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Auf der verblassten Mauer suchte Meier nach der Hausnummer. Das Gebäude war hoch, acht Stockwerke, Südlage. Etwas heruntergekommen, an der Scheuchzerstrasse im Kreis 6, nahe dem Unihauptgebäude gelegen. In den Bogen über der Tür waren die Worte «SONNECK» geritzt. Bauhausstil, dachte Meier. Eine Perle.

Die Adresse hatte er sich auf die Visitenkarte geschrieben, die ihm Charles Bonvin gegeben hatte. Ihn hatte er bei der Wohnungsbesichtigung eben kennengelernt. Er war eine echte Goldgrube gewesen. Nicht nur, dass er Meier einiges über die Lombardi-Stiftung erzählt hatte, er hatte ihm ein Angebot gemacht. Sollte für Meier und seine Familie auch ein Wohnungskauf in Frage kommen, dürfe er unverbindlich im SONNECK vorbeischauen. Das Haus werde abgerissen und neu gebaut, Meier könne sich ein Bild von der Lage machen. Einzigartig! Von den zwanzig geplanten Wohneinheiten seien fast alle verkauft.

Hinter vorgehaltener Hand hatte Bonvin ihm ausserdem anvertraut, die Chance, die Wohnung an der Minervastrasse zu bekommen, sei gleich null. Bei über tausend Bewerbern würden sie die Vergabe strengsten Kriterien unterziehen, drei Kinder und eine Universitätsanstellung der Ehefrau – der Einfachheit halber hatte sich Meier als verheiratet bezeichnet – seien schlechte Voraussetzungen. Vermutlich würde die Stiftung die Wohnung sogar eine Weile leer stehen lassen, um keinerlei Anstoss zu erregen.

Der kurzatmige Charles Bonvin mit seinem Siegelring hatte sich als aussergewöhnlich redselig erwiesen. Genauso wie es Meiers Freund Eli Apfelbaum, den er vor der Wohnungsbesichtigung um einen Rat bat, prophezeit hatte. «Du willst eine Auskunft über Charles Bonvin? Da hast du richtig Massel, Werner, dass du mich fragst. Ich kenne den guten Charles ein wenig. Ein diskreter Spieler, einmal im Monat fährt er nach Konstanz zum Pokern. Wir teilen den Waschsalon und den Frisierer.»

Wäscherei und Coiffeur – soziale Anziehungspunkte für alleinstehende Herren. Nach der Besichtigung war Meier sofort losgezogen. Er wollte Barras ein perfektes Dossier übergeben, voller Informationen und vielleicht sogar mit einer Lösung des Falls.

Meier ging ums Haus herum. Der Garten war überwuchert mit Efeu, in dem allerlei Unrat hing, es stank nach Urin. Ein wischendes Geräusch, ein zuckender Schwanz. Offenbar nahm es hier niemand mehr so genau. Zurück beim Eingang studierte Meier die Briefkästen. Einige waren übervoll, andere leer. Ein Name fiel ihm auf. Del Pietro. Italienisch, wie Lombardi. Er fand ihn auch auf einer der Klingeln. Versuchte es.

«Willst du rein?» Eine junge Chinesin, die gerade vom Joggen zurückkam, öffnete die Tür. «Kommst du wegen dem freien Zimmer?», fragte sie auf Englisch.

Meier nickte schnell und ging hinter ihr her. Fünf Stockwerke hoch, er kam ins Keuchen.

Die Junge verschwand mit dem Hinweis, dass sie duschen müsse, und rief ihren Kollegen. Das klappt ja wie am Schnürchen, dachte Meier, manchmal braucht es ein wenig Glück. Vom Türrahmen aus sah er in eine uralte Küche, mit einem Spültrog aus Steingut.

«Hei, ich bin Jonas.»

Der Student hielt Meier für einen Bewerber, drückte ihm einen Anmeldezettel in die Hand und erklärte, wie es in dem Haus lief. Es sei eine Zwischennutzung, bis es umgebaut werde, mit Kündigungsfrist von einem Monat.

«Nichts mehr wird repariert, die Leitungen verstopfen schnell, die Elektrizität fällt aus, es gibt nur kaltes Wasser. Dafür ist die Miete superbillig. Die Lage ist geil.»

Meier bedankte sich und wollte wieder gehen.

«Willst du dein Zimmer nicht sehen?»

Als Meier ablehnte, war Jonas sichtlich enttäuscht.

Meier steckte den Zettel ein, trat ins Treppenhaus und drückte auf den Liftknopf. Nichts passierte. Vermutlich auch kaputt. Aus einer Eingebung heraus ging er nach oben statt nach unten. «Del Pietro», stand in alter Schnörkelschrift auf einem Schild. Die Klingel funktionierte tadellos.

Meier wartete, bis die Tür sich öffnete.

«Die schicken einen Mann? Das ist ja ganz was Neues», schimpfte der Alte, der ihm gegenüberstand.

