Читать книгу Magdalenas Mosaik - Gabriele Engelbert - Страница 10
Freiheiten
ОглавлениеDer Kaffee war ein Ritual, das unbedingt eingehalten werden musste. Jedenfalls seit sie zusammen in der Haynstraße wohnten. Oft kam Kaki zum Kaffee herüber, oft trafen sie sich bei ihr in der Husumerstraße drüben. Oft gab es auch Kaffee mit Nachbarn.
Wenn das Wasser im Kessel kochte, der Filter auf der Kanne stand und es bereits betörend duftete, griff Lene eilig im Flur den Schlüssel vom Haken, ließ die Wohnungstür einen Spalt offen und lief die Treppe hoch.
„Frau Zettel? Kaffee ist gleich fertig.“
Oben ging die Wohnungstür. „Ach, Sie Gute! Komme gleich.“
Das war schon früher so gewesen. Schon kurz nachdem sie hier in Hamburg angelangt waren. Während Lene jetzt in ihre Küche zurückeilte, liefen auch ihre Gedanken unversehens zurück. Früher mal…
In den Jahren kurz vor dem Krieg, als sie selbst kaum hier angekommen war, da hatten sie auch schon zusammen Kaffee getrunken. Damals, Mitte der Dreißiger Jahre, war die liebe Nachbarin, Frau Zettel, nicht allein gekommen. „Ich kann die Lütte doch nicht oben lassen.“
Die Kleine knickste artig, spähte durch den Flur zur offenen Stubentür. „Onkel Viva da?“
Der alte Herr, kaffeedurstig wartend in seinem Sessel, war entzückt. „Na, unser Ilschen, was für eine Ehre.“ Er paffte sich in eine Venezuela-Duftwolke und musterte das junge, rotwangig-energische Persönchen. „Kaffee oder Malen?“
„Weißt du doch.“ Ungeduldig zappelte sie vor seinen übereinander geschlagenen Beinen. „Ich trink doch nicht Kaffee.“
„Immer noch nicht? Na, dann zu den Farben.“ Vorsichtig legte er die Zigarre auf den Messing-Ascher. Seine Knie knackten, als er sich erhob. „Lenchen, bringst mir den Muckefuck rüber? Dann habt ihr die Stube für euch.“
Frau Zettel trug schon das Tablett mit Tassen aus der Küche herein. „Machen Sie mir das Kind nicht eitel.“
Er schüttelte den Kopf: „Nee, so ist die nicht.“ Und er folgte der Kleinen, die bereits quer durch den Korridor hüpfte. „Das grüne Zimmer, das mag ich so.“
Er öffnete die Tür. „Ich hör immer Zimmer? Von wegen! Mein Atelier heißt das doch, wie du weißt. So viel Höflichkeit muss sein.“
„Malen Sie wieder, Herr Wüst?“ rief die Nachbarin.
Aber er war schon hinten in der Diele, winkte ab. „Schscht. Verraten wird nichts.“
Frau Zettel hörte ihr Töchterchen kichern und flüstern. Hatten die beiden ein Geheimnis?
„Kaffee kommt gleich.“ Lene schob die Zeitungen auf dem Tisch beiseite. „Immer Platz nehmen, liebe Frau Zettel.“ Sie wies auf das Kanapee, rückte für sich selbst einen Stuhl ab und setzte sich. Nur auf die Kante, denn sie sprang gleich wieder auf, um den Kaffee zu holen. Stillsitzen war nicht ihre Sache. Der Schreibtisch hatte sie lange genug festgehalten. Jetzt war Kaffee dran. Und dafür war auch die liebenswerte Nachbarin immer zu haben.
„Kekse?“ Sie hielt die Schale schon in der Hand. „Kennen Sie ja schon. Nichts Neues. Die Kinder mögen‘s auch mal gern süß.“
„Ihre selbstgebackenen? Ah, die mit ohne alles?“ Sie kicherte, „Nur mit Liebe, weiß ich ja.“
Lene nickte. „Mach‘ ich doch oft. Einfach und schnell.“
„So die Kinder, ja was machen die? Gute Fortschritte?“
„Naja“, Lene zögerte, „Alles ist eben anders. Sehr anders hier.“
Frau Zettel nickte.
