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Kinder und Kindereien
ОглавлениеWenn sie eines unwahrscheinlichen Tages einmal einen Sohn haben sollte, dann würde er so sein wie ihr Vater. So hatte Lene früher gedacht. Jungen waren wie ihre Großväter oder Väter, oder nicht? Und Mädchen wie ihre Großmütter oder Mütter? Wie naiv war sie früher gewesen, so etwas zu denken. Ihr eigener Sohn Georg war auf jeden Fall anders. Liebenswert, romantisch, humorvoll, betörend charmant oft. Eigensinnig, - aber nur tief in seinem Innern, selten nach außen hin. Unglaublich gut aussehend. Besser als sein eigener Vater? Ach nein, völlig anders war Georgs Gesichtsausdruck, vor allem weniger streng, weniger ernst, stattdessen hatte er etwas spielerisch Kreatives. Aber das konnte sie nicht ganz vergleichen: Georg war jetzt, 1952, erst 32 Jahre alt, seinen Vater hatte sie in jenem Alter nur von wenigen Fotos gekannt. Frauen hatten Georgs Vater nicht besonders herausgefordert. Er nahm sie eben hin, hatte genug andere Probleme. Und an seine eigene Mutter konnte sowieso keine herankommen. Georg dagegen konnte im Nu jeden und jede um den Finger wickeln. Besonders jede, jawohl. Nein, halt,- sie musste lächeln -, mit seiner Frau Lilo, Lenes Schwiegertochter, war es von Anfang an etwas anderes gewesen. Das musste auf jeden vom ersten Moment an ganz und gar ernst und von innen heraus gewesen sein. Da zählten die selbstverliebten, eher eitlen Liebeleien, Spielereien vorher nicht mehr. Das hatte Lene gleich gemerkt, als er ihr zuerst von Lilo erzählt hatte. Ja, auch Georg hatte ein Außen und ein Innen. Lenes Tochter Hanna übrigens ebenso. Was Georg betraf, so gehörten das Rechnen, das Verkaufen, Kaufen und Kalkulieren zu seinen Außenseiten. Zartheit, Romantik, ab und zu sein überraschend lautes Lachen, sein neugieriger, liebevoller Humor bei Kleinigkeiten, manchmal mit spöttischer Ironie, das machte seine Innenseiten aus. Hanna hatte auch oft diese Ironie im Lachen und in Worten. Dazu die Lebenskunst, alles in Ruhe anzugehen. Und Geschicklichkeit hatte sie. Vielleicht ähnlich wie ihre Großmutter Martha, also Lenes Mutter. Oder wie Hannas Onkel väterlicherseits, der Uhrmacher gewesen war.
Georg und Hanna standen mit ihren jugendlichen Beinen fest auf der Erde. Diese Erde war ja wacklig genug gewesen noch vor wenigen Jahren und jetzt vielleicht immer noch. Da waren guter Halt und Stehvermögen angebracht und wahrscheinlich eine notwendige Basis. Dazu gab es seit einigen Jahren Lilo in der Familie, die Künstlerin mit ihrer fraglos singenden Sicherheit über die Alltagsdinge hinaus und mit ihrem trotzigen Mut. Inzwischen hatte Lene Lilos Elternhaus kennen- und Lilo selbst längst schätzen gelernt. Lilo waren als Jüngste vielleicht ein paar Freiheiten mehr gelungen als ihren zwei viel älteren Schwestern? So dachte Lene, die ja als Jüngste ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Vielleicht hatte diese Position Lilo geholfen weg zu schlüpfen aus der elterlichen, liebevoll-strengen Fürsorge, hinein in ihr Künstlertum - und obendrein in die Liebe. Das beides bestimmte ihr Leben, das ein „Singen“ werden sollte und wurde, wie sie selbst einmal geäußert hatte. Ein singend romantisches Vertrauen ohne pessimistische Hindernisse der Wirklichkeit strahlte Lilo aus. Und das tat Georg nur gut.
Mit den Dreien hatte sie wirklich ein großes, mütterliches Glück. Und dazu war Hanna dann auch mit einem Verlobten angekommen, der inzwischen ihr richtiger Ehemann und fest in der Familie verankert war. Das war Gerd, der ernsthafte Junge vom Ruderclub an der Alster. Die beiden hatten sich beim Rudern und Feiern dort kennen und schätzen gelernt. Aber dieser Gerd konnte weit mehr als Rudern, auch er hatte sein kritisches Außen- und reichhaltiges Innenleben. Mit Lilo konnte Lene Gedichte lesen, ihrer Musik zuhören und für Komponisten schwärmen, mit Gerd konnte man über Kant diskutieren und über Theologie. Besonders den Theologen Thielicke schätzte er. Auch mit dänischen Philosophen hatte Gerd sich beschäftigt. “Zur Abwechslung“, wie er bescheiden äußerte.
Ein Jammer wirklich, dass ihre eigene Mutter weder Lilo, noch Gerd kennengelernt hatte. Mama nicht und Papa nicht und die väterliche Großmutter Wilhelmine, genannt Hermine, auch nicht.
Wieder liefen Lenes Gedanken in die Vergangenheit. Manchmal begegneten sich Lebende und Gestorbene in ihrem Kopf. In der Tat, da hatten sich viele Menschen versammelt. Und sie selbst war irgendwie immer mittendrin.
