Читать книгу Magdalenas Mosaik - Gabriele Engelbert - Страница 11
Wer ist Magdalena?
ОглавлениеJa, da saß sie also Jahrzehnte später in der Haynstraße. Gerade hatte sie zurückgedacht an ihre Jugend. Jetzt betrachtete sie fast irritiert ihre blau geäderten Hände, die altersgekrümmten Finger, die den Stift hielten. Faltige Haut, sehnige, leberfleckige Hände waren das geworden, an den Knöcheln verdickte Finger. Wie war sie früher stolz gewesen und eitel auf ihre schlanken, biegsamen Hände, jawohl. Und auf ihre Geschicklichkeit damit. Die hatte sie immer wieder gebraucht zum Schreiben, zum Verbände-Anlegen, Klavierspielen, zum Teigkneten, zum behutsamen Streicheln oder Kartenspielen. Verbraucht, abgenutzt sahen sie jetzt aus, diese alten Hände. Sie lächelte unwillkürlich, als sie an ihre damalige Eitelkeit, besonders ausgeprägt in den Jahren in Elbing -, zurückdachte. Zwar hatte sie eigentlich nie so dämlich angepasst gepflegt und auf Äußeres bedacht sein wollen wie ihre Schulkameradinnen, oh nein. Aber, oh ja, genauso angepasst dämlich und naiv war sie doch oft gewesen. Obendrein arrogant und leider besserwisserisch, oft überheblich. Weiß Gottchen, sie hatte sich zeitweise für etwas Besonderes gehalten. Hatte mit hochgereckter Nase ihren Charme in die Freundesrunde gestrahlt und begierig die Hände, Augen und Ohren aufgehalten nach Schmeicheleien. Energiegeladen vom Kopf bis in die Zehenspitzen eben, so war sie immer, und dagegen ließ sich anscheinend nichts tun.
Amüsiert blickte die alte Lene auf ihre wie Leder gegerbten Altershände. Jawohl, die Beweise lagen vor ihr. Meine Güte, damals, besonders zwei Jahre vor dem Abschluss des Seminars in Elbing, war sie diese überspannten, unschuldigen und backfischalbernen Jahre alt gewesen.
Damals also, mit 16 Jahren, war sie allmählich komisch geworden. Ähnlich wie die meistern Mädchen ihres Alters wahrscheinlich. Man nannte sie nicht Teenager, wie es heutzutage hieß, sondern Backfische, das bedeutete, im Laufe des Backvorgangs im „Ofen“ der Umgebung, also noch nicht fertig. Backfisch traf dieses Alter viel besser als das Wort „Teenager“, was ja nur eine zeitliche Einordnung enthielt. Diese Jahre mit all ihren Merkwürdigkeiten, dem Unfertigen, Unsicheren, den vielen Fragen und der Auflehnung gegen alles Alte. Merkwürdigerweise wurden aber früher nur Mädchen so betitelt. Waren Jungens nie im Backfisch-Alter? Weder albern, noch unsicher, weder vorlaut, noch schüchtern, weder aufsässig, noch frech und kratzbürstig? Oder verschwieg man damals etwas und hatte man sich stattdessen wieder einmal nur über Mädchen-Allüren lustig gemacht?
Wieder musste die alte Lene lächeln. Nein, inzwischen wusste sie es in der Tat besser. Wusste, dass Jungen ebensolche Backfische waren, oft dazu besessen von lachhaft tollkühnem Übermut und pfiffigem Erfindungsreichtum oder überspannten Ideen. Hier passte der Ausdruck Teenager jedenfalls besser und galt für beide Geschlechter.
Lenchens Art komisch zu werden, war damals allerdings etwas anders als bei ihren Altersgenossinnen. Obwohl sicherlich jede von ihnen so ihren eigenen krausen Vorstellungen und Träumen nachhing.
Lenchen war nicht mehr das Nesthäkchen, sondern Lene. In Elbing begann sie sich selbst zu entdecken. Vielleicht hatte sie auch ein Inneres und ein Äußeres? So wie sie es früher bei Papa und Mama gemerkt hatte? 0der anders?