Lene war schon wieder auf dem Weg in die Küche. Immer neugierig, die Nachbarin, dachte sie, obwohl von Herzen mitfühlend und aufmerksam. Aber Frau Zettel brauchte nicht alles zu wissen. Georg hatte es nicht leicht. Die Buben waren hier so hanseatisch, arrogant, eben weltoffen, manche eingebildet, wie auch immer, Lene selbst war da noch nicht so ganz im Bilde. Hanna in der Grundschule hatte es besser getroffen.
„Ich bringe den beiden eben was rüber“, rief sie der Nachbarin zu.
Mit der dampfenden Kaffeetasse und einem weiteren Kekstellerchen beladen durchquerte sie den dunklen Korridor und klinkte die Ateliertür mit dem Ellenbogen auf. Da saß der alte Herr vorgebeugt auf seinem Hocker an der Staffelei. Die kleine Ilse hatte er auf einen Stuhl vor den Kleiderschrank beordert. Da thronte sie, stolz und rot, weil sie sich doch so Mühe gab still zu sitzen. Das war nicht einfach. Und dazu noch das ständige „Sitz gerade! Schultern zurück. Hände ruhig, - Meine Güte, bist du zappelig. – Oh, Kaffee, wunderbar. Dank dir.“
„Hilft euch das hier?“ Lene setzte alles auf den Tisch ab und zwinkerte dem Kind zu. „Ich verrat‘ auch nichts.“
Sie ließ die beiden allein und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Frau Zettel gemütlich in der Sofaecke lehnte.
„Nu‘ aber, was?“ Lene goss ein, schob der Nachbarin das Milchkännchen näher und setzte sich endlich. „Was gibt’s denn so Neues?“
Während sie sich bemühte zuzuhören, schweiften ihre Gedanken ab. Frau Zettel merkte es nicht. Lene nahm die Tasse in beide Hände. Der Duft, ah! Sie nahm einen Schluck, lächelte zum Kanapee hinüber, nickte der Nachbarin zu. Dort hatte Paul immer…, Kaffeestunden damals…, nein, sie wollte das jetzt nicht zulassen. Vorbei ist vorbei. Aber das Früher drängte sich immer wieder in die Gegenwart vor. Das war wohl so bei alten Leuten. War sie so alt? Zu alt vielleicht für die Gegenwart? Sie straffte die Schultern, stellte die Tasse ab. „Nehmen Sie Kekse, Frau Zettel, - ach, ich seh‘, Sie haben ja schon.“
Das Lachen der Nachbarin war hell und fast mädchenhaft übermütig. „Wieder in Gedanken? Nein, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. - Wie kommt Hanna denn zurecht?“
Hanna. Ihre allerbeste alte Hanna-Freundin und die junge, tüchtige Hanna, ihre Tochter. Hanna und Georg. Die waren ihr geblieben, und das war die Gegenwart. Haltepunkte.
Lene schüttelte die Vergangenheit in die sauber geputzte Vergangenheits-Gehirn-Schublade. Verstauben sollte hier nichts. Aber alles hatte seine Zeit, und jetzt wollte sie die Nachbarschaft genießen. Die Frauen mochten sich, so unterschiedlich sie auch waren. Zum Kaffee gehörte ein Schwatz und entspannte Leichtigkeit. Eine kleine, kalte Dusche im Kopf, die erfrischte. So eine Abwechslung hatte sie schon immer gebraucht. So einen Plausch, liebe Menschen, mit denen man lachen konnte.
Als Ernst mit Ilschen aus dem Atelier kam, sprang die Kleine mit roten Wangen zu ihrer Mutter. „Du weißt das nicht, du weißt das nicht, Mami, und du darfst das nicht wissen.“
„So? Also doch ein Geheimnis?“
Ernst schmunzelte. „Nichts verraten, Ilschen.“ Und die Kleine legte verschwörerisch den Finger an die Lippen.
Die Kanne war leer. Die große und die kleine Nachbarin verabschiedeten sich dankend, Lene räumte den Tisch ab. Dann eilte sie wieder an den Schreibtisch. „Du hast wohl auch noch zu tun, Enn?“
„Bin schon weg, keine Sorge.“ Er lachte der Schwester ins Gesicht.
„Noch eine halbe Stunde, dann kommt Hanna aus der Schule.“
Ja, so war das früher gewesen. Bald nach ihrer Ankunft hatte sich die Vormittags- Kaffeestunde etabliert. Das war jetzt gute 16 Jahre her, turbulente, schreckliche und inzwischen neue, sehr andere Zeiten. Gewohnheiten waren da zum Anklammern wichtig, das hatten sie alle gemerkt.