Georg und Hanna, wie schnell waren sie groß geworden. Schneller als sie selbst jedenfalls, oder nicht? Bei ihr selbst hatte das lange gedauert, so ihre Erinnerung. Früher, als sie selbst jung gewesen war, als sie zum ersten Mal ihre eigenen Lebensfäden entwickelt und ineinander gesponnen hatte, zum ersten Mal ihre kleine Welt entdeckt und erobert hatte…, ja, das waren scheinbar endlos lange Tage, Wochen und Jahre gewesen.
Manchmal war es ihr, als sei das noch gar nicht so lange her. Damals in Osterode…
Sie, das kleine Lenchen, besuchte also ab Ostern 1895 die städtische höhere Mädchenschule. Sie begann dort mit der siebten Klasse. Das System der Klassenreihenfolgen war damals noch anders als heutzutage. Die höhere Mädchenschule war in sieben Klassen eingeteilt. Diese durchlief jede Schülerin aber nicht in sieben, sondern in zehn Jahren. Die unterste Klasse war die Klasse 7, die höchste die Klasse 1. Die ersten zwei Schuljahre war man in der Klasse sieben, erst in der 7 B, dann in der 7 A. Lenchen wurde dann Ostern 1897 in die Klasse 6 versetzt, Ostern 1898 in die fünfte Klasse, diese dauerte drei Jahre. Ostern 1901 kam sie in die vierte Klasse, Ostern 1902 in die dritte und Ostern 1903 in die zweite Klasse. Ostern 1904 begann sie die erste und höchste Klasse.
Mit Feuereifer stürzte sie sich zu Beginn, 1895, ins Reich der Buchstaben. Ach ja, und es gab sogar noch mehr, was sie lernen sollte: Religion, Rechnen, Zeichnen, Singen und Turnen. Kein Problem, sie hatte sich das Lernen komplizierter vorgestellt. Wenn das weiter nichts war, meine Güte. Aufpassen sollte man, Ordnung halten, sich gut betragen, sich zusammennehmen. Kinder waren klein und unwichtig und hatten zu gehorchen. Das war zu Hause sowieso üblich und selbstverständlich, also nichts Neues für Lenchen. Genug Zeit zum Spielen blieb ihr jeden Tag, und das war eigentlich viel wichtiger und spannender, fand sie nach den ersten Schulwochen. Aber sie tat Vater und Mutter den Gefallen, erledigte das, was verlangt wurde, und ging ansonsten ihre eigenen Wege. Kletterte mit Freundinnen und Freunden auf Bäume, ärgerte Nachbars Kläffköter, wenn niemand in der Nähe war, stritt und lachte mit ihren Spielkameraden, schlich sich indianermäßig an, wenn die großen Schwestern ihre Albernheiten wegen der hochgelobten, heiß ersehnten Liebe stundenlang beschwatzten und belauschte irgendwelche Seufzer, schmachtendes Geflüster und erste Küsse in der überwachsenen Flieder-Laube hinten im Garten. Herrje, immer diese Liebe, die machte doch nicht klug. Wie konnte man sich bloß mit sowas beschäftigen? Es gab wahrlich Wichtigeres, fand Lene.
Zu den wichtigeren Ereignissen gehörte bald nach Lenchens Schulbeginn eines Tages die Silberhochzeit ihrer Eltern. Die fand am 11. Oktober 1895 statt, sagten Mutter und Vater. Sie mussten es ja wissen. Mama war 44 Jahre alt und Papa sogar schon 51, beide also schon steinalt, fand Lenchen.
Es wurde eine große Feier für und von und mit Mama und Papa, na klar, sie waren die Hauptpersonen, aber auch eine Feier für die Kinder. Die waren ja damals bei der Hochzeit vor 25 Jahren alle nicht dabei gewesen. Aber jetzt umso mehr. Alle waren zu Hause. Und deshalb konnte die ganze Familie aus diesem Silber-Anlass ein Fotoatelier aufsuchen. Das war selten und richtig aufregend. Man sollte stillstehen und musste versuchen ein kluges, ernstes Gesicht zu machen. Das gelang den Großen, die durften auf einem Sofa sitzen. Aber Lenchen als Kleinste sollte wirklich still stehen, das war fast unmöglich, und dazu nicht nur klug und ernst, sondern süß aussehen. Das fand sie unglaublich schwierig. War das ganze Getue nicht albern? Sie unterdrückte krampfhaft ein Lachen, das in ihrem Bauch herausdrängelte. Und in ihrem Bauch zappelte alles vor Aufregung und von der Anstrengung, denn sie wollte den Eltern natürlich den Gefallen tun und nicht alles verderben bei dem vornehmen Fotografen. Schließlich war diese Geschichte aber vorbei, etwa wie eine geglückte Theaterprobe. Sie saßen endlich alle gemütlich zu Hause, Mama und Papa guckten sich immerzu an und lächelten und dachten sicherlich an ihre Hochzeitsfeier vor 25 Jahren. Wie das damals genau gewesen war, das behielten sie aber für sich, das gehörte zu ihren „inneren“ Erlebnissen, welche die Kinder wohl nichts angingen, und in welche die sich nicht einmischen wollten. Aber neugierig waren sie natürlich. Und schließlich bekamen sie auch wenige, knappe Antworten auf ihre wissbegierigen Fragen. Man stelle sich vor, damals waren Papa und Mama junge Leute gewesen. Und Mama wurde sogar rot, als sie zugab, dass sie und Papa an jenem 11. Oktober vor 25 Jahren sehr aufgeregt gewesen waren. Aufgeregt? Nein, das stritt Papa energisch ab. Aber Mama knuffte ihn lächelnd in die Seite. „Doch, du auch“, kam es unter Lachen heraus, „Warst richtig zappelig. Kannst es ruhig zugeben, Ernst.“
Da hatten sie alle etwas zu lachen und überhörten Papas empörtes „Papperlapapp.“ Aber er lachte auch.