Sie war auf jeden Fall nicht so wie ihre Schwestern, nein, da war sie sicher. Sie liebte und bewunderte alle, aber so wie eine von ihnen wollte und könnte sie nie sein, dachte sie. Warum auch? Jede war verschieden, so wie ein farbenprächtiger Blumenstrauß hielten sie deshalb aber umso fester zusammen. Wenn sie beispielsweise an die liebe Lotte, die Älteste, dachte, ach, du liebe Zeit, die Ärmste war mit 14 Jahren von der Schule abgegangen, um zu Hause mit anzupacken und sich nützlich zu machen. Als ihre Mutter schwanger wurde mit Lenchen, brauchten die anderen fünf Geschwister Aufsicht, der Haushalt geschickte Hände. Lotte konnte alles. Anscheinend hatte sie das immer gekonnt. Sie war tüchtig, fleißig, flink, und sie fragte nicht viel, sondern guckte, wo zu helfen war und half. Nach einem Jahr zu Hause fand sie eine Stelle als Hausmädchen bei einer russischen Familie. Ihre Eltern willigten ein, so zog sie mit nach Bialystok und war auch dort bei der Familie und im Haushalt bald nicht mehr wegzudenken. Ja, was einen Haushalt anging, so konnte man sich niemanden vorstellen, der da vorbildlicher sein konnte. Völlig unbegreiflich, fand Lenchen. Hatte Lotte das eigentlich so gewollt? Oder war sie einfach nie auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, was sie eigentlich wollte, sondern hatte alles so genommen, wie es ihr geschah? Und später wurde sie auch noch Krankenschwester. Eine perfekte Hausfrau also, oder? Kein Wunder, dass sie im vorigen Jahr ihren Landvermesser Fritz heiratete. Gleichzeitig als ja auch Dore ihren lustigen Leo heiratete. Dore hatte nach der Schulzeit keine weitere Ausbildung gehabt, sondern stattdessen mal in einem Kaufhaus, mal in einem Versandgeschäft gearbeitet. Da hatte sie gelernt Pakete zu packen. Niemand war so schnell und geschickt, Pakete zu verschnüren wie Dore. Aber ebenso genoss sie, wie alle Kinder des Gymnasialdirektors, viele geistige und kulturelle Anregungen, Dore hatte kunstgewerbliche Dinge hergestellt und auch mit der Malerei angefangen, allerdings nicht so intensiv wie ihr Bruder Ernst. Ihr größtes Interesse galt Konzerten und dem Theater. Dass sie umsichtig, tüchtig und im Nu einen Haushalt führen konnte, schien ihr selbst eine selbstverständliche Nebensache zu sein. Martha, naja, die war meist etwas im Hintergrund der Familie, zurückhaltend, immer liebenswert und sehr auf Tradition bedacht. Und Therese, na, die war ja die fantasiebegabte Dichterin. Zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen zog sie gereimte Verse aus dem Ärmel, gewitzt mit familiären Eigenheiten, Stichworten und Schrullen, für viele Nichteingeweihte völlig unverständlich.
Ihre Schwestern hatten wenig Zeit gehabt, – oder es nicht unbedingt erstrebenswert gefunden? –, sich in erster Linie weiter zu bilden, obwohl keine von ihnen ungebildet war. Papas Verdienst? Stattdessen waren sie, zwar lebhaft und kreativ, aber ziemlich brav in etwa die Rollen geschlüpft, die von ihnen erwartet worden waren. Hatten Papa und Mama das angestrebt? Oder wer sonst? Und warum war das bei ihr selbst anders?
Nein, das kam für Lenchen alles nicht in Frage. In der Schule war sie hier natürlich, ähnlich wie zuvor in Osterode, eine von vielen und eine, der alles leicht fiel. Aber am Nachmittag gab es weder Vaters Kontrollblick, noch Mutters Fürsorge. Nein, jetzt streckte das ehemalige Nesthäkchen seine Erwachsenen-Nase wohin und zu wem es ihm gefiel. Lenes Neugierde war grenzenlos. Ihre meist sehr direkten Fragen wurden mit Lachen, Spott oder mit Ablehnung quittiert. Sie selbst lachte auch immer gern, sogar über sich selbst. Provozierte gern, half aber auch gern jedem, der irgendwie in Nöten war, - meistens bei Dingen, die das Lernen und die Schularbeiten betrafen. Kurz und gut: Sie probierte alles aus, was ihr über den Weg lief. Und das war nicht wenig. Sie hielt wissbegierig nach allem Ausschau, was da so gelaufen kam.
