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Jessie spuckte die Spitze ihres nassgekauten Pferdeschwanzes aus und klappte das Geometriebuch zu. Gleich würde sie losziehen, Mama war endlich eingeschlafen. Es war siebzehn Uhr, so früh war sie seit Jahren nicht mehr ins Bett gegangen. Jessie packte ihren Stoffigel Petzi in ihr Bag. Dazu Mamas Medikamentenbeutel, sicher war sicher. Mamas Wut konnte Jessie aushalten, eine Überdosis hätte sie nicht ertragen. Ausser Mama hatte Jessie niemanden. Sie war vierzehn Jahre alt. Jetzt gerade fühlte sie sich aber sehr erwachsen. Wenn sie für Mama sorgte, würde alles gut werden.

In sorgfältigen Grossbuchstaben beschrieb Jessie einen neongrünen Notizzettel: «BIN UM 22 UHR WIEDER DA.» Sie platzierte ihn neben Mama auf dem Kissen und ging zur Tür hinaus. Einen Moment überlegte sie, abzuschliessen und den Schlüssel stecken zu lassen, dann käme Mama nicht raus. Er würde leider sofort geklaut, das war Jessie klar. Sie kannte die Mitbewohner im Wohnhaus nicht, dauernd gab es Wechsel, aber die Typen, meist Männer, sahen nicht nett aus. Ausserdem würde Mama, nachdem sie die ganze Nacht und den ganzen Tag unterwegs gewesen war, bestimmt lange schlafen. Sie schnarchte laut.

Im Treppenhaus stank es nach Zigaretten und Bier. Jessie knöpfte die Jeansjacke zu, zog die Röhrenhose hoch, steckte sich die Stöpsel ins Ohr und machte ihren Lieblingssong an, «Hostage» von Billie Eilish. Beim Hinuntergehen bemerkte sie, dass das Licht immer noch nicht funktionierte. Am Briefkasten prangte ein auffallender Kleber. Bestimmt wieder eine Mahnung vom Vermieter, die kamen im Abstand von wenigen Tagen. Jessie würde sie beim Heimkommen verstecken, nicht nötig, dass Mama sie sah.

Wir müssen umziehen, dachte Jessie. Abgesehen von der offenen Miete lag die Wohnung viel zu nah bei der Haltestelle des 31er Busses, der Mama zu ihrer Community brachte: eine Viertelstunde bis Alkohol.

Durch den eisigen Adventsabend rannte Jessie los und drehte die Musik so laut es ging. Sie war zu spät. Was, wenn Malik nicht auf mich wartet? Jessies Herz flatterte. Beim Seeburgpark angekommen, drückte sie das schmiedeeiserne Tor einen Spalt auf und schlüpfte hindurch. Es stand die ganze Nacht offen, obwohl das Schild mit den Öffnungszeiten etwas anderes sagte. In der Villa Riesbach, die vom öffentlichen Teil des Parks durch eine Reihe von Bäumen abgetrennt war, war alles dunkel, bis auf ein Flackern, das Jessie in einem Dachzimmer im obersten Stock zu sehen glaubte.

Bevor Jessie ins Gebüsch abbog, drehte sie die Musik im Ohr noch lauter. Dunkelheit machte ihr Angst. Sie glaubte dann, Geräusche zu hören und Gestalten zu sehen. Mit Billie war die Dunkelheit erträglicher, und die Dornen der Brombeeräste, auch im Winter spitz, schmerzten weniger.

Ausser Atem erreichte Jessie die Rosenpergola und die verbotene Treppe, die zu einem winzigen Platz hinabführte. Beides gehörte zu der alten Villa Seeburg, die hier mal gestanden hatte und von der sonst nichts mehr übrig war. Es raschelte unter Jessies Füssen. Der Sturm von gestern Nacht hatte viel Laub angeweht.

«Malik?»

Ihr Freund war nicht da. So wie er letzte Woche nicht da gewesen war und die Woche davor auch nicht. Er interessierte sich nicht für Jessie.

«Der ist nicht mal mehr auf Social Media», hatte eine Kollegin aus der Klasse gesagt, die Einzige, die ab und zu mit Jessie sprach. «Ein Asylbewerber, was willst du mit dem? Der wird sowieso wieder zurückgeschickt, der hat keine Chance hier. Vergiss den Typen, Jessie.»

Aber Jessie vergass ihn nicht. Malik war ihr Leben. Er nannte sie Afqari. Ein letztes Mal sah sie seine Nachricht an.

«Bis bald, Afqari, in unserem Paradies.»

Er beherrschte Deutsch gut, dafür, dass er erst einige Monate hier war. «Afqari» hiess «Schatz» auf Tigrinya, der Sprache Eritreas. Mein Schatz.