Sobald Lenchen einigermaßen mit Buchstaben umzugehen verstand, schloss sie sich, wie bereits erwähnt, mit Vehemenz der Familien-Tradition des Briefeschreibens an.
Aus der Schulzeit sind einige dieser Kinderbriefe erhalten. Die machten deutlich, wie sehr sie seit jeher an ihren Geschwistern hing. Die waren ihr immer wichtig gewesen. Und umgekehrt liebten alle das Nesthäkchen, auch wenn es sich so anders entwickelte als die großen Schwestern. Von der Geschwisterliebe geben die Briefchen einen Eindruck.
Liebe Marta ich war auf dem polterabend Dore Trese un alfridridwilde fürten drei Ledis auf Dore mit dem reifen Trese mit dem bal alfrid die puppe. Da Bei sangen sie an manchen schtellen immer heiter Gott hilft weiter sei euer Walschpruch alle zeit zangt euch nimmer liebt euch immer bis in alle ewigkeit:
Darunter hatte Lenchen drei Damen gezeichnet, mit besagtem Reifen, Ball und Puppe:
Drei Ledis (Ladys)
Die alte Lene erinnerte sich. Wer damals geheiratet hatte, wusste sie zwar nicht mehr, aber es war ein lustiger Vor-Hochzeitsabend, sicher in einer der befreundeten Familien gewesen.
In einem anderen Brief hieß es:
Liebe gute Lotte!
Ich kann dir nicht viel schenken aber weil Du meine Schwester bist muss ich Dir doch wenigstens eine Kleinigkeit machen. Deshalb packte ich Dir das Lesezeichen. Für die hübsche Karte danke ich Dir sehr ich habe mich über sie sehr gefreut.
Es küsst dich 100 000 Mal! Deine Schwester L.W.
Aus ihrem fünften Schuljahr, als sie fast 10 Jahre alt war, ist folgendes erhalten:
Liebe Lotte !
Nun bekommst Du wieder ein Paket. Denke bloß, bei uns hat es gespukt. Mama, Papa und Therese waren auf Gesellschaft und Martha und Dore oben. Fritz war in seiner Stube und ich mit Annchen in der Eßstube. Da klingelt es hinten, ich und Annchen laufen hin aufzumachen, aber es ist keiner da. Martha kam runter auch Werner. So ging daß drei Mal, ist daß nicht doll. Ich könnte noch lange Geschichten davon schreiben.
Martha hat noch immer Influenza sie wird bald schreiben. Ich schreibe mir mit Mieze Hönn sehr oft, es ist Fritzens Schwester. Nun aber genug.
Besten Gruß von deiner Lene.
Martha läßt sehr grüßen.
Die Namen Annchen und Fritz waren schon damals gebräuchlich. Die genannten Kinder seien natürlich nicht mit Lenes Nichte Annchen und mit ihrem eigenen Bruder Fritz zu verwechseln, erklärte sie Hanna und Georg, wenn sie ihnen, selten genug, von der eigenen Kindheit erzählte.
Auch sie selbst erhielt Briefe, vor allem vom Vater. Der schrieb nicht nur an die eigenen Eltern und weitere Verwandten, sondern auch an seine größeren Kinder und Lenchen. Die konnte immerhin lesen, seit sie zur Schule ging, also bekam sie Post vom Vater, wenn der dienstlich verreist war. Anscheinend hatte er schon damals mit 55 Jahren, - wie aus den Briefen mehr oder weniger deutlich hervorging -, mit Herzproblemen zu tun, die ihn später noch mehr quälten.
Postkarte, abgestempelt 7.11.1899, Königsberg, Ankunftsstempel 8.11.99. Osterode
An Fräulein Magdalene Wüst Osterode
Dienstag Nachm.
L.L. (liebes Lenchen) heute ist mir wieder ganz gut, so dass ich in der Synode gewesen bin und abends zum Generalsuperintendent gehen werde, der mich zum Abendessen eingeladen hat. Wenn ich nicht morgen telegraphiere, fahre ich 2:51 Uhr Nachmittag morgen hier ab u. bin abends in Osterode, wo ich von Martha und Dore empfangen zu werden wünsche, falls sie nicht ausgebeten sind. Grüße Mama, danke ihr für die Karte und sage ihr, dass ich mich schon sehr auf „zu Hause“ freue. Ebenso grüße Fritz I., Fritz II. und Leo, ersterer ist hoffentlich schon wieder im Dienst. Dein Vater E.L.W.
Fritz war ein gebräuchlicher Name. Mit Fritz I war sicherlich der Bruder gemeint. Fritz II konnte möglicherweise Lottchens geliebter Fritz sein, den sie aber erst 1904 heiratete.
Eine Postkarte (aus Königsberg?), angekommen in Osterode am 10.6.1901, lautete:
An Fräulein Lenchen Wüst
Osterode in Ostpreußen (Gymnasium)
Wenn ich mich nach der Heimat seh’n
Und mir im Aug die Thränen stehn –
Dann eil‘ ich flink zur Quelle hin
Und stürz mich in den Strudel rin,
Fort sind die Thränen
Und all das Sehnen !
