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Das Familien-Nest

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Umgeben von Papieren und Büchern hatte Lene sich noch nie allein gefühlt. Auch jetzt in Hamburg nicht. Nein, das Leben war noch nicht vorbei, sondern voller unerledigter Aufgaben. Da lag die Tageszeitung, das neue Merian-Heft, der aufgeschlagene Artikel zu den Eigenheiten und Charakteristiken ostpreußischer Stadtanlagen, der Artikel zur Frauenbewegung, und im Hintergrund der Stapel alter Briefe. Die hatte sie sich vorhin herausgesucht. Obenauf ein vergilbter Umschlag mit der sorgfältigen, ordentlichen, aber ausgeschriebenen Lehrer-Schnellschrift ihres Vaters. Wie sich die Familie in Osterode wohlfühlte, wurde nicht nur in der Chronik, sondern auch in diesem Brief ihres Vaters deutlich. Und hier zeigte sich, - anders als in der Chronik -, eine ungemein sympathische Seite des Vaters, nämlich seine Liebe zur Familie, zu seinen Kindern.

Behutsam strich Lene mit den Fingern darüber, zog das dünne Papier aus dem Umschlag. Ihr Vaters, Ernst Leberecht Wüst, schrieb an seine Mutter Paulina Mathilda, also Lenes Großmutter. Ein Brief von 1893, mitten aus dem Leben ihres Vaters heraus. Er war damals 49, seine Mutter 83 Jahre, sie selbst, Lenchen, vier Jahre alt.

Eine wohl später notierte Bemerkung oben drüber lautete:

der letzte Brief, den ich an meine Mutter geschrieben

Osterode, den 11. Juni 1893

Meine liebe Mama!

Sonntag-Morgen. Die Kinder sind teils im Walde, teils im Garten, ich sitze bei offenen Fenstern, und wenn ich hinausblicke auf die rotblühenden jetzt schon ganz stattlichen Kastanienbäume, die grünen Hecken und dahinter auf den von Wald bekränzten See, dann

Kommt es wie Freude über einen, und man ist fast versucht zu glauben, dass das Gezwitscher der unzähligen Schwalben Glück verkündigt und heitere Zukunft. Aber es wird Dich mehr interessieren, wenn ich Dir Gegenwärtiges berichte. Lenchen ist nun schon wieder auf, freilich recht elend und schwach auf den Beinen, also dass sie zu rüstigem Schreiten sich unfähig fühlt, doch unzweifelhaft auf dem Wege der Besserung. Dorchen, im übrigen flink wie ein Wiesel, ist das alte Piepsküken, seit Ostern Schülerin der ersten (also obersten) Klasse, schließt Freundschaften und fährt, da ihre „beste“ Freundin so verständig ist ein Ponyfuhrwerk zu besitzen, fast täglich in den Wald. Fritz feilt und schlossert nach wie vor, geht zum Konfirmandenunterricht und soll zum Herbst eingesegnet werden. Die beiden großen Töchter machen sich in der Wirtschaft nützlich und denken, wenn sie dazu Zeit haben, darüber nach, wie sie als alte Jungfern ihr Leben fristen werden. Enn, der Krieger, malt augenblicklich im Walde, hat sonst ziemlich viel Dienst, wird zum 1. Juli Unteroffizier werden und thut im übrigen Schritte, um am 1. Oktober irgendwo eine Stelle zu erhalten. Und wir, die Alten? So wie ein Stoppelfeld, über das im Herbste die kalten Nordwinde fegen, sich ausbreitet, ab und zu mahnen späte Blumen und grüne Halme noch an den Sommer – also wir und unsere Stimmung. Aber der Vergleich hinkt wie alle Vergleiche. Euch aber in Danzig und Dir, liebste Mama; in Sonderheit, geht es hoffentlich gut. Mit dieser Hoffnung und den herzlichsten Grüßen von uns allen an alle, Dein dankbarer

Ernst Leberecht

Lene sah auf. Das herbstgelbe Laub der Ahornbäume im Park glänzte, noch nass vom Regenschauer, in den Strahlen der Abendsonne. Der Verkehrslärm schallte gedämpft herauf, das Bimmeln der Straßenbahn, dann wieder die eilig aufheulende Sirene eines Krankenwagens, der mit Blaulicht in die Krankenhauseinfahrt lenkte.

Die Geschwister, ja, sie lächelte in Gedanken, die waren wie eine Art Girlande, die ihr eigenes Lebensgewebe immer umschlungen hielt. Kitschig so ein Vergleich, der, wie der in Vaters Brief, natürlich auch hinkte, aber doch Wahres enthielt. Sie selbst fühlte sich mittendrin in dieser Girlande. Oder, als Jüngste, an deren Ende?

Als Vater jenen Brief schrieb und sie selbst vier Jahre alt war, da war von Dore, dem „Piepsküken“ die Rede, damals schon stolze 13 Jahre alt. Therese, 14 Jahre, wurde aus irgendwelchen Gründen ausgelassen. Sicher gab es von ihr gerade nichts Bemerkenswertes zu berichten. Vergessen hatte Papa sie bestimmt nicht. Fritz war 16 Jahre, die beiden großen Schwestern Martha und Lotte 18 und 19 Jahre alt. Ernst, der Älteste, zählte sogar bereits 22 Jahre. Schon damals malte er in jeder freien Minute, wenn er nicht gerade wie ein Weltmeister turnte, ritt oder schwamm. Ernst konnte anscheinend alles. Er hatte in Stettin eine Kaufmannslehre absolviert und war Angestellter einer Hamburger Kaufmannsfirma, hatte aber zwischendurch auch Kriegsdienste geleistet. Lotte, ebenso bewundernswert, hatte 1888, 14jährig, schon die Schule beendet, war ein Jahr lang zu Hause geblieben, hatte gerade die Geburt ihrer jüngsten Schwester miterlebt und war dann vier Jahre lang als Haushaltshilfe mit einer russischen Familie nach Bialystok gegangen. Nach dem Brief zu urteilen, war sie 1893 wieder zu Hause.

Die Geschwister waren immer groß gewesen. Fast oder dann ganz erwachsen, fand sie früher aus ihrer niedrigen Kinderperspektive heraus. Sie selbst war leider die Kleinste und leider ein Mädchen. Mädchen mussten Kleider tragen, sie durften sich weniger schmutzig machen und weniger herumtoben als Jungen. Mädchen waren kaum irgendwelche Abenteuer und spannende Erlebnisse vergönnt. Jungen dagegen konnten sich ohne große, nachwirkende Probleme gern mal ihre Hosen zerreißen, sie durften sich prügeln, schnell rennen, und sie mussten sich auch nicht ständig dieses „das schickt sich nicht“ anhören. Sie selbst hatte immer versucht dieses ganze Mädchen-Getue möglichst zu überhören und zu übergehen. Die großen Schwestern waren natürlich vorbildliche Mädchen. Sie selbst hatte aber schnell entdeckt, dass sie als Jüngste doch einige Vorteile hatte und oft versucht, diesen Bonus heraus zu kitzeln. Die Großen fanden sie „niedlich“, verwöhnten sie oft. Und beim Vater fand sie immer ein offenes Ohr für ihre Fragen, Anliegen und Extrawünsche. Als Kleinste Papas Liebling zu sein, das war nicht schwierig.

Als sie geboren wurde, war ihr Vater immerhin schon 45 Jahre alt. Einen lieberen Vater konnte sie sich gar nicht vorstellen. Und eine liebere Mutter, bei Lenchens Geburt schon 38 Jahre alt, ebenso wenig.

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