglichen Missbrauch, den sie als Kind erlitt – ein Thema, auf das ich später zurückkommen werde. Aber an dieser Stelle genügt es zu sagen, dass Ralph seine Gottessehnsucht, wenn ich sie nicht schon bei seinem Goethe-Rezital gespürt hätte, ein paar Monate später wortreich bestätigte. Aus tiefster Seele sehnt er sich danach, sich mit derselben weiblichen Qualität in seinem Inneren zu verbinden, die seine Streitsüchtigkeit und ungezügelte Aggressivität so bösartig mit Füßen tritt.

Bald darauf, vielleicht schon beim nächsten Termin, muss ich mir wieder Arbeit macht frei, Schmutziger Jude, Heil Hitler anhören. „Steck dir dein Morphium in den Arsch“, schreit Ralph mit einer Stimme wie Schmirgelpapier. „Geben Sie mir Ritalin. Geben Sie mir Kokain. Geben Sie mir Xylocain!“ Er könnte genauso gut sagen: „Geben Sie mir Freiheit oder geben Sie mir den Tod.“ Drogen sind die einzige Freiheit, die er kennt.

———

Durch Blut übertragene bakterielle Infektionen sind häufige Komplikationen des Drogenkonsums, insbesondere angesichts des schlechten hygienischen Zustands vieler Süchtiger in Downtown Eastside. Letztes Jahr wurde Ralph ins Krankenhaus eingeliefert, wo er zwei Monate lang intravenös mit hochwirksamen Antibiotika behandelt werden musste, um eine lebensbedrohliche Sepsis zu heilen.

Gegen Ende seiner Behandlung besuche ich ihn auf der Station im Krankenhaus von Vancouver. Dort treffe ich auf eine Person, die ganz anders ist als der wütende, feindselige Pseudo-Nazi aus meiner Praxis. Er liegt auf dem Rücken, das Kopfteil des Krankenhausbettes leicht erhöht, und ist bis zur Taille mit einem weißen Laken bedeckt. Sein dürrer Brustkorb und seine oberen Gliedmaßen sind entblößt. Sein geschecktes Haar ist nun ordentlich geschnitten und bildet eine kurze Tonsur über seinen rasierten Schläfen. Er winkt mir zur Begrüßung mit seinem linken Arm.

Wir beginnen, über seinen Gesundheitszustand und seine Pläne für die Zeit nach seiner Entlassung zu reden. Ich hoffe, dass ich ihm helfen kann, eine Unterkunft abseits der Drogenszene zu finden. Ralph ist zunächst ambivalent, stimmt aber schließlich zu, dass es eine gute Idee wäre, sich vom Downtown Eastside fernzuhalten.

„Ich bin froh, dass Sie gekommen sind“, sagt er mir. „Daniel war auch da. Wir hatten ein gutes Gespräch.“ Zu dieser Zeit war mein Sohn Daniel als Mitarbeiter für psychische Gesundheit im Portland angestellt. Er besuchte Ralph als Musiker und Songschreiber im Krankenhaus, und die beiden nahmen zusammen fast eine Stunde lang Lieder von Bob Dylan auf. Dabei spielt und zupft Daniel auf seiner Gitarre zu Ralphs rohem, kratzigem Halbbariton. Als Sänger beherrscht Ralph die Melodien erstaunlich unsicher, aber er hat ein Gespür für die emotionale Resonanz von Dylans Texten und seiner Musik.

„Ich entschuldige mich für das, was ich zu Daniel gesagt habe, und ich entschuldige mich bei Ihnen, für den ‚Arbeit macht frei‘-Mist.“

„Ich bin neugierig. Was bedeutet das alles für Sie?“

„Es geht nur um Überlegenheit. Ich glaube sowieso nicht daran. Keine Rasse ist einer anderen überlegen. Vor Gott sind alle Menschen gleich … es ist sowieso egal. Es sind nur Dinge, die einem durch den Kopf gehen. Ich bin im Umfeld des Nationalsozialismus aufgewachsen, so wie Sie auch, nur dass Sie sich auf der anderen Seite befanden. Das war eine unglückselige Situation. Ich entschuldige mich für alles, was ich gegen Sie und Ihren Sohn gesagt habe. Ich wünsche mir echt, bald hier raus zu sein, damit Daniel und ich mehr Musik machen können.“