Halb ernsthaft, halb lachend versuchte sie bei jenen „Mädchengesprächen“ zuzuhören und mitzureden: sich über die neuste Mode den Kopf zu zerbrechen, die Pickel im Gesicht zu dramatisieren, die Probleme erster, aussichtsloser Liebe zu beklagen oder die Tricks ausfindig zu machen, wie man sich mit der Brennschere so wahnsinnig engelsgleiches, gelocktes Haar zulegte. Bei all dem versuchte Lene mitzuhalten, - nein, das lohnte meist doch nicht die Zeit, jedenfalls nicht so unendlich, fand sie. Viel lieber diskutierte sie mit Freunden über Politik, das war anregend. Allerdings staunte sie oft heimlich über das eng begrenzte Blickfeld, regte sich auf über die niedrige Horizontlinie, die scheinbar außerhalb Deutschlands oder gar Ostpreußens aufhörte und über die viele anscheinend nicht hinausdenken konnten. Das musste man aber doch. Hatten sie nicht alle wenigstens etwas Englisch und Französisch gelernt? Wozu sollte das gut sein, wenn einen das Land und seine Menschen nicht interessierten? Man denke nur an den eigenen Bruder, der seit Jahren in Venezuela lebte, zuerst fast im Urwald, dann in Maracaibo, das war doch ein bisschen weiter weg als das nächste ostpreußische Dörfchen! Bei solchen Debatten konnte sie sich ereifern, erhitzen und auch laut, direkt und aufbrausend werden. Gar nicht mädchenhaft, geradezu fürchterlich. Im Nachhinein schimpfte und seufzte sie dann manchmal über sich selbst, aber es war nicht zu ändern.
Dagegen konnte sie durchaus auch anders, oh ja. Sie ließ sich gern in Cafés einladen, testete ihren Charme und spielte mit bei allen Vergnügungen. Tanzen war natürlich gefragt, ja, Tanzen mochte sie unbedingt, - jedenfalls, sofern der Partner nicht gegen den Takt herumtrampelte oder ihr mit keuchendem Atem zu nahe kam. Tanzvergnügungen hatten unbedingt einen eigenen Nervenkitzel. Verwundert lächelte sie darüber, wie leicht es war der Männlichkeit den Kopf zu verdrehen, - aber wozu eigentlich? Was den jungen Herrchen so durch die Köpfe gehen mochte, was sie oft lächerlich zappelig, glutrot und komisch werden ließ, das durchschaute sie noch nicht so ganz. Und sie staunte über Oberflächliches, leicht Geplaudertes, was zwar anregend, aber wenig inhaltsreich war.
Fast immer und bei allem behielt sie ihre gute Lach-Laune, eine aus der Tiefe herausschießende Fröhlichkeit, die erstmal nichts allzu ernst nahm.
Natürlich hatte sie Träume, hatte Zukunftsvisionen weit jenseits solcher Tändeleien. Die behielt sie wohlweislich erstmal für sich, wie in einem Brutkasten, so verglich sie das. Sie wollte unbedingt etwas, - ja, was denn? Na, mindestens die Welt verbessern, als erstes die Menschen, vor allem die Kinder aus armseligen Elternhäusern. Denen musste man etwas bieten, die Augen öffnen und ihre kleinen ahnungslosen Köpfe mit spannender Bildung füllen.
Noch etwas entdeckte Lene: Es machte ihr Spaß, die Menschen um sich herum zu beobachten: ihr Aussehen, ihre Bewegungen, ihre Gesichtsausdrücke und wie sie redeten. Sie mochte es, Eigenheiten von Menschen ihrer Umgebung herauszufinden und was dahintersteckte. Ihr Äußeres und ihr Inneres. Oh ja, das Leben in Elbing war ein ungeahnter Reichtum von neuartigen Genuss-Variationen.
Und sie selbst? Sie ertappte sich dabei, auch sich selbst zu beobachten. Dazu genügte aber nicht der kleine Spiegel über dem Waschtisch der Pension. Wer war sie? Was waren ihre Stärken, ihre Schwächen? Wie wurde sie von anderen gesehen und wahrgenommen?
