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Aufbruch im Sturmschritt

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Hinter ihr das leise Knarren der Zimmertür. „Sitzt du hier im Dunkeln?“

Lene fuhr auf. Es war doch hell. Sie wies aus dem Fenster und lächelte dem Bruder verschmitzt zu. „Im Abendlicht. Wie es meinem Alter entspricht.“

Ernst zog die buschigen Brauen hoch. „Deinem-Was? Na, wenn du noch Sonne siehst, bin ich sicher längst im Dämmern verschwunden?“

Das bekannte Lächeln, die alte Ironie. Sie wusste, wie er’s meinte. „Also nicht wir zusammen?“ fragte sie mit gespielter Empörung, „Die läppischen 18 Jahre Unterschied sind doch nichts, oder?“

Er faltete seine langen Gliedmaßen in seinem Sessel zusammen, sie ließ sich gegenüber am Schachtischchen in ihren plumpsen. Sie sahen sich an, mussten beide lachen. Lachen half aus allen Gedankenschluchten. Und lag immer dicht unter der Oberfläche ihrer erprobten Zweisamkeit.

„So lange wie wir‘s aushalten“, knurrte er.

„Ach, Enn, wenn ich dich nicht hätte.“ Sie würden es aushalten, das wussten sie, und sie liebten diese altvertraute und inzwischen eingespielte neue Gemeinsamkeit. Das gleiche Holz, dachte Lene. Das gleiche, beständige Ostpreußen-Holz. Und die gleiche Erziehung zu Rücksicht, Selbstdisziplin, Verantwortungsbewusstsein und Loyalität. Ohne das hätten sie die schlimmen Jahre wohl nicht durchgestanden. Immerhin: sie waren übriggeblieben. Sie hatten viel erlebt. An verschiedenen Ecken der Erde. Auch Enn hatte diesen wechselnden Blickwinkel aus der Nähe oder Weite, dazu – oder deswegen - eine gehörige Portion Menschenkenntnis. Und er hatte wohl eine Art innere Ruhe gefunden zwischen seinen Lieben, den lebenden und gestorbenen.

Und ebenso, wieder in der Nähe, waren die gute Lotte und Martha und – mehr nicht. Denn Dore war seit Jahren nicht mehr da und die gute Therese in diesem Frühjahr 1953 auch gestorben. Jedenfalls zwei Schwestern, dazu sie selbst und Enn waren übriggeblieben und hatten wieder zueinander gefunden. Die Familien-Runde von früher war es nicht mehr, stattdessen verändert jetzt die mit den Kindern und sogar Enkeln. Und immerhin wachte auch über diese neue Familien-Runde der Wüst-Vater in Öl, von Enn gemalt natürlich, wachte mit strengem Blick von der Wand überm Kanapee. Hier war die Familie wieder beieinander und hielt eisern zusammen. Je größer der räumliche Abstand zueinander und je schlimmer und schwieriger die Zeiten, desto fester der Zusammenhalt hinterher. Das hatten sie erlebt.

„Und du bist doch der Mittelpunkt von uns allen“, sagte Enn lächelnd, so, als hätte er ihre

Gedanken verfolgt.

„Meinst du?“ Sie überlegte einen Moment, schüttelte dann leicht den Kopf. „Wir beide, Enn, wir beide. Vielleicht, weil wir gleich zwei sind von der alten Familie? Und weil wir als Duo so verschieden sind.“

Das Abendlicht verblasste, schob spielerische letzte Strahlen durchs Laubgeäst der alten Parkbäume. Schon fast menschenleer und stiller geworden lag das matte Grün der kleinen Wiese daunter. Vereinzelte Gestalten eilten noch darüber hin.

Lene erhob sich und wandte sich wieder ihrem Schreibtisch zu. Sie knipste die Lampe an. Schon hatte sie den Stift in der Hand, blickte auf das Papier vor sich. Vorhin hatte sie geblättert, etwas notiert. Erinnerungen? Gedanken-Übungen wie eifriges Lernen früher, ach ja. Mehr noch und immer wieder Gedankenwanderungen zu den Geschwistern, - früher und heute. Das war jene Girlande um ihr eigenes Lebens-Puzzle. Fixpunkte zum Festhalten.