„Wissen Sie, was mir am meisten Sorge macht, ist, dass es Sie isoliert. Ich schätze, Sie haben gelernt, in der Welt zurechtzukommen, indem Sie extrem feindselig waren.“

„Ich schätze, das stimmt.“ Wenn Ralph emotional bewegt ist, so wie jetzt, wölbt sich die Haut über seinen Unterarmmuskeln wie bei einem Beutel voller Murmeln. „Denn die Leute haben mich schlecht behandelt und … und man lernt, sie auch schlecht zu behandeln. Das ist eine der Möglichkeiten. Es ist nicht der einzige Weg …“

„Das ist ziemlich normal“, sage ich. „Und manchmal kann ich selbst auch ziemlich arrogant sein.“

„Super. Alles, was ich wirklich will … Es ging immer um die Drogen. Ich wollte kein Morphium … Ich wollte Xylocain. Das hätte all meine Probleme gelöst … Es hätte nichts mehr gegeben, wonach es mich gedrängt hätte, nichts, wonach ich auf der Suche gewesen wäre. Es hätte alles gelöst.“

Ralph erklärt auf sehr komplizierte Weise, wie man Xylocain, ein Lokalanästhetikum, zur Inhalation vorbereitet, indem man es mit Backsoda und destilliertem Wasser mischt. Die erhitzte Mischung wird durch ein Stück Scheuerschwamm aus Edelstahl eingeatmet. Er legt großen Wert auf die Inhalationstechnik, bei der, seiner Ansicht nach, die Substanz am Ende langsam durch die Nase ausgeblasen werden muss. Ich höre diesem außergewöhnlichen Vortrag in angewandter Psychopharmakologie fasziniert zu.

„All diese Leute in der Hastings Street und Pender Street und in Downtown Eastside blasen es durch den Mund aus. Das ist lächerlich. Es hat überhaupt keine Wirkung. Um es richtig zu verstoffwechseln, muss es durch die Drüsen der Nasenschleimhaut ins Gehirn gelangen. Wenn es das Gehirn erreicht, wird es verstoffwechselt und blockiert die kleinen Kapillaren, die zu den Gehirnzellen führen …“

„Was empfinden Sie, wenn Sie das tun?“

„Es befreit mich von meinen Schmerzen und meiner Angst. Es nimmt mir meinen Frust. Es gibt mir die reine Essenz des Homunkulus … Sie wissen schon, des Homunkulus im Faust.“

In Goethes epischem Drama ist der Homunkulus ein kleines, in einem Laborkolben erdachtes Wesen aus Feuer. Es ist eine männliche Figur, die sich freiwillig mit dem weiten Ozean, dem göttlich-weiblichen Aspekt der Seele, vereinigt. Nach den mystischen Traditionen aller Glaubensrichtungen und Philosophien ist es ohne eine solche Ego-auflösende Unterwerfung unmöglich, spirituelle Erleuchtung zu erlangen, „den Frieden Gottes, der allen Verstand übersteigt“. Ralph sehnt sich nach nichts weniger.

„Der Homunkulus“, fährt er fort, „ist die Figur, die all das verkörpert, was ich gewesen wäre, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, so zu sein. Aber die hatte ich nicht. Deshalb nehme ich jetzt Xylocain, wenn ich es kriegen kann, oder Kokain, wenn ich es nicht bekomme.“

Ralph hofft, durch das Rauchen einer Glaspfeife einen friedlichen Bewusstseinszustand zu erlangen. „Ich kann nicht der Homunkulus sein“, sagt er, „daher muss ich ein Süchtiger sein.“

„Wie lange hält dieser Effekt an?“, frage ich.

