Читать книгу Zürcher Filz - Gabriela Kasperski - Страница 10

3

Оглавление

«Haben Sie geklingelt? Wir sind gerade heimgekommen.»

Die Frau, die auf den beleuchteten Vorplatz des supermodernen Rohbetonbaus am Ende einer Sackgasse trat, sah Beanie fragend an. Sie war mittelgross, mit Handtasche und Kaschmirmütze, yogaschlank, strahlend auf nordische Weise. Sie war ausser Atem und starrte auf Beanies Ausweis. Konsterniert. «Sind Sie von der Polizei?»

Beanie zog das Cap vom Kopf. Die Augen der Frau weiteten sich.

«Was starren Sie so? Haben Sie ein Problem?»

«Entschuldigung.» Die Frau blinzelte.

Nimm dich zusammen, Barras, die kann nichts dafür. Beanie hatte schlechte Laune. Wegen des geklauten Bikes hatte sie das Tram nehmen müssen. Bei der Rehalp war sie ausgestiegen, genau wie Google Maps vorschlug. Dennoch hatte sie sich auf dem Weg in Richtung Zollikon verlaufen – die Sackgasse war nicht eingetragen –, und gerade eben hatte sie erfahren, dass das FOR, das Forensische Institut Zürich, das Untersuchungsresultat zu Philomena Lombardis Schmuck nicht vor morgen Mittag haben würde.

«Barras, Kripo Zürich. Sorry, dass ich Sie am Abend stören muss. Ich such Johannes Lombardi. Es geht um seine Frau.»

Sie stellte sich als Claire vor. «Vermutlich meinen Sie nicht mich, sondern Johannes’ Ex-Frau.»

Als sie den Mund verzog, sah Beanie kaum Fältchen in dem Gesicht. Sie wirkte jung, etwa Mitte dreissig.

«Wollen Sie hereinkommen? Aber erwarten Sie nicht zu viel.» Claire deutete auf die tiefe Grube vor dem Haus und die Kabel, die aus der Mauer ragten. «Sie haben bestimmt bemerkt, dass wir eine Baustelle haben. Alles etwas karg. Bis auf den da.» Sie zeigte zu einem Baum im Kübel. «Eine Linde. Ich werde sie bald pflanzen.» Claires Blick wanderte zu Beanies Turnschuhen. «Könnten Sie die ausziehen? Ich will nicht noch mehr Schmutz drin haben.»

Beanie tat wie gebeten. Sie folgte Claire in einen Raum von gigantischem Ausmass. Ein Dampfabzug hing von der Decke, in der Mitte stand ein amerikanischer Kühlschrank, die Kochinsel war mit einer Schicht Papier belegt. Tisch oder Stühle fehlten, dafür gab es drei Sofas, eingehüllt in Plastikfolien. Auf einem lag ein Junge mit akkuratem dunkelblondem Scheitel. Er sah aus wie der kleine Prinz George aus England. Aus seinem Mund lief ein Speichelfaden.

«Jan. Er ist mir im Auto eingeschlafen. Ich habe ihn eben hereingetragen.» Claire stellte ihre Handtasche auf die Küchenzeile. «Die Umzugskartons mit den Spielsachen hätten gestern geliefert werden sollen. Jan war sehr traurig.» Im Vorbeigehen stupste sie den Jungen an. «Gell, mein Schatz. – Sie mögen bestimmt keinen Alkohol, wenn Sie im Dienst sind?»

Bevor Beanie sich äussern konnte, hatte sie ein Glas Wasser in der Hand.

Claire goss sich auch eines ein. «Schon Anfang Woche waren zwei Polizeibeamte da. Ich dachte, wir hätten alles geklärt. Wieso soll Philomena vermisst sein, wie kommen Sie darauf?»

«Ich muss mit Ihrem Mann reden», sagte Beanie und stellte das Glas weg.

«Er ist zum Einkaufen gefahren. Sunny ist bei ihm, der andere Teil des Zwillingspaars.»