Als er verstanden hatte, dass Meier nicht von der Pflege war, lud er ihn auf einen Espresso ein.

Meier folgte ihm ins Wohnzimmer, wo die italienische Kaffeemaschine einen verführerischen Duft verbreitete. Während der alte Mann in epischer Langsamkeit zwei Tassen aus einer Vitrine nahm und Kaffee einschenkte, schwarz, zwei Löffel Zucker, sah Meier sich um. Es war völlig anders als zwei Stockwerke tiefer. Überladen mit Nippes, einem Bücherschrank, einer Vase voll welker Rosen. Der angejahrte Fernseher lief im Hintergrund, über dem oberen Teil lag eine gehäkelte Decke. Meier erfuhr, dass Gianmarco Del Pietro seit mehr als fünfzig Jahren in dem Haus wohnte, dass seine Frau vor zwei Jahren verstorben und er eine Zeit lang Hausmeister gewesen war.

«Kannten Sie Herrn Lombardi?»

Das war das richtige Stichwort. Der alte Lombardi. Ein richtiger Tausendsassa, in den sechziger Jahren eingewandert, als die Welt im Aufschwung war. Seine ersten beiden Häuser habe er von seiner ersten Frau bekommen. «Nur das Nötigste renovieren, reparieren statt erneuern. Und preiswerte Mieten für alle.» Mit dem Wahlspruch habe Alfredo Erfolg gehabt. Über die Mieten habe er genug Geld eingenommen, um die Anzahlung auf ein drittes Haus zu leisten. Schnell seien die Leute Schlange gestanden.

«Das ist immer noch so», warf Meier ein.

Del Pietro grinste ein zahnloses Lächeln. «Er wirkt übers Grab hinaus, genau sein Stil.»

«Aber drei Häuser ergeben noch kein Imperium. Ich habe gezählt», sagte Meier, zückte sein Notizbuch, ein geklautes Schulheft von Finn, und suchte nach der Zahl, die ihm Apfelbaum eben durchgesagt hatte. «Herr Lombardi besitzt neunhundertvierundsechzig Häuser. Die meisten davon in Zürich.»

Der Alte staunte. «So viele? Das hätte ich nicht gedacht. Nun ja, da kamen eben die Frauen ins Spiel. Le donne. Ein Schwerenöter war er, der Lombardi.»

«Was heisst das?», wollte Meier wissen.

«Liebeleien. Schmuckgeschenke. Einige Erbschaften. Ein, zwei Legate», sagte Del Pietro verschmitzt. «Die sich – offenbar – immer weiter vermehrten. Wer hat, dem wird gegeben.»

Während Del Pietro in der Vergangenheit schwelgte, schrieb Meier Seite um Seite voll. Die Geschichte, die er erfuhr, war erstaunlich. Häuser, Frauen, Geld. Geld, Frauen, Häuser.

«Und von wem ist die Tochter, Philomena?»

Auch da wusste Del Pietro Bescheid. «Von der zweiten Frau, Irène, die nach Israel ausgewandert ist. Die Tochter hat sie nachgeholt, als sie fünfzehn war, in der Adoleszenz. Hat er nie ganz verwunden, er hat die Kleine geliebt. La mia principessa hat er sie genannt. Er wäre gerne ein guter Papa gewesen, aber das Leben ist ihm dazwischengekommen. Wie es halt so läuft.»

«Ich habe gehört, dass Philomena die Stiftung übernehmen soll», sagte Meier.

«È vero? Santa Maria, das wäre ein Segen.» Del Pietro bekreuzigte sich.

«Warum?»

Meier verschlug es die Sprache, als er die Tatsachen hörte. Nur eine Woche nach Lombardis Tod, genau sieben Tage später, hatte Del Pietro die Kündigung bekommen.

«Schriftlich, per Einschreiben. Können Sie sich so etwas vorstellen? Aus heiterem Himmel. Mit einem Kaufangebot. Für die neu zu erstellenden Wohnungen.» Er hielt inne, schnappte nach Luft. «Zwei Millionen. Ich bitte Sie, kann ich so viel für eine Drei-Zimmer-Wohnung bezahlen? Woher nehmen und nicht stehlen?»

Er und einige andere alteingesessene Mieter hätten vor Gericht ziehen wollen, die Juristin des Mieterverbandes habe sie dazu ermuntert. «Die anderen sind alle abgesprungen, diese Hasenfüsse. Die Termine für die Fristverlängerung sind verstrichen. Nun will mich die Stiftung zwangsräumen lassen. Ich soll in eine Ersatzwohnung ziehen.»

«Und wo liegt die?»

«In einem Lombardi-Haus am Greifensee. So ein lausiger Tümpel.»

«Der Greifensee ist ein Juwel», wehrte Meier sich für seinen Lieblingssee.