„Fünf Minuten“, sagt er. „Es sollte nicht vierzig Mäuse kosten, nur um den Schmerz für fünf Minuten abzutöten. Und für fünf Minuten Atempause schlage ich mich auf der Hastings Street herum, rauf und runter, rauf und runter, spreche mit meinen Kumpels und erpresse etwas Geld von ihnen. ‚Hör zu, Kumpel, her mit dem Geld, sonst kriegst du einen mit meinem Stock übergezogen.‘„

Unter dem Laken zittert Ralphs nach zwei Monaten Ruhe und Krankenhauspflege etwas voller gewordener Bauch vor Vergnügen, als er von seinem haarsträubenden krummbeinigen Banditentum erzählt. „Meine Kumpel lachen und geben mir ein paar Münzen. Ich habe eine Menge Freunde. Und ich bettle auch. Aber ich muss stundenlang da draußen herumhetzen, nur um den Schmerz für fünf Minuten zu betäuben.“

„Also sind Sie stundenlang beschäftigt, um fünf Minuten lang Erleichterung zu bekommen.“

„Ja, und dann gehe ich wieder raus, und wieder und wieder.“

„Was ist das für ein Schmerz, den Sie abtöten wollen?“

„Zum Teil ist er körperlich, zum Teil emotional. Körperlich auf jeden Fall. Wenn ich etwas Kokain hätte, würde ich jetzt aus diesem Bett steigen und draußen eine Zigarette rauchen.“

Ich sehe, dass Ralph einen vorübergehenden Nutzen aus seinem Drogenkonsum zieht, und sage es ihm auch. Aber erkennt er nicht die negativen Auswirkungen auf sein Leben? Er ist jetzt seit zwei Monaten im Krankenhaus, nachdem er kurz vor knapp eingeliefert worden war, ganz zu schweigen von seinen Zusammenstößen mit dem Gesetz und dem ganzen anderen Elend.

„All die Zeit und Energie, die Sie aufwenden müssen, um diesen fünf Minuten nachzujagen – ist es das wert? Seien wir ehrlich, die Art und Weise, wie Sie jetzt mit mir sprechen, ist ganz anders als wie Sie sich in Downtown Eastside gebärden, wenn Sie Drogen nehmen, wenn es Ihnen schlecht geht und Sie unglücklich und feindselig sind. Sie provozieren die ablehnende Haltung der Menschen Ihnen gegenüber. Vielleicht ist es nicht Ihre Absicht, aber so ist es. Es hat eine enorme negative Wirkung. Sind es diese fünf Minuten wert?“

In seinem gegenwärtigen drogenfreien Zustand und in seiner freundlichen Stimmung bringt Ralph kein Argument hervor. „Ich verstehe, was Sie sagen, und ich stimme Ihnen hundertprozentig zu. Ich bin die Dinge stumpfsinnig angegangen …“

„Ich würde es nicht einmal stumpfsinnig nennen“, antworte ich. „Ich denke, Sie sind die Dinge so angegangen, wie Sie es gelernt haben. Ich vermute, dass die Welt Sie von frühester Kindheit an nicht sehr gut behandelt hat. Was ist mit Ihnen geschehen? Was hat Sie so defensiv gemacht?“

„Ich weiß nicht … Mein Vater. Mein Vater ist ein gemeiner, mieser Mensch, und ich hasse ihn abgrundtief.“ Ralph spuckt die Worte aus. Unter dem Laken zittern seine Beine heftig. „Wenn es einen Menschen auf dieser Welt gibt, den ich verabscheue, dann ist es dieser Mann, der … mein Vater sein musste. Ach, es ist egal. Er ist jetzt ein alter Mann, und er kann für seine Verbrechen nicht mehr büßen, als er es bereits getan hat. Er hat schon tausendmal dafür bezahlt.“

„Ich glaube, das tun alle.“

„Ich weiß“, knurrt Ralph. „Ich habe auch für meine Verbrechen bezahlt. Sehen Sie mich an. Ich kann ohne diesen blöden Stock nicht mal laufen. Ich will fliegen und hänge am Boden fest, weil … Irgendwann erzähle ich es Ihnen …“

Dann beginnen wir, über etwas anderes zu reden. Ralph übt eine kluge, intuitive und scharfsinnige Kritik an der alltäglichen menschlichen Existenz und an der gesellschaftlichen Besessenheit von Zielen, die sich seiner Meinung nach nur wenig von seinem eigenen Streben nach Drogen unterscheidet. Ich erkenne in seiner Analyse eine unbequeme Wahrheit, ganz gleich, wie unvollständig sie ist.