Warum schreibst Du nicht wieder einmal? Habt ihr auch die Bäume begossen?
Dein tr. V(ater) E.L.W.
Mir geht es (Sonntag) gut.
Vergessen habe ich Mama herzl. zu danken für die Süßigkeiten.
Heute Brief vom Bürgermeister (Bestätigung) und Karte von Königsberger alten Schülern
Morgen schicke ich die Wäsche ab.
Ein Briefchen in rotem Umschlag vom Dezember 1904 (offenbar fast heimlich auf ein ähnliches Briefchen von Lene hin, innerhalb des Elternhauses Osterode geschickt), lautet
Liebes Lenchen !
Über Dein Schreiben habe ich mich, obschon der Inhalt nicht gerade erfreulich war, doch gefreut, weil ich daraus dein Vertrauen zu mir wieder erkannt habe; ich bin also nicht böse.
Hoffentlich wird im nächsten Vierteljahr nichts vorkommen, denn bei der Aufnahme ins Seminar wird gerade viel auf das Betragen gegeben; außerdem ist es nötig, dass man in der Physik gute Kenntnisse besitzt, da bei der Aufnahmeprüfung in Danzig der Direktor, der ein Physiker ist, gerade darin immer prüft. Aber bis dahin wird ja alles wieder gut sein. Also auf fröhliches Wiedersehen zum Abendbrot.
Dein Vater
E.L.W.
Die Schule hatte in diesen Jahren insgesamt um die 200 Schülerinnen, jede Klasse bestand also aus etwa 20 Mädchen, nach der Jahrhundertwende in manchen Jahrgängen aus bis zu 30 Schülerinnen. Jedes Schuljahr gab es zunächst vier Zeugnisse, jeweils von Ostern bis zu den Sommerferien, beziehungsweise bis Johanni, vom Sommer bis Michaelis, von Michaelis bis Weihnachten und von Neujahr bis Ostern. Erst ab 1900 gab es dann drei Zeugnisse: von Ostern bis Michaelis, von Michaelis bis Weihnachten und von Neujahr bis Ostern. Unterschrieben haben neben den Klassenlehrern die Rektoren Lauer bis 1900, Schmidt bis 1902 und Cartellieri anschließend.
Bis Ostern 1902 ist in jedem Zeugnis der Klassenplatz gemäß dem Leistungsvergleich angegeben. Das war die im Zeugnis festgehaltene „Rangordnung“. So waren jeweils die Klassenbesten und Klassenschlechtesten auf den ersten Blick sichtbar. Lenchen saß in den ersten Jahren auf dem dritten oder zweiten Platz, dann auch mal auf dem sechsten oder sogar neunten. Sie strengte sich nicht immer an, das war mal sicher. Erst in den letzten Schuljahren behauptete sie den ersten Platz. An ihren Zeugnis-Zensuren hatten die Eltern fast nichts auszusetzen. Nur im Schönschreiben kam sie oft mit einem „genügend“ nach Hause, das Fach war ihr zu langweilig. Schreiben musste sie immer viel und schnell. Wie das Geschriebene dann aussah, war doch vollkommen unwichtig, fand sie. Außer ihr selbst und den Lehrern musste auch niemand lesen, was sie schrieb, oder? Naja, Briefe an die lieben Schwestern und an Verwandte natürlich, da gab sie sich manchmal Mühe. Aber der Inhalt war immer die Hauptsache. Und den hatte sie im Kopf und krakelte dann fix drauflos. …
Ernst riss Lene, – in der Haynstraße -, aus Gedanken. „Hast du nicht was Leckeres für heute Abend, Lenchen?“
Männer, warum dachten die immer ans Essen? Obwohl sie selbst, naja, da war sie nicht viel anders, oder? Essen, das war unbedingt eine ihrer eigenen Stärken – oder ein Schwachpunkt natürlich. Amüsiert drehte sie sich zu ihm um. „Käsestangen sind noch in der Vorratsdose, glaub‘ ich.“
„Oder Nüsse?“ fiel es Ernst ein, „Tyart brachte neulich doch welche mit.“
Lene legte die alten Briefe, Papier und Stift beiseite. Klappte das darunter aufgeschlagene Buch zu: Herder-Gedichte. Die liebte sie. Daneben lag ein Drama von Sudermann. Der war ein ungeheuer beeindruckender Zeitgenosse gewesen. Nein, wie dieser Mann schreiben, wie er die Leser und Theaterbesucher mitreißen konnte. Leider war er seit 25 Jahren nicht mehr am Leben. Den hätte sie gern mal kennengelernt, das hatte sich aber nicht ergeben.
Sie musste also jetzt in die Küche. Aber erst zog sie die unterste Schublade des alten Schreibtischs auf. Vaters Schreibtisch, Vaters Ordnung. Sie hatte das im Kopf, brauchte nicht zu suchen. Und hielt es schon in den Händen, das, was ihr eingefallen war. Die Chronik? Nein, eher die Erinnerungen waren wieder mal über sie hergefallen. Nachher also.
Schade, dass Mutter nichts geschrieben hatte.