Jessie setzte sich auf den Boden, spürte den kalten Stein unter dem Laub. Hier war ihr Lieblingsort. Im Sommer, wenn die Rosen der verwahrlosten Pergola eine Art Dach über der verbotenen Treppe und dem Plätzchen bildeten, war sie sogar zum Hausaufgabenmachen hergekommen. Jessie nahm es sehr genau damit. Es gab ihr ein gutes Gefühl, alles schnell und richtig zu machen. Am liebsten war ihr das Zeichnen. Seit ihre Klassenlehrerin das entdeckt hatte, gab sie Jessie Zusatzaufgaben. Jessie wollte Architektin werden.

Plötzlich schrak sie zusammen. Ein Schrei. War jemand in dem verschütteten Keller? Mit dem Fuss tastete Jessie nach dem Ring der Falltür, die unter dem Laub in den Boden eingelassen war. Sie fühlte Hoffnung. Malik und sie waren einmal hinabgestiegen, über eine zweite Treppe ging es tief in den Boden. Nach einigen Metern hatte Jessie sich nicht weitergetraut. Der Gang war verfallen, es roch nach Verwesung.

«Die Leute sagen, hier spukt eine Frau in Weiss.»

Obwohl Malik darüber gelacht hatte, hatte er umgedreht und den Plan, den Gang zu erkunden, aufgegeben. Stirn an Stirn, auf ihren Schlafsäcken sitzend, hatte er ihr Geschichten von der Flucht erzählt, gegen die ein kleines weisses Parkgespenst ein Klacks war. Als unbegleiteter jugendlicher Migrant war Malik im Frühsommer über die Grenze gekommen. Jessie hatte ihn zufällig kennengelernt. Die Schreinerei, in der er an einem Einsatzprogramm teilnehmen durfte, lag auf ihrem Heimweg. Beim ersten Blickkontakt war es, als ob Jessie der Blitz getroffen hätte. Seit Malik sie bei der Hand genommen hatte, hatte sie sich sicher gefühlt. Noch sicherer, als sie den Platz hier unten entdeckten. Er war ihr Nest, ihre Heimat. Sie waren immer supervorsichtig gewesen, hatten aufgepasst, dass keiner sie sah.

An einem späten Nachmittag, als Jessie auf Malik wartete, hatte sie Philomena Lombardi kennengelernt. Erst hatte Jessie sich total erschreckt. Bestimmt würde die Villenbesitzerin sie bei der Polizei anzeigen. Sie tat es nicht, stattdessen hatte sie Jessie das Du angeboten und ihr zugehört. Voll geschockt hatte sie reagiert, als Jessie von dem Mietshaus erzählt hatte, in dem sie mit Mama wohnte. Von der kleinen Wohnung, der teuren Miete, vom versifften Treppenhaus, vom kaputten Herd.

«Könnten wir vielleicht bei Ihnen einziehen?», hatte Jessie gefragt. «Die Villa ist so riesig.»

Frau Lombardi hatte gelacht. «Ich habe selbst Kinder, die hier wohnen werden. Aber ich weiss vielleicht von einer Wohnung. Wenn ich wiederkomme, hinterlasse ich dir eine Nachricht. Sieh jeden Tag im Briefkasten nach.» Sie hatte Jessie die geheime Luke in der Mauer beim Plätzchen gezeigt, wo sie auch die Schlafsäcke aufbewahren konnten, damit sie geschützt waren.

«Wollen Sie mir nicht lieber eine WhatsApp schicken?», hatte Jessie gefragt.

«So ist es spannender. Als Kind haben wir uns da Nachrichten hinterlassen. Vertrau mir.»

Es war eisig geworden. Der Himmel, der weit oben durch die Pergola schimmerte, war dunkel. Malik ist nicht hier. Er kommt nicht mehr. Jessie musste weinen. Es überfiel sie und wollte nicht mehr aufhören. Malik, Mama, die Wohnung … ein riesiges Kuddelmuddel. Verzweifelt schaute Jessie nach oben. Sie zuckte zusammen. Jemand stand da, am Ende der verbotenen Treppe. Jessies Herz setzte aus. «Malik?»

Er war es nicht. Es war ein Wesen ganz in Weiss, das sie unbeweglich anstarrte. Jessie schrie auf und schlüpfte in die Luke zu den Schlafsäcken. Sie machte sich ganz winzig, steckte den Daumen in den Mund und konzentrierte sich auf die Musik. Sie schaukelte vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück.

Als nichts passierte, regte sie sich. Sie schob den Kopf vor und lugte nach oben. Die Frau war weg. Jessie richtete sich auf und streifte die zusammengerollten Schlafsäcke. Da fiel etwas zu Boden. Mit zitternden Händen öffnete sie den Umschlag. Darin war ein Zettel, datiert am 8. Dezember, unterschrieben – mit Hilfe der Taschenlampe konnte sie es deutlich lesen – von Philomena Lombardi. Sie hatte Jessie eine Nachricht hinterlassen.

«Liebe Jessie, entschuldige, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich bin wieder da. Und ich kann dir eine Wohnung anbieten, ganz in der Nähe. Die Besichtigung ist am Freitag, 13. Dezember. (Kein Scherz.) Acht Uhr. Du musst pünktlich sein.»

Zürcher Filz

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