Читать книгу Zürcher Filz - Gabriela Kasperski - Страница 18

11

Оглавление

Beanie Barras war auf dem Weg zur Befragung der Gärtnerin Philomena Lombardis. Sie schloss Zitas Velo am schmiedeeisernen Zaun des Seeburgparks fest. Nach dem Bad im See hatte sie auf die warme Dusche verzichtet und war sofort ins Büro gefahren. Einige Stunden später war ihr immer noch kalt. Der Anblick der Villa Riesbach liess sie das vergessen. Der Weg wand sich durch einen beeindruckenden Baumbestand nach oben. Das Haus stand auf einem kleinen Hügel, war dreistöckig, mit hohen Fenstern, einem Satteldach und auffallend hellen Mauern. Als ob es von innen heraus leuchtete, dachte Beanie. Es wirkte verlassen. Auf grossartige Weise heruntergekommen.

Die Gärtnerin wartete bereits vor dem hölzernen Eingangsportal. Fragil, trotz ihrer Grösse. Alt, bestimmt über siebzig. Regenmantel, dunkelgrüne Gummistiefel und wildes, schlohweisses Haar; zu einer Art Haube aufgeplustert. Bevor Beanie ihre Eingangsfragen stellen konnte, begann Fischer zu sprechen. Redefluss pur. Beanie machte sich Notizen, versuchte, das Wesentliche herauszuhören.

Eliane Fischer war freiwillige Friedhofsgärtnerin, den Job bei Lombardis machte sie nebenher. Mit Philomena war sie immer dann in Kontakt, wenn diese herkommen wollte.

«Sie hatte es für die Jahressitzung der Stiftung geplant. Die ist um den 20. Dezember herum.»

Genauso hatte Beanie es auch von Johannes Lombardi gehört.

«Ausserdem wollte sie Weihnachten vorbereiten. Wegen der Kinder. Sie liebt sie, als wären es ihre eigenen.»

«Wieso? Es sind doch ihre?»

«Sie hat Johannes’ Kinder adoptiert.»

«Was?» Wieso hatten Johannes und Claire Lombardi nichts davon gesagt? «Wer ist die leibliche Mutter?»

«Johannes’ erste Frau. Sie ist bei der Geburt der Zwillinge gestorben. Kurz darauf lernte er Philo kennen. Johannes und sie haben das gemeinsame Sorgerecht. Er hat die Kinder auf Philos Wunsch für den Kindergarten in einer Montessori-Schule angemeldet. So können sie zwischen Johannes’ neu gebautem Betonbunker an der Grenze zu Zollikon und der Villa hier in Riesbach hin- und herpendeln. Soweit ich weiss, ist es Teil der Scheidungskonvention, dass beide Eltern in der Nähe wohnen müssen, um den Kindern das Nestmodell zu ermöglichen.»

Interessant. Ich muss unbedingt noch mal mit Johannes Lombardi sprechen, dachte Beanie. Bevor sie die Frage stellte, wegen der sie hergekommen war.

«Wieso, Frau Fischer, sind Sie auf die Idee gekommen, dass Philomena früher angekommen ist?»

Fischer rang die Hände. «Glauben Sie mir nicht?»

Mühsam, diese Befragung. Beanie zwang sich zur Ruhe. «Frau Lombardi ist eine erwachsene Person. Bis jetzt gibt es niemanden, der sie gesehen oder gesprochen hat. Von Ihrer Antwort, Frau Fischer, hängt ab, ob wir eine dringende Fahndung einleiten oder ob wir weiterhin abwarten wollen.»

Die versteckte Drohung brachte die Dinge ins Rollen. Plötzlich fiel Fischer einiges ein.

«Die Rouleaus, zum Beispiel. Sie sind oben.» Fischer zeigte auf die Fensterscheiben. «Und die Tür war offen, obwohl Philo weiss, dass es im Park manchmal Vandalen gibt.»

«Wieso nennen Sie sie eigentlich Philo?»

«Es ist ihr Kosename.»

War Fischer eine Art Mutterersatz? Ihre Aussagen waren mit Vorsicht zu geniessen.

«Könnte sie die Tür nicht aus Versehen offen gelassen haben?»

«Niemals würde sie nachlässig mit dem Besitz umgehen.» Tränen standen ihr in den Augen. «Mögen Sie einen Tee?»

Beanie nahm das Angebot an. Sie durchquerten ein riesiges Cheminéezimmer und kamen in eine geräumige Küche. Kalt, alt und ungemütlich.

«Gibt’s hier WLAN?» Beanie wies auf die Steckdose in der Wand.

Fischer wusste nichts davon. Soweit sie informiert sei, müsse alles renoviert werden, die Gasheizung sei kaputt, das Elektrische störungsanfällig.

Während sie Wasser kochte, Kräuter aus einer Büchse nahm, eine Teekanne und Tassen fand, erzählte sie weiter.

«Philo will die Villa Riesbach zu ihrem Wohnsitz machen und das väterliche Erbe antreten.»