Mama, die gute, natürlich hatte sie Papa immer den Vorrang gelassen. In jeder Beziehung. Männer waren nun mal wichtiger als Frauen, - ja, warum eigentlich? Hatte noch nie eine der vielen Frauen damals drüber nachgedacht? Doch, bestimmt, aber wahrscheinlich war es bei Gedanken geblieben und das Handeln ausgeblieben oder untergegangen. Vater war Lehrer, Rektor, Mutter war nur das Anhängsel, die „Frau Rektor“. Er schrieb die Briefe, sie bekritzelte in ihrer dünnen, steilen Schrift die Ränder und Ecken des Briefpapiers, die er frei gelassen hatte. Er arbeitete am Schreibtisch und in der Schule, sie am Herd, im Haus, am Waschzuber, am Nähtisch. Er hatte seine Schüler, sie ihre wenigen Mägde. Er verdiente Geld, sie das, was er für sie und den großen Haushalt ausgerechnet hatte. Eine Arbeitsteilung war notwendig und sicherlich sinnvoll. Aber war sie so richtig? Konnte es nicht auch umgekehrt sein? Oder ausgeglichener?
Fast musste sie über diese Gedanken lachen, so ungewohnt waren sie früher tatsächlich gewesen. Inzwischen gab es zum Glück allmählich andere Bestrebungen. Tüchtige Frauen, die sich sehr wohl die Köpfe zerbrachen und darüber redeten und schrieben, wie die Männer-Dominanz zu ändern, die alten Strukturen aufzubrechen seien und warum.
Lene reckte den Rücken gerade. Mutter hätte höchst erstaunt geguckt, wenn man früher von sowas angefangen hätte. Nein, hätte sie gesagt und nachdenklich den Kopf geschüttelt, nein, alles musste seine Ordnung haben und behalten. Wo kommen wir denn da hin, wenn wir plötzlich alle guten Sitten und Regeln über den Haufen werfen? Aber genau diese Fragen hatten Lenes eigenes Leben von Anfang an bestimmt. Hatten sie bewegt, um- und angetrieben. Wollte sie nicht früher viel lieber ein Junge sein? Wollte sie etwa so sein wie alle anderen Mädchen? Naja, vielleicht nicht alle, aber die meisten, die sie kannte? Die sich anpassten an gängige Vorstellungen und nie auf die Idee kamen, ob das richtig war, ob das für sie überhaupt passte? Nicht nachzudenken, das machte vieles leichter, zweifellos. Für jede? Nicht für Magdalena Wüst.
Auf keinen Fall. Sie liebte ihre Schwestern, oh, sie verehrte und bewunderte sie alle. Für ihre Tüchtigkeit, ihre Fantasie, ihre geistige Regsamkeit und Klugheit, ihre Heiterkeit. Eine jede hatte ihre eigene, liebenswerte Art. Aber so werden wie eine von ihnen, das wollte Lene nicht. Sie sah das alles mit an, was ihre Schwestern machten. Was mit ihnen gemacht wurde. Sah ihre Gesichter vor den Türen – und hinter den Türen der Gesellschaft des offenen Hauses. Sie ahnte manches, verstand kaum etwas, jedenfalls früher nicht. Die anderen waren schon groß, erwachsen. Sie selbst war ein Schulkind, das zum Glück noch viel Zeit für sich selbst hatte. Zeit auf Bäume zu klettern, Zeit, mit Freunden herumzutoben, den ahnungslosen, armen Erwachsenen in ihrer Einfalt Streiche zu spielen, sich hinter Büschen anzuschleichen, albernes Gestammel von Liebe zu belauschen, sich über Schmatzküsse halbtot zu kichern. Nein, niemals würde sie selbst, Lene, so einfältig werden. Niemals sich derart gehenlassen, sich jemandem ausliefern.
Das war doch nicht möglich, dass Jungens von vornherein klüger auf die Welt kamen als Mädchen und alles zu bestimmen hatten. So etwas Ungerechtes konnte sich der liebe Gott doch nicht ausgedacht haben. Wer weiß, was später mal aus ihr selbst werden würde? Sie nahm sich vor, höllisch auf der Hut zu sein vor allem, was etwa irgendeine ungerechte Schlagseite bekommen sollte. Da musste sie aufpassen.
Bis jetzt war die Schule jedenfalls zum Glück ein solches Kinderspiel, dass ihr Zeit genug blieb, die Nase in Vaters Bücher und Zeitungen zu stecken oder auf dem Flügel Etüden zu klimpern, Lieder zu singen oder nachmittags hinter dem Schulgebäude oder in der leeren Turnhalle Ballspiele zu veranstalten, Wettkämpfe mit den Freundinnen und Freunden im Schnelllauf und Weitsprung zu gewinnen. Jawohl, Zeit genug blieb ihr das Leben zu genießen.
Vaters Schule lag im Osten der Stadt. Der stattliche, rote Ziegelbau war sein ganzer Stolz. Das Rektor-Haus daneben wirkte direkt verschüchtert bescheiden. Wer allerdings erstmal durch die Haustür in den Flur eingetreten war, fand es überraschend geräumig, - und laut natürlich.
