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Das Jaulen des Tiers hatte Philomena ihren Durst für einen Moment vergessen lassen. Sie war sicher, dass es Sherlock war und dass ER ihn getötet hatte. Es war ein Signal für sie, eine Botschaft. Genau wie das Wischrascheln vor der Tür, das nun in regelmässigen Abständen auftrat. Sie war überzeugt, dass er es war. Beobachtete er sie durch eine Ritze? Oder baute er da draussen etwas auf?

Ich muss hier raus. Das kleine Oberlicht war keine Option. Es lag zu weit oben, der Raum war bestimmt drei Meter hoch. Ausserdem war ein Gitter davor, es sah neu aus. Und ihr Foulard war weg, das lange seidene Halstuch, das ihr vielleicht als Seil hätte dienen können. Denk nach, Philo, denk nach.

Wie konnte sie das, mit solchem Durst? Dieses Gefühl, jedes einzelne Organ wäre welk. Sie rannte hin und her, stiess sich die Stirn an, die Knie, ihr Ohr begann wieder zu pochen. Ich will meinen Trainer. Ihr Trainer in Tel Aviv. Seine Hand auf ihrer Schulter. Die Ruhe, die Gelassenheit. Sag mir, dass ich das überlebe. Aber er war nicht hier. Niemand war hier. Ich bin allein. Eingesperrt auf zwanzig Quadratmetern. Ohne Licht, ohne Wasser, ohne Essen. Ohne Sinn und Zweck. Von guten Mächten wunderbar geborgen … das Gedicht von Bonhoeffer, Mama hatte es gesungen.

Philomena wurde schlecht, sie erbrach sich, wollte zum Abwischen weder den Blusenärmel noch den Mantel nehmen. Die Matratze musste herhalten, sie verrutschte, fiel zu Boden. Philomena griff danach und fühlte einen ledernen Riemen. Ihre Tasche. Die Tasche war die ganze Zeit hier gewesen. Hatte er sie versteckt und vergessen? War ihm ein Fehler unterlaufen? Philomenas Freude verwandelte sich in Verzweiflung, als sie merkte, dass ihr kaum einer von den Gegenständen, die mal ihre Welt ausmachten, nützlich war. Weder Lippenstift noch Wimperntusche noch Parfum. Es war der komplette Hohn.

Philomena warf den Badge zu ihrer Tel Aviver Wohnung an die Wand, zerriss die letzte Postkarte ihrer Mutter, zerbrach die Streichhölzer, schmiss einen einzelnen Kirschkaugummi durch die Luft. Erst beim Taschenbuch «Eine Frau flieht vor einer Nachricht» von David Grossman hielt sie inne. Nein, Bücher konnte sie nicht ruinieren. Ausserdem fand sie darin ihre Reiseleselampe. Sie funktionierte. Der Schein war von aggressiver Helle, ihre Augen, lichtscheu geworden, mussten sich erst daran gewöhnen. Nun entdeckte sie einen weiteren Schatz: Taschentücher. Sie erinnerte sich daran, wie sie diese im Pariser Hotel eingesteckt hatte. Das Duschgel hatte sie stehen lassen, die Taschentücher nicht, die bunte Packung hatte ihr gefallen.

Im Strahl der Lampe suchte Philomena das restliche Zimmer ab. Bis auf die Pritsche und den Eimer war der Raum leer. Die Villa jedoch barg Geheimnisse. Den Warenaufzug, direkt vom Keller in ihr Zimmer oder die Luke am Fuss der verbotenen Treppe, in der Jessie die Schlafsäcke aufbewahrte. Philomena sah sich selbst als kleines Mädchen, wie es durch den Keller rannte, bis zum letzten Zimmer, dem Gärtnerinnenzimmer, und wie es etwas in einer Nische in der Wand verbarg. Wäre es möglich, diese Nische zu finden? Den Mörtel abzukratzen und sie freizulegen? Zentimeter um Zentimeter untersuchte Philomena die Wand. Die Nische würde auf Bauchhöhe liegen, nicht weit von der hinteren linken Ecke entfernt. Endlich hatte sie die Stelle eingegrenzt. War es Einbildung, dass die Wand hier feuchter war?

Um es herauszufinden, musste sie den Mörtel wegschlagen. Du kannst nicht mit den Fingernägeln kratzen, Philo. Was würde dir etwas nützen? Denk nach. Der Badge fiel ihr ein, er war aus Hartplastik mit scharfer Kante. Philomena fand ihn hinter der Pritsche am Boden. Sie begann zu kratzen. Der Putz blieb hartnäckig, bis er an einer Stelle bröckelte. Als Philomena husten musste, gönnte sie sich eine winzige Ecke des Kaugummis. Die erste Berührung war eine süsse Explosion. Das Gefühl von Speichel im Mund brachte ihr Erleichterung. Um Batterie zu sparen, arbeitete Philomena im Dunkeln weiter. Der Plastik rubbelte grosse Stücke von der Wand. Und dann, der Durchbruch. Ein Hohlraum tat sich auf. Gleichzeitig brach der Badge entzwei.

Doch Philomena gab nicht auf. Sie ging zur Pritsche, fasste in die Taschen des Mantels, wo sie die Handschuhe aus weichem Leder vorfand. Bei der Abreise hatte Philomena sie vergessen gehabt, in Tel Aviv war der Winter so warm gewesen, dass sie die Handschuhe nie gebraucht hatte. Als es ihr einfiel, hatte sie das Taxi gestoppt und war noch mal in die Wohnung gegangen. Wie eigenartig das Leben war. Alles hatte Konsequenzen.

Mit den Handschuhen lief es wie geschmiert. Bald war das Loch gross genug, um hineinzufassen. Durch das weiche Leder spürte sie einen glatten Gegenstand. Zog ihn heraus. Wie sie gehofft hatte: Es war die Tontrommel aus Israel. Mamas Trommel, das Sehnsuchtssymbol für ihren Traumort Jerusalem.

«Da gehen wir zusammen hin, mein Kind», hatte sie gesagt. «Wir werden Orangen ernten. Wir kriechen in die Wurzeln und ruhen uns aus. Keine Ruhe ist grösser als die der Orangenbäume.» Die Worte hatte Philomena nicht verstanden. Ihre Wucht schon.

Kurze Zeit später war Mama weggegangen. Das Geheimnis der Orangenbäume hatte sie nie gelüftet, obwohl Philomena ihr nach Israel gefolgt war. Ihre Beziehung war innig gewesen, aber lose. Mama hatte in Jerusalem gelebt, kein einziges Mal hatte sie Philomena in Tel Aviv besucht. Mama war zur Sesshaften geworden, Philomena zur Reisenden.

Sie zog die Trommel aus der Luke und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Dann tastete sie den Hohlraum ab. Da war nichts mehr, was ihr nützlich sein konnte. Dafür stellte sie fest, dass ihre Handschuhe durchnässt waren. Hier musste ein Rinnsal fliessen, darum war die Wand auch so feucht. Philomena holte die Wasserflasche, schob sie in die Luke und hielt sie ganz dicht an die Wand. Nach unendlich langer Zeit dann die Erlösung. In der Flasche befand sich etwas Wasser.

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