Ein Jahr später wurde sie schon 17. Die Fragen waren geblieben. Wie wirkte sie? Wie und wer wollte sie sein? Ihr Äußeres und ihr Inneres? Klare Zielvorstellungen waren jetzt mal angebracht, fand sie.
Allmählich entstand eine Idee: Charakteristiken ihrer eigenen Person? Das wäre doch etwas, oder nicht? Sie erbat sich Charakteristiken von Freunden und Geschwistern, Menschen, die sie ja gut genug kannten. Schriftlich sollten sie sein, ehrlich und gut überlegt. Würde das funktionieren? Es war wie eine Art Spiel, sie wollte das gar nicht so furchtbar ernst nehmen, oder doch? Na, mal sehen, je nachdem, was da so eintrudelte.
Tatsächlich erhielt sie das Gewünschte.
„Versuch einer Charakteristik über Magdalena Wüst“, so schrieb ihre damalige Zimmernachbarin Stavha. Was für ein Name. Wie sie wirklich hieß, daran konnte sich Lene gar nicht mehr erinnern.
„In den eineinhalb Jahren, die ich an der Seite meines lieben kleinen „Mannes“ verbrachte, habe ich oft Gelegenheit gehabt, ihn bis in sein Innerstes kennen zu lernen und zu durchschauen. Ich will mich daher bemühen, eine einigermaßen zutreffende Beschreibung seiner Licht-, sowie seiner Schattenseiten, der Nachwelt zu überliefern. Ich kann mich rühmen, einen recht angenehmen, edlen Menschen in meinem „Mann“ gefunden zu haben. Von Natur mit guter Begabung ausgestattet, wirkt Lena durch ihr interessantes Wesen anregend und belebend. Doch fühlt sie sich dabei nicht erhaben über ihre Mitmenschen, sondern sie ist stets bereit, andere zu unterstützen und ihrer Not zu helfen. (ich denke dabei an meine Rechenkunst). Sie hat ein sehr natürliches, frisches Auftreten, zuweilen etwas jungenhaft, aber das hindert nicht daran sie ein echtes, junges Mädchen zu nennen. Eitelkeit kennt sie nicht, doch könnte ein ganz klein wenig davon ihr nicht schaden. Für Bücher, Musik, Kunst (im engeren Sinne), Natur hat sie viel Sinn und genießt, was ihr davon geboten wird, in vollen Zügen. – Doch kann ich nicht umhin, auch ihrer großen Vorliebe auf sinnliche Genüsse zu verweisen. Daneben liebt sie sehr die Bequemlichkeit und bewahrt allem Ansturm des Lebens gegenüber eine stoische Ruhe. – Ihr Auftreten ist ein selbständiges Sicheres, das ihr gewiss im Leben einst Stütze sein wird. Sie kann sehr liebenswürdig sein, zuweilen aber auch recht schroff, und sie fährt ihre Meinung direkt ins Gesicht. – Ihr Eigensinn lässt uns beide Eisenköpfe manchmal recht hart aneinander stoßen, doch wird der Streit bald durch ihr leicht zu versöhnendes Gemüt geschlichtet. Von jungen Leuten nimmt sie gern Huldigungen entgegen. Man sagt zwar, dass sie stets kühl wäre, doch will ich gerade das Gegenteil behaupten. Gerade ihr munteres, frisches Wesen gewinnt alle Herzen für sich. - Man hat sie einst mit dem lieblichen Heideröschen verglichen und diesem Vergleich schließe ich mich gern an.
Deine Stavha“
Diese Zimmernachbarin hatte sie „kleiner Mann“ genannt, das war damals so ein Spiel zwischen ihnen gewesen, weil Lene manchmal beklagt hatte kein Junge zu sein. Dann hätte sie es nämlich leichter gehabt mit der Bildung und mit einem Beruf später sicherlich auch.
Ein weiterer Brief kam im September 1906 aus Osterode von Schwester Therese.
Liebes Lenchen,
Deine Karte erreichte mich erst hier in Osterode, daher erfülle ich Dir erst jetzt die Bitte um Deine Charakteristik.