Zum See hinunter, - über den langen Marktplatz, dann an der alten, ehemaligen Ordensburg vorbei -, war es auch nicht weit. Da glänzte nachmittags die Sonne übers Wasser. Sie selbst und die Freundinnen hatten, als sie etwas älter waren und meinten, die Kindheit läge endlich hinter ihnen, ihre Lieblingsplätze seitwärts zwischen den Erlen- und Haselbüschen am Schilfrand. Geheim natürlich. Endlose Stunden schabberten sie da, Freundinnen unter sich eben. Die meisten hatten Träume, hatten ihr Leben schon in abgesteckten Bahnen vor sich. Wenn die Schule beendet war, würden sie sich hübsch machen, - noch hübscher und ohne Pickel. Ja, sie wussten, was zu tun war. Manchmal klang es fast so, als hätten sie ihr Leben, zumindest gedanklich, schon hinter sich und abgeschlossen. Wo blieb da noch Platz für das Schicksal, für Überraschungen, Begegnungen, Ereignisse?
Nein, Lene sah erstmal keinen Grund, die Schule zu beenden. Keinen Grund, ihre Freiheiten aufzugeben, die sie sich nach und nach auch als Nesthäkchen erobert hatte. Jedenfalls nicht, bevor sie herausgefunden hatte, was das Leben mit ihr vorhatte – oder sie selbst mit ihrem Leben? Und was sie vermochte? Und nichts aufgeben, bevor sie Vaters Bibliothek durchgelesen hatte. Wahrscheinlich gab es sogar noch weitere Bücher. Neue und alte, von denen sogar Vater nichts ahnte? Nein, ihre eigene, kleine Freiheit würde Lene nicht aufgeben, sondern möglichst weit ausdehnen, solange das eigene Leben spannend und unerforscht war.
Sie sah das alte Schulgebäude in Gedanken vor sich. Sah sich selbst, immer eilig, gerade und energisch, lachend mit den Freundinnen durch die altbekannten Straßen laufen. Oder allein, bummelnd, den Kopf gesenkt auf die Pflastersteine oder Sandwege. In tiefe Gedanken versunken. Sie kannte wohl jeden dieser Steine, jede Pfütze bei Regenwetter. Fest war das in die ersten, profunden Rillen des Gehirnspeichers eingegraben.
Oder sie spielte Hans-guck-in-die-Luft. Lene-guck-in-die-Luft forschte in dunklen Winterabenden die Sterne durch, ihre leuchtenden Himmelsbilder, ihre gleißende Helligkeit, und sie dachte Wege von oben nach unten, von unten nach oben. Und manchmal wünschte sie sich da hoch hinauf, der gute Gottvater wohnte da irgendwo zwischen seinen Sternen, so hatte es der Pastor erzählt, und der musste es ja wohl wissen. Mutter meinte, das könne kein Mensch so genau erforschen, denn das sei „eine Sache des Glaubens und der symbolischen Glaubensvorstellung“. Aber Lene hielt sich lieber an Leute, die es wussten, an gut gelernte und sichere Wahrheiten. Jedenfalls war der liebe Gott seinen Sternen näher als den Menschen, denn er ließ sich auf der Erde nicht mehr blicken. Das allerdings bestritt der Pastor energisch und Mutter war da ganz seiner Meinung, aber das glaubte Lene nun allen beiden nicht. Obwohl die Erwachsenen natürlich schon mehr Jahre und Erfahrungen auf dem Buckel hatten und allerlei erlebt haben mochten, wer weiß. Tatsache war aber doch: Seit der ungerechten Kreuzigung damals hatte Gott sich von der menschlichen Erde verabschiedet, - und das konnte ihm auch niemand verübeln, fand Lene, so kleinlich und voller komischer Gesetze, Regeln und Sitten und mancherlei Bosheiten und Gemeinheiten es hier zuging. Deshalb wollte sich Gott wohl auch nicht mehr in irgendeiner Menschengestalt hier blicken lassen. Das nahm Lene ihm nicht übel. Da hatte er es zwischen seinen Sternen doch weitläufiger und herrlicher, übersichtlicher und unabhängig von der vergleichsweise so jämmerlich kleinen Erde.
Lene fand die Menschen um sich herum zwar nicht schrecklich, aber sie dachte für sich, es könnte nicht schlecht sein einigen Kontakt nach oben zu halten. Drähte zu spannen. Gedankenfäden hinauf zu schicken. Sich in diesen Sternen auszukennen. Es ging eine Ruhe, eine Stille von da oben aus. Blicke nach oben, nachts, so aus der menschlichen Dunkelheit heraus, machten manches erträglicher: aufgeschlagene Knie, Ärger mit der dummen Nachbars-Trine, Sorgen wegen Vaters gefalteter Stirn oder Muttchens Husten.
Diese Gewohnheit, nachts nach oben zu blicken und tagsüber nach unten -, Distanz zu den Menschen um sich herum zu schaffen, sich selbst wieder ordentlich zu sortieren, und vor allem Ausschau zu halten nach Zeichen oder Wundern, vielleicht auch nur solche herbei zu sehnen, das war immer so geblieben. Intensive Wünsche, Träume und Sterne, die gehörten für Lene zusammen und hatten ihre hellen Plätze am Nachthimmel.
Die Sterne, das leuchtende Firmament über ihr und die hölzerne Schreibtischplatte vor ihr, das waren Fixpunkte. Dazwischen hatte sich ihr Leben gespannt.
Stopp, ehe ihre Gedanken zu weit voraus liefen, kehrte Lene in ihr Früher zurück. Die Schule, ach ja, und die Kleinstadt Osterode. Damals groß, denn weiter reichte, abgesehen von den Ferien, ihr tägliches Leben kaum.