Sie selbst, Lene, hatte viele Menschen kommen und wieder gehen sehen oder verabschieden müssen. Letztere hatten die Furchen gegraben und vertieft, die Lene morgens in ihrem Spiegelgesicht sah. Falten, aber auch Energie sprangen ihr da jeden Morgen entgegen. Jawohl, Energie, die noch nicht ausgedient hatte. Nein, jetzt erst recht nicht. Die Zeiten der Anpassung waren vorbei. Die hatte sie nicht mehr nötig. Manchmal blickte sie ihr Spiegelbild an wie eine Herausforderung: Hatte sie sich früher wirklich so oft untergeordnet? Natürlich, wenn es nötig war, so wie die strenge Erziehung es selbstverständlich machte. Unterordnung mit oft zusammengebissenen Zähnen. Und die dickköpfige Energie immer in der Hinterhand, die Suche nach Schleichwegen zur Auflehnung. Nicht gegen Menschen, sondern immer gegen geltende Regeln und Maßstäbe. Inzwischen war sie wohl viel älter, aber vielleicht nicht viel anders geworden. Früher hatte sogar ihr Vater eines Tages eingesehen, dass seine Jüngste ihren eigenen Weg ging. Nach seinen wiederholten Bitten, Ratschlägen und altersschlauen Vorträgen hatte er ihren Wünschen zugestimmt.

Vielleicht war er selbst ähnlich energisch gewesen? Das hatte sie sowieso immer heimlich gehofft. Aber Vater war ein Mann. Und diese Tatsache hatte immense, nicht zu unterschätzende Unterschiede geschaffen. Und damit Vorteile, die ihm vieles leichter gemacht hatten. Allerdings war von Anfang an mehr von ihm erwartet worden als von ihr, so viel war klar. Vielleicht war das doch nicht so leicht gewesen? Ihr eigener Vorteil dagegen war wahrscheinlich der des von allen geliebten Nesthäkchens.

Ihr fielen die drei ineinander verschlungenen Ebenen der legendären baltischen Armreifen ein. Die drei Dimensionen des Lebens sollten sie verdeutlichen: die eigene Lebenslinie, die Einbindung in die Gesellschaft, Staat und Ordnung, und drittens das göttliche Schicksal. Diese drei Dimensionen seien in jedem Leben untrennbar ineinander verschlungen, so hieß es. Der Gedanke hatte Lene immer fasziniert.

Auch damals in Elbing hatte sie bereits darüber nachgedacht. Ihr Nesthäkchen-Dasein war so eine schicksalhafte Gegebenheit, ebenso wie ihr Frauendasein. Vater als Mann, Mutter als Frau, das war Schicksal, die Erwartungen daran eher sozial bedingt. Die Familie, sowie die gerade lebende Gesellschaft mit ihren Gesetzen und Regeln konnte sie auch nicht abstreifen. Nur die eigene Lebenslinie, die war damals in Elbing gerade dabei sich als dünner Anfang hinein zu fädeln.

Sie liebte es, mit dieser Idee der baltischen Armreifen herumzuspielen, ihn zu drehen und die einzelnen Ebenen aus der verschlungenen Einheit heraus zu fingern….

Sobald sie ihre Lehrzeit in Elbing abgeschlossen hatte, nahm Lene eine Stelle auf einem Rittergut in Westpreußen in der Nähe von Streckentin an. Die Gelegenheit hatte verlockend geklungen, und sie hatte keine Lust gehabt, lange zu warten. Sie unterrichtete dort ein zehnjähriges Mädchen in der sechsten Klasse. Von Oktober 1908 ein Jahr lang. Und sie war nicht nur als Lehrerin angestellt, sondern auch als „Erzieherin“. Das bedeutete, dass sie auch die Freizeit ihrer Schülerin teilte. Zu den Vergnügungen zählten Tennisspielen, Schwimmen, ausgedehnte Spaziergänge und gemeinsame Ausflüge. So bekam Lene einen Einblick in das nach außen hin sorglose Leben der vornehmen Gesellschaft. Wie es um die Arbeit des Rittergutsbesitzers stand, wusste sie natürlich nicht näher. In dieser Zeit wurde sie jedenfalls selbst fast vornehm und richtig erwachsen, so empfand sie es damals. Zwar hatte sie rund um die Uhr gut zu tun mit ihren ersten Unterrichts- und Erziehungsversuchen, aber nebenbei war oft Gelegenheit, sich auch mit eigenen Beschäftigungen zu vergnügen. Sie las, schrieb Briefe und hatte Zeit, für ihre Zukunft Pläne zu schmieden. Über diese immer mehr gefestigten Zukunfts-Pläne schrieb sie den Eltern. Und erhielt Antworten, die von vielen mitfühlenden Gedanken, aber auch Sorgen zeugten.