«Was arbeitet Philomena?» Das hatte Beanie beim Gespräch mit Johannes Lombardi nicht herausgefunden.

«Sie privatisiert. Und sie reist.»

«Lebt sie vom Geld des Vaters?», fragte Beanie.

«Nicht des Vaters, der Mutter», sagte Eliane. «Irène Lombardi. Sie war reich.»

Eine interessante Info. «Hat der alte Lombardi mit Irènes Geld Häuser gekauft?»

«Nein. Sie war seine zweite Frau. Als er sie traf, war er geschieden und reich. Reich in Form von Immobilien. Er hat keine Gewinne gemacht, sondern alles in neue Häuser investiert … ein eingewanderter Italiener mit Pioniergeist. Die Villa hier, seine allererste, hat er vom Geld der früheren Frau gekauft. Von der weiss ich gar nichts.»

Kompliziert, die Familienverhältnisse. Beanie schwirrte der Kopf. «Habe ich das richtig verstanden? Alfredo Lombardis erste Frau hat ihm als Einwanderer die Villa Riesbach gekauft, was der Startschuss für sein Immobilienimperium war. Die zweite Frau, Irène, ist Philomenas Mutter. Sie ist tot, und ihr Erbe hat Philomenas jahrelanges Reisen und das Leben in Tel Aviv finanziert?»

Fischer flatterte aufgeregt. «Was wollen Sie damit andeuten? Dass Philo verwöhnt ist? Das ist sie nicht. Sie braucht fast nichts für sich. Sie war auch ehrenamtlich unterwegs, hat sich für Hilfsprojekte engagiert.»

«Gearbeitet hat sie nie?»

«Es ist Arbeit. Sie ist unermüdlich.»

«Das ist klar, Frau Fischer. Ich möchte einfach wissen, ob Philomena noch eine andere Einnahmequelle hatte.»

«Sie müssen sie selbst fragen.»

Würd ich gern, dachte Beanie.

«Noch einmal zurück. Abgesehen von der offenen Tür und den anderen Hinweisen, warum denken Sie, dass sie hier war? Wir brauchen einen eindeutigen Beweis.»

Fischer zerbrach sich den Kopf. Bis ihr etwas einfiel. «Kurz vor dem zweiten Advent hat sie mir eine Nachricht hinterlassen. ‹Eliane›, hat sie gesagt, ‹ich tue es. Ich übernehme die Stiftung und komme heim. Auch wenn ich kämpfen muss.›»

«Wieso kämpfen?»

«Gegen die Geschäftsleitung, Alice Haag, Johannes Lombardi und Charles Bonvin. Seit Alfredos Tod machen sie, was sie wollen.»

Beanie hatte das Trio infernale vor Augen.

«Das klingt nach einem harten Job. Vielleicht hat Philomena sich ja umentschieden», sagte Beanie und nahm die heisse Tasse entgegen.

«Meine Güte, eiskalt.» Fischer meinte Beanies Hand, die sie versehentlich berührt hatte.

Beanie verzichtete auf eine Erklärung. «Ist es möglich, dass sie abgetaucht ist?»

«Ohne sich zu melden? Das würde sie nie tun.»

«Haben Sie im Haus nach ihr gesucht?»

«Natürlich. Auch im Gartenhaus und im Park. – Und ich habe ihr einen Zopf gebacken.»

Beanie sah zu dem Gebäck.

«Der immer noch auf dem Tisch liegt. Steinhart.»

Eliane Fischer murmelte etwas, ging zum Kühlschrank, einem frei stehenden Modell, veraltet und von vergilbtem Weiss.

«Ich habe ihr auch Milch reingestellt und Frischsalat. Einige Kräuter, Gemüse. Sie liebt Gemüse.» Sie öffnete die Tür und schrie auf.

Beanie trat näher und sah, dass das Innere mit einem grünen Schleim bedeckt war. Eklig. Es stank.

Fischer kam fast nicht von oben runter. «Alles verschimmelt. Das verstehe ich nicht. Ich habe doch den Kühlschrank angemacht.»

Sie ging um das Gerät herum. Entsetzt, wirklich entsetzt sah sie auf den Boden. Der Stecker lag einige Zentimeter von der Dose entfernt.

«Sie haben vergessen, ihn einzustecken.»

Eliane wehrte sich. «Ich sehe meine Hand vor mir. Man muss etwas Kraft aufwenden, der Stecker ist verzogen.» Wie zum Beweis führte Fischer die Bewegung aus.

Sofort begann der Kühlschrank zu brummen.

Sie verwarf die Hände. «Unmöglich. Es muss ein Gespenst gewesen sein. Die Frau in Weiss.»

«Wer ist die Frau in Weiss?»

«Das meine ich nicht ernst. Ein Gerücht, das man sich im Riesbachquartier erzählt. Immer wenn hier etwas Eigenartiges passiert, sagt man, es war die Frau in Weiss.»

Beanie glaubte nicht an Gespenster, die Kabel herauszogen. «Kann es nicht sein, Frau Fischer, dass Ihr Hirn Ihnen einen Streich spielt?»