«Die Kinder von Johannes Lombardi …»

«Und Philomena, korrekt. Ich bin die Stiefmama. Sie sind wie meine eigenen, falls Sie das fragen wollten. – Ist die Aussicht nicht wunderschön?»

Claire zeigte zum Panoramafenster. Man sah das Seebecken und die Lichter der Stadt, gekrönt von den rot glühenden Kranarmen der Baustelle des neuen Kinderspitals.

«Wann sind Sie denn eingezogen?», fragte Beanie.

«Vorgestern. Ich wäre lieber ins Hotel gegangen. Wir haben kein Internet.» Claire entdeckte ein Loch in Beanies Socke. «Ihnen muss kalt sein.» Sie drückte auf einer Fernbedienung herum. «Die Bodenheizung funktioniert leider auch nicht.»

Ungeduldig sah Beanie auf die Uhr. Sie hatte sich doch angemeldet, warum war dieser Lombardi zum Shoppen gefahren? «Können Sie mir in der Zwischenzeit die familiäre Struktur erklären?»

Beanie erfuhr, dass Johannes Lombardi hiess, weil er damals bei der Heirat den Familiennamen seiner Ex-Frau Philomena angenommen hatte.

«Johannes arbeitet seit Jahren in der Geschäftsleitung der Stiftung. Früher waren sie zu viert, er konnte es besonders gut mit dem alten Lombardi. Philomena wohnt in Tel Aviv. Allerdings ist sie kaum da, die meiste Zeit ist sie auf Reisen. An der Schweizer Stiftung zeigt sie wenig Interesse. Nicht mal in der kurzen Zeit, als sie und Johannes verheiratet waren. Das war auch der Grund für die Scheidung. Unter uns gesagt, ich kann sie verstehen. Nicht die Scheidung, aber das mit der Stiftung.» Ein Blick aus blauen Augen. «Vor allem gegenüber Frauen war der alte Lombardi ein Tyrann.»

«… der seit einigen Monaten tot ist.» Beanie zückte ihr kleines Notizbuch. «Frau Lombardi reist viel, haben Sie gesagt. Wann sieht sie denn ihre Kinder?»

«Sie ist keine typische Mutter.» Claire wirkte verlegen. «Vielleicht sollte ich das nicht ausplaudern, andererseits ist alles wichtig für Sie, nehme ich an. – Philomena nimmt die Mutterpflichten eher locker. Dass sie sich einmal über drei Monate nicht gemeldet hat, weil sie durch Israel getrampt ist, gilt als Familiengeheimnis. Den Kindern haben wir gesagt, sie sei krank.» Claire hielt inne. «Ich mag sie trotzdem. Auch wenn ich sie gar nicht kenne.»

«Sie haben die Ex-Frau Ihres Mannes nie gesehen?»

«Beim letzten Kindergeburtstag der Zwillinge hat sie abgesagt. Johannes war … da ist er ja.»

Die Tür ging auf, und Johannes Lombardi kam herein. Er sah anders aus als in Beanies Vorstellung. Ein unscheinbarer Typ, mit zerknautschtem Gesicht und grauem Haar, leicht untersetzt. Er füllte seinen formlosen Jogginganzug gut aus und war beladen mit zwei Tüten. Wie kam einer wie er an solche Frauen?

«Sie ist die von der Kriminalpolizei.»

Lombardis Augen huschten von Claire zu Beanie, wieder zurück. Er ist nervös, dachte Beanie.

«Es geht um Philomena. Sie wird immer noch vermisst.» Wohl im Versuch, Alltagsnormalität herzustellen, sah Claire sich Lombardis Einkäufe an. «Wollten wir das? Jan liebt die gelben», murmelte sie, als sie eine Packung mit roten Cherrytomaten herauszog.

«Entschuldige, es gab keine anderen. Dafür haben wir Brot. – Wieso vermisst?» Letzteres ging an Beanie. «Ich habe Ihren Kollegen bereits gesagt, dass sie erst vor Weihnachten herkommen wollte. – Ist denn in der Zwischenzeit etwas passiert?»