Zu ihrem 20. Geburtstag am 29. April 1909 erhielt Lene von den Eltern einen Brief aus Osterode. Zuerst schrieb Vater in seiner energisch ausgeschriebenen Schul-Schrift.

Mein liebes Lenchen!

Dein lustiges Lachen tönt mir noch in den Ohren, und wenn ich Dir zu Deinem Geburtstage etwas wünschen soll, so ist mein herzlicher Wunsch der, dass Du im neuen Lebensjahr oft in der Gemütsstimmung sein möchtest, die Dich zu fröhlichem Lachen anregt. Dann wirst Du auch Trauriges, das etwa kommt, überwinden und wegstecken. Daraus will ich der Oberflächlichkeit nicht das Wort reden, aber zu der neigst Du ja ohnehin nicht. Hoffentlich leben wir in Göttingen oder in Breslau bald wieder ganz zusammen und studieren fleißig Genaueres zum Examen, - der Oberlehrerinnen-Prüfung? Noch besser freilich wäre es, wenn Du Dich verlieben und verloben wolltest, und Du bist ja nachgerade in den Jahren, in denen man auch das einem jungen Mädchen zum Geburtstag wünschen kann, was ich hiermit getan haben will. Lateinische Arbeiten zu korrigieren ist mir eine Freude, wenn sie von Dir kommen. Also schicke nur immer Deine Übersetzungen her. Alles andere Schreiben macht Mama und die Sprachen, und so bleibt mir nur noch übrig, Dich herzlich zu grüßen. In Liebe und Treue Dein Vater E.L.W.

Göttingen oder Breslau, diese Wohnorte überlegte Papa vermutlich für die Zeit nach seiner Pensionierung. Mama hatte sein Geschriebenes ergänzt, - darunter, darüber und daneben und an den Rändern, wo eben noch Platz war -, in ihrer feinen, gleichmäßigen Schrift:

Mein liebes Lenchen! Viel Gutes und Liebes wünsche auch ich Dir zum Geburtstage, den Du hoffentlich recht vergnügt verbringst. Papa und ich schenken Dir die gewünschten

Tennisschuhe, die quittierte Schneiderrechnung und die Süßigkeiten, der Kuchen ist leider gar nichts geworden, iss nur nicht alles auf einmal auf. Einen Teil Sommersachen schicke ich mit, der Rest kommt nach der Wäsche, die nächste Woche ist. Anbei nur ein Blusenübertuch, ich bekam aus Versehen falschen Stoff und muss alles erst waschen. Die Auslagen verrechnen wir in den großen Ferien. – Papa hat sich seinen falschen Zahn ausgebrochen und kann nun vorläufig nicht singen. Gestern Nachmittag waren Schachers hier und blieben, weil ein starkes Gewitter kam, zum Abendbrot. Um acht kam noch der Bürgermeister, es war sehr nett. Neues gibt es kaum, in voriger Woche ist Frau C. gestorben und heute kam die Todesanzeige von Frau D. Für heute lebe wohl. Mit herzlichem Gruß für Dich und einer Empfehlung an die anderen Herrschaften Deine M.(utter) M. Wüst

Wenn wir etwas besorgen sollen schreibe nur. Morgen schicke ich dann Schuhe etc.

Die anderen Sachen bekommst Du gelegentlich, ich schicke ja öfter.

Heute fehlt Oberlehrer Schmidt wieder, an Pfingsten hat er Urlaub genommen.

Von dem neuen Kleid sind noch eine Menge Flicken übrig.

Die Jungen wollten das neue Boot (ein Boot im schuleigenen Ruderhaus am See) „Ernst Leberecht Wüst“ nennen. Papa geht aber nicht darauf ein.