Osterode mit seinen Schulalltagen, mit seinen Honoratioren, die ins Direktorhaus zu Besuch kamen, mit seinen kleinstädtischen Problemen und Perspektiven, aber auch Diskussionen über Weltgeschehen und Zukunft, Osterode nicht zuletzt natürlich mit seinen Festen.
Ein besonderes, Aufsehen erregendes, für Klatsch sorgendes und noch lange freudig erinnertes Ereignis war die feudale Doppelhochzeit im Rektorhaus 1904. Lotte, die älteste Tochter und ihr Landvermesser Fritz feierten gleichzeitig mit Dore und ihrem humorvollen Leo ihre standesamtliche und dann kirchliche Trauung. Lenchen hatte ihr letztes Schuljahr zu fassen, kam sich jedoch angesichts dieser spektakulären Erwachsenen-Allüren ihrer geliebten Schwestern wieder einmal gehörig klein, unfertig und unerfahren kindlich vor. Wahrscheinlich war sie das auch. Dore war damals 24 Jahre alt, Lotte mit ihren 30 Jahren schon doppelt so alt wie Lenchen.
Die Stadt ließ sich nicht lumpen, sondern schenkte wertvolles Silber für 24 Personen. Man denke: zwei der fünf Töchter des Gymnasialdirektors wurden gleichzeitig aus der elterlichen Obhut und Oberaufsicht entlassen und den wahrlich liebenswerten und tüchtigen Schwiegersöhnen übergeben.
Lenes Abgangs-Zeugnis der Schule wurde am 7. April 1905 ausgestellt. Lenchen war fast 16 Jahre alt.
Fünf Tage, bevor sie mit diesem Abschlusszeugnis die Schule verließ, gab es ein weiteres denkwürdiges Ereignis. Lene wurde in der Evangelischen Stadtkirche von Superintendent Stange konfirmiert. Es war der Sonntag Lätare, der zweite April 1905.
Das war eine wichtige, einschneidende Feierlichkeit, nicht nur für Lene, sondern für die ganze Familie. Denn immerhin wurde die Jüngste nun nach der Taufe erneut und aus eigenem Willen unter Gottes Schutz und Schirm gestellt und damit gewissermaßen und traditionell ins Erwachsenenleben gehoben.
Getauft worden war sie am 30. Juni 1889, ebenfalls in dieser evangelischen Kirche von Superintendent Stange. Der sollte sie jetzt auch konfirmieren.
Für die Eltern war ihre Konfirmation sicher mit einer Art Erleichterung verbunden, - es war eben der Schritt ins Erwachsensein -, für Lenchen selbst aber doch mit äußerst gemischten Gefühlen. Natürlich wollte sie ihre Taufe nun selbst bekräftigen und erneuern. Damals war sie ja noch zu klein gewesen. Als sie in festlich-vornehmes Schwarz gekleidet mit ihren Freundinnen die Kirche betrat, wünschte sie nichts sehnlicher, als Gottes Gegenwart so richtig zu spüren, fromm zu sein für ihr ganzes restliches Leben, demütig alles zu tun, was Gott von ihr verlangte, was auch immer das sein mochte. Würde sie das denn spüren? Als sie zu den vordersten Reihen der Kirchenbänke schritt, wo die Konfirmanden Platz nehmen sollten, war sie plötzlich skeptisch: konnte sie denn wirklich versprechen, was sie jetzt gleich geloben würde? Ein Versprechen musste gehalten werden, das war unumstößlich. Immer und immer musste dieses Versprechen zu Gott gelten, nie durfte sie ausbrechen. Gott würde besonders ab jetzt wohl immer an ihrer Seite sein, alles sehen, alles vielleicht sogar kommentieren, kritisieren? Aber versprach Gott ihr denn nicht auch etwas? Wenn sie das nur mal sehen oder richtig merken könnte. An diesem Sonntag bildete sie sich das auf jeden Fall ein, vielleicht war es auch so, aber wer konnte das wissen? Du liebe Zeit, ihr kritischer Verstand spielte nicht immer mit, wenn ihre Gefühle mal anders wollten, - war das etwa schon Sünde? Lene merkte, wie sie immer aufgeregter wurde. Sie zerknüllte ihr weißes Spitzentaschentuch zwischen den Fingern, merkte, wie ihr heiß wurde, wahrscheinlich bekam sie auch wieder einen roten Kopf. Verstohlen blickte sie zur Seite, wo ihre Freundinnen vielleicht von ähnlichen Gedanken drangsaliert wurden. Aber deren Gesichter sahen rein, weiß und himmelsschön aus. So sah sie natürlich auch aus, - jedenfalls für oberflächliche Blicke. Aber sah irgendjemand, wie es in ihr drinnen aussah? Am letzten Sonntag bei der Konfirmanden-Prüfung vor versammelter Gemeinde, als die Freundinnen zappelig und heiß vor Aufregung waren, da war sie die Ruhe selbst gewesen. Alles Gelernte saß in ihrem Kopf, das wusste sie, und sie konnte es ohne weiteres hervorholen und aufsagen, was war denn groß dabei? Aber jetzt, jetzt kam es doch erst darauf an, ob sie tatsächlich wollte, ob sie es wert war, ob nicht doch ihre vielen Missetaten, - kleine Lügen, Spöttereien, Frechheiten -, überwogen vor Gottes Angesicht?