Beanie gab sich bedeckt und fragte, wann Lombardi das letzte Mal von Philomena gehört habe.

Er beschrieb einen Telefonanruf vor zwei Wochen. «Ich habe sie nicht persönlich gesprochen, nur die Kinder.»

«Wo ist Sunny?», fragte Claire.

«Sie spielt draussen», sagte Lombardi.

Das fand Claire keine gute Idee. «Hol sie rein. Du weisst, die Zugänge zum unteren Garten und zum Keller sind noch nicht gesichert.»

«Sunny ist zuverlässig, mach dir keine Sorgen. – War es das, Frau Barras?»

Will er mich abschieben? «Nein. Ich habe noch Fragen. Wann genau wollte Philomena herkommen?»

Lombardi wirkte zunehmend verärgert. «Am 22. Dezember. Zur Jahressitzung des Stiftungsrats.»

«Ich dachte, sie interessiert sich nicht für die Stiftung?»

«Tut sie auch nicht. Aber nun, da Alfredo tot ist, bleibt ihr nichts anderes übrig.»

Beanie machte sich eine Notiz. «Ihre Stiftung vermietet Wohnungen?»

«Suchen Sie eine?», fragte Claire zurück und nahm eine Zeitung aus der Handtasche. «Die freien Wohnungen werden jeden Donnerstag in der Stadtzürcher Zeitung publiziert. Die Rubrik ist beliebt.» Sie deutete auf eine Anzeige. «Diese Besichtigung ist morgen: fünf Zimmer, hundertzwanzig Quadratmeter, ohne Balkon, aber bezahlbar. – Eines eurer besten Häuser, nicht wahr, Schatz?»

«K7», sagte Lombardi.

«K7?», fragte Beanie.

«‹K› steht für die Stadtkreise. K3 ist angesagt, K2 ist jüdisch geprägt, K8 für Neureiche, K4 fürs Vergnügen, K5 gentrifiziert, K6 für die Intellektuellen, K7 für die Kunst. Der teuerste und der begehrteste Kreis.» Lombardis Thema, es war deutlich zu merken.

«Und was ist mit dem anderen Kreisen? K9 bis K13?»

«Das ist die Agglo. Familien. Ausländer.»

Arschloch, dachte Beanie. Sie las die Anzeige durch.

«Eine öffentliche Ausschreibung? Wie viele Leute erwarten Sie?»

«Über hundert», sagte Lombardi.

«Du bist naiv», warf Claire ein. «Wenn ich eine Prognose wagen darf: Es werden tausend sein. Das bedeutet Stress für euch.»

«Was soll ich machen?» Johannes sah zu Beanie. «Der alte Alfredo hat es so gewollt. Darum sind die Wohnungen so beliebt. Preisgünstig, immer öffentlich ausgeschrieben, alle bekommen die gleiche Chance.»

«Wie wählen Sie am Schluss aus?»

«Der Zufall entscheidet.»

Wer’s glaubt, dachte Beanie. «Sie sitzen auf Gold.»

Claire stimmte zu. «Für so eine Wohnung würden manche morden.»

Johannes entwischte ein Lachen. «Claires Sinn für Humor. Sie sehen, es ist eine grosse Verantwortung, und Philomena scheut sich davor. Ich wette mit Ihnen, spätestens an Weihnachten ist sie da. Sie hat Geburtstag.»

«Wie alt wird sie?»

«Genauso alt wie Johannes», sagte Claire. «Einundfünfzig, aber sie sieht viel jünger aus.»

«Wir feiern bei ihr in der Villa Riesbach. Sie hat es den Kindern versprochen», ergänzte Lombardi.

«Sie ist wie Mary Poppins, erscheint dann, wenn man sie nicht erwartet.» Claire streichelte seinen Arm.