Sorgen der lieben Eltern, natürlich, Lene hatte kaum anderes erwartet. Denn das Nesthäkchen hatte ja immer noch seine Extrawünsche. Aber ihre Pläne, ja, die hatte sie natürlich inzwischen richtig entwickelt. Nichts Geringeres als das Abitur sollte es sein. Das hatte sie sich in den Kopf gesetzt. Und was sich dort einmal eingenistet hatte, blieb unweigerlich da sitzen. Basta. Armer Vater, mit seiner jüngsten Tochter hatte er es wahrlich nicht leicht. Wissensdurst in allen Ehren, aber als Mädchen musste man das seiner Meinung nach ja nicht übertreiben. Lenchen war doch jetzt fertige Erzieherin. Wozu denn noch mehr? Überkluge Mädchen waren als Haus- und Ehefrauen weniger beliebt, so die Volksmeinung. Vater Wüst seufzte, aber er gab natürlich nach. Die Wünsche seiner Kinder nahm er ernst. Wenngleich dieser Wunsch bedeutete, dass das liebe Lenchen, inzwischen mit 20 Jahren auch nicht mehr die Jüngste, noch immer kein eigenes Geld verdienen wollte. Er selbst kam auch allmählich in die Jahre. Seine Gesundheit war schon lange nicht mehr die beste. Diese Sorgen konnte Lene durchaus verstehen. Die Idee mit dem Abitur wollte Vater noch immer nicht recht schmecken. Das machte ein weiterer Brief der Eltern vom Juni 1909 deutlich. Wieder schrieb zuerst Vater, dann Mutter, wo noch Platz an Rändern, Kopf- und Seitenenden war.

Mein liebes Lenchen!

Ich habe mich über Deine Entschließung, das Abitur nachzuholen und zu studieren doch sehr gewundert. Das Entgegenkommen, das der Minister durch seine letzte Verfügung den Lehrerinnen beweist, lehnst Du ab. (Statt eines Examens wählst Du lieber garni, also Erzieherin im Privathaushalt). Statt einer Verbeamtung von fünf Jahren sprichst Du Dich für solche von sieben Jahren aus. Auch werden die Prüfungskommissionen auf solche Lehrerinnen, die das Abiturientenexamen gemacht haben, nicht die geringste Rücksicht nehmen, sondern sie behandeln wie die Kandidaten, die heut zu Tage mindestens acht Semester studieren, während man die Lehrerinnen, die für höhere Mädchenschulen geprüft sind und dann der letzten Verfügung entsprechend die Oberlehrerinnenprüfung ablegen wollen, mit einiger Nachsicht zu behandeln gar nicht abgeneigt sein dürfte. Vor allem glaube ich, dass Du Dir die Vorbereitung auf das Abitur-Examen zu leicht vorstellst. Dass Dich die Aussicht so vielen Kram in Mathematik, Chemie und Physik u.s.w. wieder in den Kopf „einzupremsen“ Dich nicht zurückschreckt!! Aber alles das, was ich eben ausgesprochen habe, soll Dich nur veranlassen, noch einmal alles zu überlegen. Falls Du wirklich von dem Wunsch beseelt bleibst erst noch das Abiturexamen zu machen, so werde ich Dir, soweit ich es vermag, zur Erreichung des Zieles behilflich sein: in Deines Vaters Hause wird stets eine Wohnung und Essen und Trinken, wo wir auch weilen, bestehen, nur dass ich den Abschluss Deiner Studien noch erleben sollte, ist ja sowieso nicht anzunehmen, später wohnst Du dann mit Mama zusammen. Dass Du zum 1. Oktober Streckentin verlässt, scheint mir, wenn Du die Oberlehrerinnenprüfung ablegen willst, ob so oder so, unerlässlich, und Herr und Frau Guhse werden ja ein Einsehen haben und Dir eine Kündigung Deiner Stelle nicht übelnehmen. Das ganze Mädchenschulwesen und alles, was drum und dran hängt, ist immer noch in der Entwicklung und man ist vor Überraschungen keinen Augenblick sicher. Ob schließlich die Mühe und Arbeit, die Du aufzuwenden gedenkst, im Verhältnis stehen wird zum pekuniären Erfolge, wer will es heute sagen. Ob ein dreijähriges Studium auf einer Malerakademie und das Examen für Zeichenlehrerinnen nicht den gleichen Erfolg bringen sollte, wobei freilich Begabung und Neigung eine Hauptrolle spielen, wer kann’s wissen. – Rieke Fuhrmann ist z.Z. so geschwächt, dass sie ihr Studium in Bonn abgebrochen hat und in Olivar weilt zur Erholung. Sie wird sich freilich in Crefeld bei der Pflege der Mutter erheblich angestrengt haben. Sonst nichts Neues von Paris.

Mit herzl. Gruß

Dein getreuer Vater E.L.W.

Ja, noch eins, liebes Lenchen! Deine beiden letzten Briefe haben uns eine große Freude gemacht. Wie schön, dass Du alles so mit Verständnis und Liebe zur Natur und zu den Menschen genießest. Die Tage in Stettin scheinen ja herrlich gewesen zu sein.