Also, Du bist eine ziemlich interessante Persönlichkeit von ausgeprägtem Selbstgefühl und steter Betonung des eigenen Willens, eine bewegliche, geistig rege Natur, die für viele Dinge, aber nicht gerade für häusliche Tätigkeit Interesse hat. Ich denke auch dabei an Deine Antipathie gegen Bettenmachen, es entstanden oft seltsame Gebirge, doch Du schläfst oder würdest selbst auf Steinen prachtvoll schlafen.
Du besitzest ziemlich viel Widerstandskraft, welche man manchmal als Eigensinn bezeichnen könnte. Idealismus und Begeisterungsfähigkeit sind bei Dir in hohem Maße vorhanden und äußern sich meist durch fürchterlich strampelnde Bein- und Armbewegungen, rollende Augen und an Indianergeheul erinnernde Kreischtöne.
Besonders charakteristisch sind bei Dir ewige Leere im Geldbeutel, stete Bewegung der Lachmuskeln, besondere Vorliebe für leicht zu öffnende Einmachtöpfe, tadellos sitzendes Schuhwerk, Auslecken von Kuchenteigschüsseln etc.
Du kannst sehr liebenswürdig sein, aber nur, wenn Du willst .
Dein Wesen ist oft jungenhaft, Du kletterst, rauchst Zigaretten etc. Das schließt aber nicht aus, dass Du gern mit Papier- und anderen Puppen spielst, Dir gern von hübschen Primanern huldigen lässt, besonders kühl tust, obgleich Deine Gefühlstemperatur ewig im Steigen und Fallen ist, leidenschaftlich Tagebuch schreibst – item viele echt weibliche Eigenschaften besitzest.
Jedenfalls bist Du ein frisches und natürliches Wesen, dem jede Zippigkeit fremd ist. – Du liest, vielmehr verschlingst unzählige Bücher, besonders solche, in denen sie sich am Schluss kriegen.
So, mein geliebtes Schweinchen, das ist alles, was ich zu sagen weiß.
Ich bin in großer Eile, daher das Geschmiere. Mama lässt Dir sagen, das weiße Kleid würde sie Dir in den nächsten Tagen schicken. – Die Kräutersammlerin habe ich hier und Du kannst sie in den Oktoberferien mitnehmen. – Papa, Mama, Lotte, Martha, Herbertchen und ich grüßen herzlichst.
So, nun noch eine Scherzfrage:
Was ist das? Es fängt mit Po an, ist zweisilbig und man kann darauf sitzen?
Ein Witz nach Deinem Geschmack:Eine Dame erzählt einem Herrn, sie hätte gebadet, und das wäre so wunderschön gewesen und sie schloss: „Die Wellen kamen und küssten mich!“ – „Und nachher“, erwidert darauf der Herr, „gingen sie ans Ufer und brachen sich!“ –
Verschiedene andere Witze erzähle ich Dir später. Kuss!
Addio! Thelo.
(Dass ihr alle im Seminar nicht wissen sollt, was Liebe ist, macht mir nicht vor, ihr Scheinheiligen)
Typisch Therese, dachte Lenchen und musste lachen, während sie diesen Brief las. Thea, die Altkluge und Gewitzte! „Herbertchen“, das war Lottes kleiner Sohn, gerade ein Jahr alt und mit seiner Mutter zu Besuch in Osterode. Ach, die gute Therese, wie erfrischend offen und herrlich unverblümt! Naja, etwas Wahres war natürlich dran, wenngleich Lene sich jetzt doch meistens erhaben fühlte, jedenfalls aus den Puppenspielen, Baumklettereien, Kreischtönen und anderen Kindlichkeiten herausgewachsen wähnte. Naja, heimlich dachte sie manchmal mit Sehnsucht an jene unbeschwerte Zeit zurück. Das brauchte aber niemand zu wissen. Es war alles so leicht gewesen früher… Und das Zigarettenrauchen, naja, Schweigen drüber in der Öffentlichkeit. Jedenfalls hatte der Brief eine wohltuend erwärmende Wirkung. Thea hatte immer die genau treffenden Worte gewusst. Lenchen faltete den Brief zusammen und legte ihn unters Kopfkissen. Für abends im Bett nochmal, das würde sie sich gönnen.