Der Schreibtisch war ihr geblieben. Lene ging vor den Schubladen in die Knie. Sie wusste, wonach sie suchte. …
In Elbing gab es ein Lehrerinnen-Seminar in der „Kaiserin-Victoria-Schule“. Vater war Lehrer geworden, warum also sollte Lene das nicht auch fertigbringen? Sie musste ja nicht Gymnasialdirektorin werden, aber Lehrerin, das wäre doch wenigstens etwas.
Es gab auch noch einen weiteren Grund: Erst wenn sie zu Hause auszog, würde sie sich vielleicht mal erwachsen fühlen. Wie mochte das sein?
Sie verlor keine Zeit, meldete sich an mit Vaters Hilfe, und bekam am 11. April 1905 das nötige Führungs-Attest der Polizeiverwaltung zu Osterode ausgehändigt. Nachteiliges über ihre Führung war zum Glück ja nicht bekannt.
Soweit ihr Plan. Und den setzte sie durch. Zog also, schwupps, zu Hause aus. Und bereits nach wenigen Tagen stellte sich auch das ein, was sie selbst und sicherlich die Schwestern von ihr erwarteten: das Erwachsen-Gefühl. Jetzt konnte das richtige Leben losgehen. Jetzt entschied sie selbst weitgehend, wie sie ihre Tage und Nächte einteilte, was sie sonst so trieb. Ein klitzekleiner Haken war nur der Geldbeutel. Mit diesem Haken hing sie noch am Vater fest. Da waren die ehemaligen Schulkameradinnen natürlich besser dran, die jetzt selbst ihr Brot verdienten.
Elbing war nicht weit weg, aber doch weit genug, fand Lene. Nur etwa acht Kilometer vom Frischen Haff entfernt, konnte sie hier schon den Duft der großen weiten Welt schnuppern, oder nicht?
Elbing, das Wort stammte, wie sie lernte, vom ostgermanischen „Albing“, dem „weißen, hellen“ Fluss. Hell und nordisch wirkte auch die Stadt. Schlank wie der Turm der Nikolaikirche waren auch die Fronten der Patrizierhäuser am Hermann-Balk-Ufer, jedes in seiner individuellen, vornehmen Eigenart der Backsteinbaukunst gestaltet, die Fronten zur Straße hin. Der mächtige Bau des Heilig-Geist-Hospitals beeindruckte ebenso wie das schmucke Rathaus am Friedrich-Wilhelm-Platz mitsamt den rund um den viereckigen Marktplatz gelegenen hanseatischen Kaufmanns- und Bürgerhäusern. Hohe Fachwerkspeicherhäuser lagen am Elbingfluss. Die Stadtanlage war der Ostsee zugewandt und spürbar auf Handel ausgerichtet. Wie andere Hafenstädte wurde auch in Elbing der Schutz einer Ordensburg frühzeitig durch den naheliegenden Schutz des Fernhandelsplatzes ersetzt.
Ja, Elbing gefiel Lenchen. Die Stadt stand der schwesterlichen Hansestadt Danzig in nichts nach, fand sie. Noch vor rund 600 Jahren war Elbing die weitaus bedeutendere Hansestadt gewesen. Es hatte eine günstigere handelsgeografische Position. Erst als die Öffnung des Frischen Haffs weitgehend verlandete, verlor auch der Handel an Bedeutung.
Die berühmteste Verbindung zwischen Osterode und Elbing war natürlich der Oberländer Kanal, eine ausgetüftelte technische Meisterleistung. Das wusste jedes ostpreußische Schulkind. 1845, also 44 Jahre vor Lenes Geburt, begann man unter Leitung des Königsberger Ingenieurs Steenke mit dem Bau dieses Kanals. Er sollte eine Schiffsverbindung zwischen den 100 Meter höher gelegenen Seen des Oberlands und dem Drausensee bei Elbing und damit auch zum Frischen Haff werden. Fünf Geländestufen innerhalb der Seenkette wurden durch geneigte Ebenen miteinander verbunden. Auf diesen geneigten Landwegen wurden die Schiffe auf Eisenbahnwagen geladen und auf Schienen jeweils hinaufgezogen. Dampfer rollten so über Land. Es war eine etwa 200 Kilometer lange Verbindung zwischen den Seen, davon 41 Kilometer Kanal. Etwa 1860 war das technische Kunstwerk fertiggestellt. Die neue Schiffsstraße diente zunächst meist dem Güterverkehr. Als 1893 dann die Eisenbahnstrecke zwischen Elbing und Osterode gebaut wurde, verlor der Kanal an Bedeutung für den Handel, entwickelte stattdessen aber als einzigartige Kuriosität eine Anziehungskraft auf Feriengäste zu jeder Jahreszeit.