Mama schrieb dazu:

Mein liebes Lenchen! Deine Stelle in Streckentin musst Du unter allen Umständen zum 1. Oktober kündigen, ob Du nun so oder so das Examen machst. In den großen Ferien besprechen wir dann in Ruhe und nach allen Seiten hin die Sache. Dass ich alles tun will Dir Deine Wünsche zu erfüllen weißt Du, und selbst, wenn uns Papa, was Gott verhüten möge, früher verlassen sollte, als wir glauben, wird es mir immer möglich sein, die Kosten für Dein Studium zu bestreiten.

Das Baumkuchenrezept lege ich bei, so wie ich es Frau J. abgesehen habe, sie wollte es mir geben.

Gestern habe ich Zeug zu einer weißen Bluse gekauft, was sagst Du dazu? Mit herzlichen Grüßen, auch an Frau Steinert Deine tr. Mutter M. Wüst

Unser Garten ist ein Blütenmeer!

Lene lächelte liebevoll über solche Briefe, aber sie war jetzt alt genug, um die nachdenklichen Äußerungen zu verstehen. Die Eltern waren nicht mehr die Jüngsten, Papa bereits 65 Jahre alt, Mama 58. Im nächsten Jahr würde Papa wohl in den Ruhestand gehen. Die Hauptsorge der beiden angesichts ihres Alters war natürlich, ihre Kinder, auch die Jüngste, in gesicherten Verhältnissen zu wissen. Hauptsächlich aber sprachen die Briefe von uneingeschränkter Liebe gegenüber ihrer jüngsten, oft wohl verwöhnt anmutenden Tochter. Zugegeben, manchmal kam sie sich selbst immer noch wie das verhätschelte Nachkömmlings-Töchterchen vor, das seit jeher daran gewöhnt war, immer als etwas Besonderes zu gelten. Zumindest in der Familie. Und sonst auch? Ihre eigenen Ansprüche waren nicht gerade bescheiden, das sah sie ein. Aber konnte sie etwas für ihren ererbten, energischen Dickkopf?

Sie kündigte zum Oktober 1909.

Sie hat in dieser Zeit ihre Schülerin in der sechsten Klasse zu unserer vollen Zufriedenheit unterrichtet und hat es verstanden sich durch ein bescheidenes und entgegenkommendes Wesen die Zuneigung ihrer Hausgenossen zu erwerben. Wir sehen sie ungern scheiden und wünschen ihr für ihre Pläne das Beste“, so hieß es in Lenes Abschiedsbescheinigung.

Mutter freute sich, dass ihre Jüngste wieder nach Osterode ins alte Zuhause kam. Zwar nicht in ihre Küche, nicht um hier Haushaltung zu lernen, sondern an den Schreibtisch, um sich wiederum in die Bücher zu stürzen. Genauer gesagt: in die lateinischen, denn da wurde ein gewisses Pensum fürs Abitur verlangt. Wozu hatte Lene einen gelehrten Vater? Mit seiner Hilfe klappte das natürlich bestens.

Am 30. März 1910 attestierte er das offiziell:

Meine Tochter Maria Magdalena Wüst, die während ihres dreijährigen Aufenthalts auf dem Lehrerinnen-Seminar zu Elbing an dem dort erteilten wahlfreien lateinischen Unterricht regelmäßig teilgenommen hat, ist während der Ferien und im letzten Halbjahre täglich in einer Stunde im Lateinischen von mir unterrichtet worden. Sie hat die lateinische Schulgrammatik von H. J. Müller durchgearbeitet und eine große Anzahl von Stücken aus Ostermanns Übungsbuch (Tertia und Untersekunda der Realgymnasien) aus dem Deutschen ins Lateinische schriftlich oder mündlich übersetzt. Von lateinischen Schriftstellern hat sie gelesen 1. Cornelius Nepos, 2. Caesar, 3. Ovid, 4. Livero pro imperis Cn. Pompei, 5. Livius, Abschnitte aus dem 21. Buche, 6. Vergil, Abschnitte aus dem 2. Buche.

Gymnasialdirektor Dr. Wüst,

Geh. Reg. Rat.

Lieber Vater, er war wirklich unentbehrlich. Und Mutter füllte den Bauch mit gutem Essen, sorgte für Einkäufe, Sauberkeit, Gemütlichkeit und Wohlbehagen. Bessere Eltern konnte es nicht geben.

Das Städtische Realgymnasium zu Königsberg Preußen wartete auf sie. Und Lenchen, - nein, die kluge, große Magdalena -, verlor keine Zeit. Königsberg war das Größte, wusste sie. Und dorthin ging ihr Weg jetzt. Wieder packte sie ihre Siebensachen.