Wir trennen uns in gutem Einvernehmen. „Ich würde mich freuen, wenn Daniel noch mal kommt“, sagt Ralph, „und ich hoffe, er bringt dann einen Videorekorder mit. Daniel könnte bei ein paar Liedern ein Intro spielen und mich begleiten – ich bin der bessere Sänger, wissen Sie. Wir könnten weitere Dylan-Songs oder ‚Homeward Bound‘ von Simon und Garfunkel singen. Sie sind alle Juden. Dadurch verschwand mein Antisemitismus, denn viele der größten poetischen Köpfe sind Juden: Bob Dylan, Paul Simon, John Lennon – wenn es diese Leute nicht gäbe, wäre die Welt ein weitaus schlimmerer Ort.“

Ich teile ihm nur ungern mit, dass John Lennon kein Jude war.

———

Seine Pläne, sich eine neue Bleibe zu suchen, wurden nicht verwirklicht. Kurz nach unserem zivilisierten Austausch im Krankenhaus von Vancouver nahm Ralph sein Leben in Downtown Eastside wieder auf. Seit die Drogen wieder Teil seines Lebens geworden waren, war er wieder zu der unberechenbaren, verbitterten Persönlichkeit zurückgekehrt, die er nur sporadisch ablegen konnte. Vor nicht allzu langer Zeit kam er in meine Praxis, um weitere Gedichte vorzutragen.

„Hier ist eins, das Ihnen gefallen wird“, sagt er und beginnt mit seinem schnellen, mechanischen Dröhnen.

Mir gefällt die erbärmliche Ehrlichkeit von Ralphs Versen. Die Binnenreime, die er in jedes Verspaar einfügt, verstärken die atmosphärisch dichte und erstickende Logik der Welt des Vortragenden. Alles passt zusammen: die vergebliche Suche nach Kameradschaft, die sexuelle Frustration, Entfremdung, Flucht in Drogen, Trauer, das Pathos und der Zynismus.

„Schreiben Sie immer noch?“, frage ich.

„Nein.“ Er wischt mit einer resignierten Handbewegung über sein Gesicht. „Ich schreibe schon lange nicht mehr. Seit Jahren, seit Jahren. Ich habe alles geschrieben, was ich schreiben wollte. Alle meine Gedanken und Gefühle habe ich in Poesie ausgedrückt.“

Ich schaue auf meine Uhr und bin mir der Patientenmenge vor meinem Zimmer bewusst. „Warten Sie“, sagt Ralph schnell, „ich habe noch ein Gedicht für Sie. Es heißt …“ Er sucht in seinen Gedanken nach dem Titel und kratzt sich dabei an seinem neuerdings kahlen Kopf. Seine Fingernägel sind mit dunklem, violettblauem Nagellack lackiert. Unter dem Saum seines schmutzigen T-Shirts führen seine Unterarmmuskeln einen aufgeregten, schlangenartigen Tanz auf.

„Ah ja, es heißt ‚Wintersonnenwende‘.“ Wieder rezitiert Ralph in seinem unnachahmlichen, schnellen, affektierten Gekrächze. Er fixiert mich mit den Augen, als ob er darauf bestehen wollte, gehört zu werden. Das Gedicht endet mit einem Adler, der mitten im Flug tot vom Himmel fällt.

Zwei Tage später kommt er wieder, mit unrealistischen Forderungen nach Medikamenten und nach Unterstützung für Lebensmittel und Unterkunft, die ich nicht befriedigen kann. Ralphs Wut ergießt sich mit seinem ungebremsten teutonischen Gift. „Und später gibt es noch etwas Kunst für Sie“, schreit er und stampft wütend aus meinem Büro ins Wartezimmer, wo seine Mitsüchtigen irritiert und missbilligend den Kopf schütteln. „Es ist bestimmt manchmal nicht leicht für Sie, hier zu arbeiten“, sagt mein nächster Patient, der bereits durch die Tür kommt.

Als ich am Nachmittag das Büro verlasse, wäscht einer der Portland Hausmeister mit heißem Seifenwasser und einem Scheuerschwamm ein großes, grob gezeichnetes, schwarzes Hakenkreuz von der Wand, direkt neben dem Ausgang im ersten Stock.

* „Arbeit macht frei“ stand auf Schildern an den Toren der nationalsozialistischen Konzentrationslager, einschließlich Auschwitz.

Im Reich der hungrigen Geister

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