Lenchen reiste mit der Bahn. Direkt nach den Ferien fing das Lernen in Elbing an. Das war fast wie Schule, nur etwas „erwachsener“ und mit strengerer Beurteilung. Die „sehr gut“ fielen nicht mehr so einfach vom Himmel. Nur im Rechnen und Zeichnen lagen ihre Leistungen an dieser begehrten Spitze. Die Fächer waren ähnlich, Handarbeiten kam dazu und Geigenspiel. Letzteres sollten Lehrer üblicherweise beherrschen. 1905, im ersten Jahr kam sie in Klasse C, Zeugnisse gab es zu Michaelis vor den Herbstferien und zu Ostern 1906, da wurde sie versetzt in Klasse B. Ostern 1907 kam sie in die Klasse A, das war schon die höchste. In den letzten eineinhalb Jahren musste sie auch Lehrproben halten. Die waren dann mit „genügend“ beurteilt worden.
Auch während dieser Zeit blieben Briefe nicht aus. Reichlich kamen die aus dem Elternhaus, aber auch von Freundinnen und Freunden.
Beispielsweise schrieb der gute Freund und Verehrer Max Horn aus Berlin. Am 16. Juni 1906 schickte er eine Postkarte aus Berlin an „Fräulein Maria Magdalena Wüst in Elbing, Westpreußen, Höhere Mädchenschule“ mit umseitig einem romantischem Blick „Partie am neuen See im Tiergarten - Gruss aus Berlin“.
Möchte wieder wallen / hin zu diesem Ort / ist er doch vor allem / meiner Träume Hort.
Unter diesen Zweigen / wonnevoll und traut / hab‘ in Einsamkeiten / diesen Vers gebaut.
Als der Traum geschwunden / musst ich heim zur Stadt. / Hatte Ruh‘ gefunden / die gesucht ich hatt‘./ Möchte wieder wallen / hin zu jenem Ort. / Ist er doch von allen / meiner Träume Hort.
Ja, der gute Max, mit ihm verband Lene mittlerweile eine Freundschaft. Zuletzt hatten sie sich in Berlin getroffen. Lene war dort ja nicht selten in den Ferien zu Besuch bei den Schwestern Dore und Thea. Seit sie selbst nun etwas größer und runder geworden war, meinte Max anscheinend, die Freundschaft könnte sich in etwas mehr wandeln und fortsetzen? Oh, bitte, das ließ sie sich gern gefallen. Ganz was Neues. Es kitzelte auf vergnügliche Weise. Warum also nicht? Er war doch ein lieber Junge.
Das Lernen war allerdings doch die Hauptsache. Deswegen war sie hier in Elbing.
Am 11. Februar 1908 hielt sie ihr „Prüfungs-Zeugnis“ in Händen. Sie wurde, so stand es darin, „nachdem sie ihre sittliche Führung und ihre körperliche Befähigung für den Lehrberuf durch Zeugnisse dargelegt, von der unterzeichneten Kommission am 10. und 11. Februar vorschriftsmäßig geprüft.“ Nun war sie „befähigt zum Unterricht an mittleren und höheren Mädchenschulen“, unterzeichnet von der „Königlichen Prüfungs-Kommission für Lehrerinnen“ des „Königlichen Provinzial-Schul-Kollegs von Westpreußen“.
Soweit, so gut. Inzwischen war sie fast 19 Jahre alt und wirklich erwachsen. Naja, so meinte sie jedenfalls meistens. Aber wie wichtig war das eigentlich? Wichtig für die Menschen um sie herum? Wichtig für sie selbst? Wichtiger war doch wohl das, was sie gelernt hatte, oder?
Jetzt war sie immerhin Lehrerin. Also her mit irgendwelchen Mädchen oder Mädchenschulen, bitteschön, wo sie unterrichten konnte.