Während ihrer Königsberger Zeit wurde der gute Papa in Osterode in den Ruhestand versetzt. Bereits im Oktober 1910 wurde er aus dem Amt entlassen, und im Mai 1911 dann mit allen Ehren, großartigen Danksagungen, Reden, Geschenken, Fackelzug der Oberstufenschüler, mit Tränen des Kollegiums und unvergesslichen Erinnerungsgeschenken offiziell pensioniert. Die Eltern zogen nach Jena.

Lene aber war zunächst in Königsberg und lernte und lernte, dass ihr der Kopf rauchte. Abwechselnd saß sie am Schreibtisch über den Büchern, dann wieder lief sie im Sturmschritt draußen durch Straßen und Parks, den Kopf gesenkt, und rekapitulierte und festigte das Gelesene vor sich hin murmelnd im Kopf.

Sie brauchte nicht lange, verschwendete keine unnötige Zeit mit irgendwelchen anderen Dingen. Bereits nach zwei Monaten war es geschafft und das Abitur bestanden.

Sie wurde „durch Privatunterricht vorbereitet und durch Verfügung des Königlichen Provinzial-Schulkollegiums zu Königsberg Preußen vom 28. Dezember 1910 dem hiesigen Städtischen Realgymnasium zur Reifeprüfung überwiesen“. So hieß es im dreiseitigen, ausführlichen „Zeugnis der Reife“ vom 21. Februar 1911. In Deutsch bestand sie mit „gut“: „In der mündlichen Prüfung wusste sie über Lessing als Reformator des Dramas, über Schiller und die Schicksalsdramatiker, über König Ödipus und Grillparzers „Sappho“ genügende Auskunft zu geben. Dagegen war der Prüfungsaufsatz nach Form und Inhalt durchaus gut zu nennen, sodass das Gesamtprädikat gut sein kann.“

In allen übrigen Fächern bekam sie ein „genügend“, nämlich in

Religionslehre: Mit befriedigendem Verständnis für das Wesen des evangelischen Schriftentums verband sie ausreichende Kenntnisse in der Kirchengeschichte und Bibelkunde.

Latein: Die Prüfungsarbeit war genügend. Die in der mündlichen Prüfung aus Cicero de imperio Cn . Pompei vorgelegte Stelle vermochte sie mit hinreichender Sicherheit zu übersetzen und zu erklären.

Französisch: Die schriftliche und mündliche Prüfung zeigten, dass sie hinreichende Sicherheit im Gebrauche der französischen Sprache besitzt. Auch mit einigen Hauptwerken der Literatur ist sie vertraut.

Englisch: die ihr vorgelegte Stelle aus Macanlay: „Hallam’s constitutional History“ übersetzte sie mit hinreichender Gewandtheit und konnte die ihr aus der Grammatik und Synoptik gestellten Fragen genügend beantworten.

Geschichte und Geographie: Die Prüfung in der Geschichte bezog sich auf die Entwicklung der deutschen Frage im 19, Jahrhundert. In der Erdkunde sind ihre Kenntnisse „nicht genügend“.

Physik: Ihre schriftliche Prüfungsarbeit war genügend.

Chemie: Ihre Kenntnis der wichtigsten chemischen Gesetze genügte.

Die unterzeichnete Prüfungs-Kommission hat ihr demnach, da sie jetzt neuere Sprachen studieren will, das Zeugnis der Reife zuerkannt.“

Das wollte sie tatsächlich: studieren. Es war nicht üblich, nein, ganz und gar nicht. Aber der Reiz war deshalb umso größer.

Die Eltern gaben sich skeptisch: Auch das noch? Dem guten Papa standen sicherlich die wenigen, verbliebenen Haare zu Berge, als er erfuhr, dass seine Jüngste dieses Ansinnen tatsächlich wahr machen wollte. Warum konnte sich das gute Kind denn nicht endlich zufriedengeben und einen netten Mann heiraten? Davon gab es doch genug Exemplare zur Auswahl, die sie umschwärmten. Warum ließ sie die liebenswürdig lächelnd links liegen?

Aber das kümmerte Lenchen nicht die Bohne. Warum hatte sie denn Abitur machen wollen und es auch im Eiltempo bestanden? Stand ihr nicht ein Studium offen? Bereits am 11. Mai hielt sie die Immatrikulation an der Universität Jena in Händen und war Studentin der Philologie und Germanistik.

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