Schwester Dore aus Spandau (mit ihrem Leo und dem fast einjährigen kleinen Jochen) kamen im September 1906 folgende Zeilen:
Liebe Lusch!
Charakteristiken schreibt man im Allgemeinen nur von bedeutenden Menschen, aber da Du es wünschst, kann ich ja auch mal Deine Tugenden und Untugenden beleuchten. Dein Wunsch allein beweist schon, wie kindlich und unverdorben Du noch bist. Dies ist der Grundzug Deines ja durchaus noch unfertigen Menschens. Harmlos vergnügt freust Du Dich über die kleinsten Dinge und nimmst dankbar hin, was Dir Leben, Natur und Mitmenschen bieten. Frech, gerade und offen wirst Du Dir schon Deinen Weg durchs Leben bahnen. Dass Du lieber ein Junge sein möchtest, zeigt, wie gut Dir Jungensmanieren liegen. Eitel bist Du nicht, ein Zug, der allerdings wohl nur meinem Vorbild zuzuschreiben ist. Deine schlechten Eigenschaften will ich nicht erwähnen, da zu erwarten ist, dass Du sie bei Deiner Einsicht bald erkennen und ablegen wirst. Zum Schluss erwähne ich nur noch Deine Treue, mit der Du an den Gespielen Deiner Kindheit hängst!
Eigentlich könnte ich Seiten über Dich schreiben, obgleich Leo sagt, Du wärst unbeschreiblich, aber wir fangen schon an umzuziehen, deshalb habe ich keine Zeit. –
Amüsiere Dich schön in den Herbstferien und komme bald mal wieder nach Spandau. Jochen spricht jetzt schon sehr viel und lässt dich sehr grüßen desgleichen Leo und ganz besonders sei gegrüßt von Deiner Dosch
Außerdem lief noch ein Brief von Max Horn ein, das war der Freund und anhängliche Verehrer, den sie vor etwa zwei Jahren in Berlin getroffen hatte und der jetzt gerade auch in Elbing war. Ein lieber Kerl. Immer umständlich. Immer bemüht, dem Kern der Dinge akribisch auf den Grund zu gehen, dabei oft sich zerfasernd im Hin und Her, Entweder - Oder. Was der wohl zu sagen hatte? Hoffentlich nicht nur Süßholz.
Elbing, den 15. September 1906
Ich habe vor, über ein 17jähriges junges Mädchen, das meine Freundin ist, eine Charakteristik zu schreiben. Wird sie objektiv ausfallen? Kann überhaupt eine Charakteristik sich gänzlich frei machen von dem Beobachter? Zumal wenn beide ein Freundschaftsband umschlingt? Ich könnte mich in diesem Falle vergleichen mit einem Richter, welcher ein Urteil zu fällen hätte über eine ihm befreundete Person. Er müsste sich wegen Befangenheit ablehnen, da eben sein Urteilsspruch nicht objektiv, unparteiisch ausfallen würde. So sollte ich es eigentlich auch tun. Ein anderer Grund, aus dem diese Charakterbeschreibung keinen Anspruch auf Vollkommenheit machen darf, ist der, dass mir Zeit wie Gelegenheit gemangelt hat, um eingefasste Beobachtungen über dieses Wesen in den verschiedensten Lebenslagen machen zu können. Aber doch glaube ich, einzelne Eigenschaften und Züge dieses eigenartigen „aparten“ Geschöpfes richtig erkannt zu haben, so dass sein Bild für mich schon unverrückbar feststeht und so sollt ihr es mit meinen Augen schauen.
Ein menschliches Wesen ist es, das in Frage steht. Es hat also seine Licht- und Schattenseiten, seine Vorzüge und Fehler. Welche von diesen überwiegen, sollte man wohl erst zum Schluss sagen, wenn man die einzelnen Eigenschaften näher beleuchtet hat, oder am besten, man sollte es dem Leser überlassen, aus den angegebenen durch objektives Schauen gewonnenen Zügen, sich das Wesen selbst vorzustellen und auszumalen. Dieses Bild würde dann ja nach dem subjektiven Empfinden des Betreffenden mehr im Lichte oder im Schatten zu stehen kommen.