Mit Herzklopfen ließ sie die Zeremonie über sich ergehen. Ihre beiden Konfirmationssprüche konnte sie natürlich auswendig. Sie waren aus der Offenbarung Johannes 2,10: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben“ und aus Jesaias 41,10: „Fürchte dich nicht, Ich bin bei Dir, weiche nicht, denn ich bin Dein Gott“. An das „fürchte dich nicht“ wollte sie sich halten, das nahm sie sich vor, das passte ihr gut.
Dann war alles überstanden. Unter dröhnend klingendem Glockengeläut traten sie hinaus, der Himmel war hell über den hohen Linden, die Luft frühlingsfrisch und herrlich. Lene atmete auf, hob das Gesicht zum Himmel. Da oben war er auf jeden Fall, der Gott, das spürte sie. Und gleichzeitig also jetzt dicht bei ihr. Naja, irgendwie würde sie es schon schaffen, ihr Versprechen zu halten.
Zu Hause besah sie ihre Konfirmations-Urkunde, die rundum mit feinen, alten und mit kunstvollen Schnörkeln versehenen Zeichnungen in zartem Grün versehen war. Das heilige Abendmahl bildete das Hauptbild unten, an den Ecken und Seiten war die Urkunde mit Geschehnissen aus dem Neuen Testament illustriert. Sie seufzte. Also gut: sie würde „getreu sein“, fürchten tat sie sich sowieso fast nie, bis jetzt jedenfalls nicht. Warum sollte sie jetzt damit anfangen, wenn Gott mit ihr sein würde?
Eine Woche später war die Schulzeit zu Ende.
Und jetzt? Schluss mit Lernen? Nach zehn Schuljahren hielt sie ihr Abgangs-Zeugnis in den Händen. Die Zensuren waren natürlich in Ordnung, aber sie freute sich nicht. Nein, wirklich nicht, war das nicht komisch? Die Klassenkameradinnen machten frohe und glückliche, zumindest zufriedene Gesichter. Sie spekulierten auf Arbeit, vielleicht als Haushaltshilfe oder in der elterlichen Landwirtschaft, vielleicht bei der Post. Und manche dachten sogar schon ans Heiraten. Dachten an den Märchenprinzen? Die große Liebe etwa? Oder schlicht ans Versorgtsein durch einen Ehemann, der Geld für beide verdiente?
Lene konnte es nicht ändern, sie war enttäuscht. Das bisschen Lernen sollte alles gewesen sein? Wieder einmal haderte sie mit ihrem Schicksal als Mädchen auf der Welt zu sein. Schade, schade, dass sie nicht ein Junge geworden war. Dann hätte sie gerade jetzt mehr Möglichkeiten gehabt. Was gab es denn für Mädchen? Gar nichts weiter? Sie war nicht nur enttäuscht, sie war empört.
„Freust dich gar nicht, Lenchen?“ fragten die Freundinnen. Alle umringten sie. „Hast doch die besten Noten!“
„Na und?“ Sie wusste, dass sie zum Erschrecken streng aussehen konnte, und das genau wollte sie jetzt auch. Die anderen Mädchen aber waren so fröhlich, die lachten sie einfach aus. Lene wandte sich ab. So wie die anderen war sie eben nicht. Nein, das würde ihr nicht gelingen, auch wenn sie sich Mühe geben sollte. Aber das wollte sie gar nicht. Nein, sich einfach zufrieden geben mit dem, was andere vielleicht von ihr erwarteten, das kam nicht in Frage. Vater und Mutter würden natürlich die guten Zensuren sehen, die sie so wichtig fanden. Tatsächlich hatte sie „sehr gut“ in Betragen, in Aufmerksamkeit, Fleiß und Ordnungsliebe, in Religion, Deutsch, Englisch, Rechnen, Geschichte und Erdkunde. Ein „gut“ stand da für Französisch, Naturwissenschaften, Singen und Turnen. Das einzige „genügend“ stand da natürlich für das elende „Schreiben“. Ja, das würden die Eltern alles zu sehen bekommen und sie deswegen loben. Sie selbst blieb aber am letzten Satz hängen, der untendrunter stand:
„Da Magdalena Wüst jetzt die Schule verlässt, um in das Elternhaus zurückzukehren, so wird sie mit den besten Segenwünschen für die Zukunft entlassen.“
Ins Elternhaus zurück? War das nicht beschämend? Im Elternhaus war sie vor der Schule und während der Schule doch die ganze Zeit schon gewesen. Sie überlegte: Nach Hause, dahin waren die Schwestern nach der Schule zurückgekehrt, hatten sich im Haushalt getummelt und geübt und sich auf Festen vergnügt, lustig und kritisch nach Verehrern Ausschau gehalten und sich erwachsen gefühlt. Mit dem Abgangs-Zeugnis in der Hand galt man als groß und die Kindheit war vorbei. Naja, was die Leute so dachten!
Mit gesenktem Kopf und einer zornigen Falte auf der Stirn kam sie nach Hause, hielt den Eltern ihr Zeugnis entgegen. Gnädig nahm sie Lob und Glückwünsche entgegen, bemühte sich Stolz und Freude zu zeigen. Mutterchen hatte ihr Lieblingsessen gekocht. Das war reizend von ihr.
Zum Glück hatte sie sich bald etwas anderes in den Kopf gesetzt. Etwas, das Vater ja ebenfalls schon vermutet und angedeutet hatte: ein Seminar? Danzig? Wieder zu Hause herumsitzen, das war jedenfalls nichts für sie, nein, bestimmt nicht. Was für Möglichkeiten gab es denn noch?