«Mag sein», sagte Del Pietro. «Aber ich will da nicht hin. Ich habe Jahrzehnte hier gelebt. Als ich eingezogen bin, gab’s auf der Scheuchzerstrasse noch Pferdegetrappel. Nur fussvoran bringen die mich raus. Das habe ich denen gesagt. Und wie, richtig randaliert habe ich. Und ich habe noch mehr vor. Als ältester Bewohner eines Lombardi-Hauses sitze ich nämlich im Stiftungsrat, das hat Alfredo testamentarisch verfügt, und niemand hat es angefochten. Die müssen mich anhören. Es wird eine Rede, die sich gewaschen hat. Ich gewinne den Krieg. Bis dass der Tod uns scheidet.»

Eine Stilblüte besser als die andere – Meier gefiel der streitlustige alte Mann.

«Wer ist verantwortlich für diese Misere?»

«Die drei von der Tankstelle. So nenne ich die Geschäftsleitung. Die wollen sich alles unter den Nagel reissen. Ich bin nicht der Einzige, der das gemerkt hat. Gestern war jemand hier. Eine Person, adrett, sehr jung. Neutral, sagte sie. Ganz neutral schaut sie alles an, und dann schreibt sie einen Bericht. Die Person wollte das Gleiche wissen wie Sie. Und noch ein bisschen mehr.»

Meier merkte auf. «Können Sie die Person beschreiben?»

«Analytisch, pflichtbewusst, empfindsam.»

«Und äusserlich?»

«Gehen Sie mir weg mit äusserlich. Valore interiore – auf die inneren Werte kommt es an. Da muss irgendwo eine Visitenkarte sein.»

Als Del Pietro auf dem Kaffeetisch herumtastete, wurde Meier klar, dass er nicht mehr gut sah. Schliesslich wurde Del Pietro fündig und hielt Meier die Karte hin.

«‹DeHabitat›», las Meier vor. «‹Beratungsfirma für Wohnstiftungen›.» Er wunderte sich. «Was es alles gibt.»

Der Alte pflichtete ihm bei. «Philomena Lombardi hat die Firma angeheuert. Sie wehrt sich. Gut so.»

«Wieso denken Sie, dass dies was verändern wird? Eine Beratungsfirma berät. Die verändert nicht.»

«Sind Sie naiv, oder tun Sie nur so? Beraten ist doch nur der Vorwand. Ich habe die Person erlebt. Die ist mindestens so wütend wie ich.»

«‹DeHabitat›?», sagte Meier. «Zu Deutsch: ‹über das Wohnen›. Ein guter Name.»

«Wollen Sie eine Prophezeiung? ‹DeHabitat› wird herausfinden, dass die Haag, dieser eiserne Besen auf zwei Beinen, zu ihrem eigenen Vorteil wirtschaftet. Dass Charles Bonvin am Abgrund schwebt, dass sein Ziehsohn, dieser Schnösel Noah Sanders, ein Günstling ist, dass –»

«Moment? Bonvin hat einen Ziehsohn? Arbeitet der auch in der Stiftung?»

«Als Projektleiter. Er hat einen Preis gewonnen. Er darf die alte Lombardi-Wäscherei in Wiedikon umbauen. Und dabei hat er keinerlei Erfahrung. Wenn das mit rechten Dingen zugegangen ist, fress ich einen Besen.»

Meier kam kaum nach mit Schreiben. «Und Johannes Lombardi? Der scheint der Sauberste zu sein.»

«Da lasse ich mich überraschen. Auf jeden Fall wird das Triumvirat aufs Abstellgleis geschoben, wenn Philomena übernimmt.» Del Pietro schwieg. So erschöpft, sah man ihm das Alter an.

Meier klappte sein Heft zu. «Philomena Lombardi gilt als vermisst. Wie schätzen Sie das ein?»

Del Pietro dachte längere Zeit nach. «Sie ist ein Vogel, man kann sie nicht einfangen. Keine Sorge, vor Weihnachten wird sie da sein. Sie hat es mir versprochen.»

Kaum stand Meier draussen, scrollte er durch die Website von «DeHabitat». Es war ein Minibetrieb, der aus einem Experten für Stiftungsmanagement bestand. Es wurden keine Namen erwähnt. Zwei Stichworte blieben Meier haften: Gutachten, Analyse und Begleitung bei der Neugestaltung interner Prozesse. Oder anders gesagt, im Dreck wühlen und umstrukturieren. Genau wie Del Pietro vermutete. Das war hochbrisant. Wenn Philomena Lombardi tatsächlich die Absicht hatte, ihre Stiftung drastisch zu verändern, dann wurde sie für einige Leute zur Feindin Nummer eins. Diese Information war wichtig für die polizeilichen Ermittlungen. Aber bevor Meier Barras all das mitteilen konnte, musste er noch mehr in Erfahrung bringen. Es war später Freitagnachmittag. Er hatte noch einige Stunden Zeit.

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