Meine Antwort auf diese Frage habe ich bereits im ersten Satze vorweggenommen, da ich dieses junge Mädchen meine Freundin nannte und damit ihre Hauptzüge als die mir sympathischen kennzeichnete. Und das sind vor allem das Natürliche und Urwüchsige; das Frische und Gesunde, das Offene und Wahre ihres Wesens, das seinen Ausdruck findet in einer wahrhaft gesunden, von keiner angekränkelten Lebensanschauung, in ruhig genießender Lebens- und Schaffensfreudigkeit und zuversichtlichem Lebensmut, kurz, mens sana in corpore sano, ein gesunder Geist, bedingt durch einen ebenso gesunden Körper: Sie wird sich das höchste Lebensgut, die Freude am Leben, niemals verkümmern lassen, mag ihr das Schicksal das höchste Los, den edelsten, verantwortungsvollsten Beruf der Frau, den ruhigen Kindern einer lieben Häuslichkeit bescheren oder aber einen Platz anweisen mitten im Getriebe der Welt, wo sie aus eigener Kraft sich eine Lebenserfüllung erringen und in den Stürmen des Lebens behaupten muss. Stets wird sie mit ihrem Los zufrieden sein, wahres Lebensglück zu finden. Wie ganz anders steht es um so viele andere Mädchen, denen man es sofort anmerkt, dass sie ihr Glück nur an der Seite eines liebenden Mannes als das einzig mögliche zu sehen vermögen, und die sich dann elend und unglücklich fühlen werden, wenn ihnen das Schicksal ein solches Los versagt. Schon jetzt in steter Sorge und Furcht um die Zukunft leben sie oft in trüben schwermütigen Gedanken, die sie Tag und Nacht verfolgen, und die nur dann sich aufklären und in tollen Übermut ausarten können, wenn nach ihrer Meinung ein Lichtblick in Gestalt einer derartigen oft ach so trügerischen Hoffnung ihren vermeintlich trüben Lebenspfad erhellt. Geht ihr Wunsch nicht in Erfüllung, dann sind sie die unglücklichen Geschöpfe unserer Zeit, bedauernswerte Opfer der heutigen Gesellschaftsordnung.
Das Wesen, von dem ich schreibe, hat ein besseres Los erwählt. Um ihre Zukunft ist mir nicht bange, sie wird in allen Lebenslagen ein glückliches Menschenkind sein können. Das erfordert aber Energie, Selbständigkeit und etwas Selbstbewusstsein, denn eine allzu anschmiegende, unselbständige Natur wird dazu nie imstande sein. Und auch diese Eigenschaften finden wir hier vertreten, vielleicht sind sie sogar etwas zu stark ausgeprägt. Denn öfters tritt ihr Selbstbewusstsein allzu lebhaft zutage, und rechthaberischer Eigensinn wirft dann und wann einen Schatten auf ihr Bild. Sie setzt sich oft brüsk, vielleicht ein wenig unbescheiden hinweg über Meinungen und Urteile selbst erfahrener Leute und kann dadurch wohl manchen verletzen. Und noch etwas anderes findet bei ihr nicht die nach Meinung der Leute gebührende Beachtung, was allerdings mehr der Natürlichkeit ihres Wesens entspringen mag: Allzu kleinliche Beobachtung althergebrachter Normen und Manieren, die dem Weibe wohl anstehen sollen, ist ihr nicht eigen. Ängstlich, scharf urteilende Gemüter nennen das wohl ein Verleugnen der Weiblichkeit, einen männlichen, jungenhaften Zug ihres Wesens. Ich wäre sehr geneigt, es burschikos zu nennen, dass sie z.B. mädchenhafte Schüchternheit nicht kennt, dass sie keinen Wert legt auf strenge Ordnungsliebe, dass sie gern noch in wildem Lauf kindlichem Spiel sich hingibt und dabei nicht allzu hoch bewertet die äußere Erscheinung. Damit hängt nun freilich zusammen, dass Eitelkeit und Gefallsucht ihr fern liegen.
Wer will aber leugnen, dass ein solches Wesen angenehmer berührt als ein verzogenes, verwöhntes, putz- und gefallsüchtiges, empfindliches Modepüppchen, das mit einem jungen Menschenkinde auch nicht das Mindeste mehr gemein hat?