«Wer hat Philomena eigentlich als vermisst gemeldet?» Lombardi wirkte plötzlich irritiert.

«Die Gärtnerin», antwortete Beanie.

«Eliane Fischer?» Er war fassungslos. «Sie veranstalten den ganzen Zirkus wegen der Fischer?»

«Und weil ein Schmuckstück aufgetaucht ist, das Philomena Lombardi gehört.»

«Wo?», fragte Lombardi. «Etwa bei Rubi Bachar im Vintage-Shop?»

«Sie kennen sie?»

Lombardi nickte. «Eine alte Freundin von Alfredo. Für ihn gab’s nur Häuser, Schmuck und edle Kleidung. Meine Ex-Frau hat die Leidenschaft von ihm geerbt. Nostalgiesucht. Sie sollten ihre Kleider sehen. Sie lässt sich alles schneidern, kauft nur vom Feinsten.»

«Sie wollte keinen Schmuck kaufen. Sie wollte verkaufen.»

«Verkaufen? Sie scherzen», sagte Claire. «Philomena ist reich.»

Johannes winkte ab. «Alfredo war geizig, all sein Geld steckt in den Immobilien. Bares ist nicht viel da.»

Nicht viel hiess in diesen Kreisen immer noch mehr als bei den meisten, dachte Beanie.

«Dann wäre alles in Ordnung», sagte Claire. «Philomena braucht Geld für ihre Reisen, darum hat sie etwas Schmuck verkauft.»

Beanie kam sich lächerlich vor in ihren Socken.

«Ein Letztes noch.» An der Tür drehte sie sich um. Meiers Methode. War ihr geblieben. «Wem gehört das Ganze?»

«Sie meinen die Stiftung? Das ist kompliziert.» Lombardi vermied Beanies Blick. «Bei mir steht eine Telefonkonferenz an, entschuldigen Sie. Ich muss raus, hier drin ist kein Empfang.»

Ohne Beanies Nicken abzuwarten, verschwand er.

«Er hat Stress», sagte Claire sanft. «Sehr viel Arbeit. Es sind Hunderte von Wohnungen.»

Ehrliche Worte, wie es schien. «Hunderte? Auf der Website gibt es keine Auskünfte über die Immobilien.»

«Der alte Lombardi wollte alles analog behalten. Die Wohnungsbewerber füllen die Formulare immer noch von Hand aus.»

«Rückwärtsorientiert. Passt zur Zeitungsanzeige.»

«Es ist ein ziemliches Chaos. Sie können sich vorstellen, die vielen Entscheide, die täglich anstehen. Johannes und die anderen versuchen ihr Möglichstes, um die Geschäfte reibungslos ablaufen zu lassen.»

«Können Sie mir sagen, wer in der Geschäftsleitung sitzt?»

Claire stutzte. «Sie waren doch auf der Website? Da sind Fotos von allen.»

«Ich hör es gerne von Ihnen.»

«Es sind nur drei Leute. Johannes. Alice Haag, Alfredo Lombardis Mitarbeiterin der ersten Stunde –»

Beanie unterbrach. «Sie muss schon älter sein.»

«Das hält sie geheim. Der Dritte ist Charles Bonvin, Alfredos Freund und Mentor, Philomenas Patenonkel, an die achtzig, denke ich. Dazu kommt Noah Sanders, der Nachwuchs. Er sitzt nicht in der Leitung, ist aber Projektleiter eines ambitionierten Umbauprojekts. Der ‹Giess-Hübel›. Bestimmt haben Sie in den Medien davon gelesen. Es ist die alte Lombardi-Wäscherei in Wiedikon, die in Familienwohnungen umgebaut wird. Noah Sanders soll frischen Wind reinbringen. Unmöglich, wenn Sie mich fragen. Er wirkt wie ein pubertierender Teenager. Johannes und ich hatten seinetwegen Streit. Ich weiss nicht, wie die drei dazu gekommen sind, ihn zu engagieren.»

Zürcher Filz

Подняться наверх