«Niemals.» Fischer war ausser sich. «Ich muss ihn putzen. Wenn Philomena kommt, braucht sie den Kühlschrank.

«Nein», sagte Beanie. «Das muss alles so bleiben.»

Ihr Entschluss stand fest. Sie würde die Spurensicherung bestellen.

«Ich seh mir kurz das Haus an. Warten Sie auf mich. Und nichts mehr anfassen, bitte.»

Beanie zog Plastikhandschuhe über, ging die Treppe hoch. Den Kegel der Taschenlampe auf den Boden gerichtet, durchschritt sie die Räume. Alle hoch, alle gross, alle komplett leer. Das Badezimmer war riesig, mit einer tiefen Wanne, einem schweren Lavabo. Die Armaturen aus altem Messing, verziert, angelaufen. Immerhin gab es einige Flaschen und Tiegel. Ein Kindershampoo der Marke Penaten. Ablaufdatum: vor vier Jahren. Das Wasser aus dem Hahn war rostig, eine Brühe.

Ganz oben im hintersten Dachzimmer erlebte Beanie eine Überraschung. In einem Warenaufzug, der sich hinter einer unscheinbaren Klappe in der Wand versteckte, befand sich eine übergrosse Puppe in einem schmutzig weissen Kleid. Klipp-klapp hoben und senkten sich die Augenlider. Das Haar wirkte echt. Beanie fasste sie vorsichtig am Bauch, um sie herauszuheben.

Da ertönte eine Stimme, mechanisch und hoch: «Willkommen in deinem neuen Zuhause.»

Beanie erstarrte. Die sprechende Puppe fiel zurück.

Die restliche Untersuchung brachte Beanie in Rekordtempo hinter sich. Als sie über die breite Galerie zur Treppe ging, hörte sie ein Geräusch.

«Hallo?» Etwas streifte ihre Wange und fiel zu Boden. Eine Wespe. Mitten im Winter. Hatte irgendwo im Gemäuer gesessen. Beanie packte das tote Insekt in einen Beutel. Besser als nix.

In der Küche sass Eliane Fischer am Tisch, sie hatte sich gefasst. Tasse und Krug waren verräumt, alles makellos. Die Kühlschranktür war geschlossen.

«Ich werde das später reinigen, wenn Sie hier fertig sind.»

Beanie bemerkte Gestank. Es roch nicht nur nach Kühlschrankschimmel, es roch nach Verwesung.

«Ein Kadaver?», fragte sie und verwünschte den atemlosen Klang ihrer Stimme.

Fischer zuckte die Schultern. «Gut möglich. Passiert immer wieder. Es stinkt im hinteren Teil des Hauses, manchmal auch im Keller. Vielleicht ein Loch, in dem sich die Tiere verkriechen und sterben. Ich hab allerdings nie eines gefunden.»

Ihre Antwort war unerwartet sachlich, Natur und Tier waren ihr Gebiet. Ohne Ankündigung ging Fischer los. Beanie folgte ihr verblüfft und fand sie schliesslich im Cheminéezimmer.

«Das ist der Beweis.» Sie deutete auf die Feuerstelle. «Ich habe ein Feuer vorbereitet.» Fischer ging zu einem leeren Korb. «Als ich den aus der Scheune hereingebracht habe, war er voll. Ich habe im Cheminée einen Stapel gebaut, sodass sie nur noch ein Streichholz hineinzuwerfen brauchte.» Fischer bückte sich und nahm die Packung in die Hand, bevor Beanie sie daran hindern konnte. «Es waren noch drei drin. Nun sind sie weg. Sehen Sie die Asche im Cheminée? Jemand hat Feuer gemacht. Entweder es war Philomena, oder jemand anders war im Haus.» Fischer sah geradezu erlöst aus. «Das ist gut, nicht wahr? Nun glauben Sie mir. Ich bin nicht verrückt.»

Beanie überlegte. Es klang stimmig. «Wer hat alles einen Schlüssel zum Haus?»

«Philomena. Johannes und ich. Ich glaube, auch der Silberschneider, das ist der Nachbar auf der anderen Seite.»

«Danke, Frau Fischer.» Beanie musste los. «Kommen Sie mit, Sie dürfen das Haus nicht mehr betreten, bis Sie von mir ein Okay erhalten. – Gibt es hier eigentlich Wespen?»

«Ja. Manchmal haben wir sogar Nester. Aber um die Jahreszeit sind die alle tot.»

Beanie bemerkte eine Tasse auf dem Kaminsims. «Stand die eben schon da?», fragte sie.

Fischer wusste es nicht, die Tasse gehörte Alfredo Lombardi. Sie war übergross, bedruckt mit Katzenmotiven. Hässlich. Unprofessionell, dass ich das Ding eben übersehen habe, dachte Beanie. Dann rief sie im FOR an, verlangte nach Huwyler. Asap, dringend, höchste Alarmstufe. Sein Fuss fiel ihr ein. Wie er ins Wasser getaucht war. Die Farbe seiner Haut. Das karamellfarbene Braun.

Zürcher Filz

Подняться наверх