Ich kann vielmehr sagen, dass trotz dieser oft rauhen Schale ein weicher, echt weiblicher Kern in ihr verborgen ist, dass ihr innerstes Wesen edle Weiblichkeit verrät und dem, der es näher kennen lernen will, ein tiefes Gemüt erschließt.
Das sind die Charakteranlagen, die sich, je nachdem ihr künftiges Leben sich gestalten wird, mehr nach der einen oder der anderen Seite hin ausbilden und verkörpern werden. – Wird es ihr beschieden sein, Gattin und Mutter zu sein, dann wird dieser schöne innere Kern ihres Wesens zu voller Entfaltung gelangen, und an der Seite eines Mannes, der ihr Wesen vollständig erfasst, versteht und zu leiten weiß, können auch ihre Schwächen sich mildern und das Ganze ein schön harmonisches Gebilde werden, sich selbst und ihrer Umgebung ein Quell dauernden Glückes. Im anderen Falle aber, wenn das Schicksal sie hineinzieht in den Strudel des Lebens, wo sie angewiesen auf sich und ihre eigenen Kraft den Kampf aufnehmen muss, der größere Anforderungen an ihre Energie stellt, dann wird die äußere Schale härter und rauher werden, der schöne Sinn wird immer schwerer für die Außenwelt zu finden sein. Nur wird sie selbst in einsamen Stunden hinabsteigen in die innersten Tiefen ihres Herzens wie in einen tiefen Brunnen, und der dort verwahrte Schatz wird sie wie die kühle Flut des Brunnens erfrischen und beleben zu weiterem mutigem Fortschreiten auf der Bahn des Lebens in Zufriedenheit und Glück. –
Möge sie sich diesen kostbaren Schatz stets bewahren!!
Für Fräulein Magdalena Wüst
von Max Horn
Du liebe Güte, sie hatte es ja gewusst: Umständlich! Der gute Max, soviel Mühe hatte er sich gemacht. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie lange er zu diesen Überlegungen, zu diesem rührend detaillierten Brief gebraucht hatte.
Dass Männer sich am ehesten alle Frauen als gute Mütter mit Kindern und als Hausfrauen wünschten, war ja nichts Neues, aber bei Max überraschte es sie doch etwas. War das seine Verliebtheit? Na klar, verliebt war er sicher, das war ja nicht zu übersehen seit dem Spaziergang neulich durch die Wiesen, als er plötzlich hier in Elbing aufgetaucht war. Immerhin gestand er ihr auch eine andere Zukunft ein, natürlich nicht ohne Warnung, oder wie sollte sie das deuten? Zumindest hatte Max ein Inneres und Äußeres an ihr entdeckt.
Zuerst war sie erschrocken über die Ernsthaftigkeit, die Länge des Schreibens. Aber dann musste sie doch lachen: Er traute ihr also einiges zu, sieh an, wenigstens das. Na, sie würde mal abwarten. Und vielleicht das eine oder andere aus den Briefen im Kopf behalten. Und wenn auch nur für spätere Vergleiche? Was von den Vermutungen würde eintreffen? Was nicht? Was würde das Leben ihr zu knacken geben, was an Herausforderungen und Schwierigkeiten ihr abverlangen?
Und – ja, - war sie nun eigentlich klüger nach diesen erbetenen Charakteristiken, die sie jetzt auf dem Tisch liegen hatte? War sie so, wie die anderen sie sahen? Oder doch anders? Ganz oder teilweise anders vielleicht in irgendeinem geheimen Winkel ihres Ichs?
Tröstlich war jedenfalls der Gedanke, dass sie sich jederzeit ändern konnte. Je nachdem, was so passierte, wem sie begegnete, was sie entdeckte. Oder nicht? Sie war doch immer in ihre Zeit gebunden. Und vermutlich an Orte, Möglichkeiten und Umstände, die sich ergaben.
Ach, du liebe Zeit, nein, sie lachte doch lieber über das ganze Geschreibsel. Fast gegen ihren Willen nahm sie die Blätter allesamt, stopfte sie in einen Umschlag und versteckte sie zuunterst in der Wäschekommode.