Читать книгу Gefahr im Anzug - Gabriele Matzner - Страница 6
DER GRIFF ZUR LATTE
ОглавлениеFerdinand springt los, am Wächter vorbei, durch das Türchen, in Richtung Haus. Auf der Wiese packt er den verdutzten Buben und stürzt auf die Terrasse.
»Ein Toter! Polizei, Polizei!«, flüstert er erregt Alfred zu, der gerade mit einem Tablett Cocktails aus dem Haus kommt, deutet in Richtung Kanal und stürmt ins Haus. Im Salon rast er zum Telefon und hebt den Hörer ab.
Alfred nähert sich mit raschen Schritten, entringt ihm mit ruhiger Hand den Hörer und legt auf. »So machen wir das hier nicht«, sagt er mit sicherer Stimme und blickt Ferdinand aus seinen bebrillten farblosen Augen entschlossen an. »Ein Toter im Kanal ist nichts Ungewöhnliches«, doziert er, nachdem er Frau und Kinder vorsorglich und autoritär mit der Behauptung verscheucht hat, es gehe um etwas Dienstliches. »Wir haben fast jede Woche, ja manchmal jeden Tag so eine angeschwemmte Leiche im Wasser. Der Gärtner oder ein Wächter stoßen sie weiter. Sie verlassen das Grundstück und wir haben keine Scherereien.«
Ferdinand starrt ihn entsetzt an.
»Das machen entlang des Kanals alle so. Das ist ganz normal. Man holt sich nur Probleme ins Haus, wenn man die Leichen herausfischt und gar die Polizei ruft. Die interessiert das doch nicht«, behauptet Alfred energisch.
»Aber …«, setzt Ferdinand zu widersprechen an.
Der Handelsmann wird lauter: »Nichts aber. Das sind Leute, deren Familien, wenn sie überhaupt eine haben, sich kein Begräbnis leisten können. Oder es sind Opfer von Bandenkriegen oder Ritualmorden. Wer weiß das schon? Irgendwo werden solche Leichen über eine Mauer oder direkt in den Kanal geworfen und am Ende landen sie irgendwo. Das sind Einheimische und da mischen wir uns nicht ein. Ich ruf gleich den …«
Wächter, will er wohl sagen. Doch Ferdinand platzt heraus: »Aber es ist ein Weißer, kein Einheimischer … wenn ich das richtig gesehen habe!«
Genervt hebt Alfred die andeutungsweise vorhandenen Augenbrauen. Ferdinand stockt: Was denkt er jetzt von mir? Womöglich, dass ich ein Anfänger bin? Aber so etwas geht doch wirklich nicht!
»Du hast ja keine Ahnung, was man für Scherereien kriegt, wenn man die Polizei ruft«, schnaubt der Handelsdelegierte und entblößt Hasenzähne. »Das hat so ein Anfänger«, Ferdinand schreckt unmerklich zusammen, »so ein Ausländer, ein paar Grundstücke weiter vor ein paar Wochen gemacht.«
»Und sind sie nicht gekommen?«, wirft Ferdinand zaghaft ein.
»Das ist es ja, sie sind gekommen. Sie müssen die Leiche liegen lassen, bis sie ein Verwandter reklamiert, haben sie gesagt, und sind wieder abgezogen. Nach ein paar Tagen musste der Tölpel wegen des Gestanks mit seiner Familie in ein Hotel ziehen.«
Ferdinand öffnet Mund und Augen weit, wie ein Fisch an der Angel. »Und dann?«, stottert er.
»Dann muss dem Unglücksraben jemand gesteckt haben, dass sich die Polizei für ihre Mühen etwas erwartet, etwas Bares oder Flüssiges. Das hat ihm schließlich eingeleuchtet und er konnte wieder heim«, belehrt ihn der Wirtschaftvertreter triumphierend. »Es kann aber auch passieren, dass man wegen so einer angeschwemmten Leiche selbst des Mordes verdächtigt und in eines dieser Löcher gesteckt wird, die sie hier Gefängnisse nennen«, setzt er warnend nach und bekreuzigt sich. Ferdinand klappt Mund und Augen wieder zu.
Widerwillig folgt der Handelsdelegierte dem aufgebrachten Ferdinand durch das Gestrüpp zum Fundort. Leise fluchend greift er nach einer der Holzlatten. Gemeinsam beugen sie sich über den Leichnam. Jetzt ist Ferdinand überzeugt: Es ist Blut, braun auf dem früher wohl einmal weißen, jetzt gelblich-grünen Hemd und der Kopf mit dem strubbeligen roten Haar hängt so merkwürdig zur Seite. Wie lang der wohl schon in dieser Brühe schwimmt?
Alfred beäugt den Toten im dunklen Anzug: »Den kenne ich«, murmelt er. »Das ist der … oder doch nicht? Aber was soll’s …«, brummt er.
»Du kennst ihn?« Ferdinands Stimme nimmt einen verzweifelten Ton an.
»Na ja, so viele Rothaarige kann es hier ja nicht geben. Und außerdem der teure Anzug. Könnte ein Kollege sein. Aber wie auch immer, wir müssen ihn loswerden«, entscheidet Alfred.
Ferdinand verstummt und starrt auf die Leiche wie auf eine Erleuchtung: Ein Kollege ist das also, ein Diplomat. Es ist hier doch gefährlicher, als mir die Zentrale in Wien versichert hat. Was für ein grauenhafter Anfang für meine vier Jahre hier! Ob ich doch noch wechseln kann? Vielleicht in ein Land, in dem man nicht bei Kollegen so nebenbei auf Leichen stößt? Notfalls könnte ich mich auch einberufen lassen, zurück in die Zentrale nach Wien. Dort kann man sich zwar nur Beamtenforellen leisten, aber dafür ist man seines Lebens sicher.
Der Handelsmann setzt schon die Latte an. Ferdinand erwacht aus seiner Schreckensstarre. »Nein, das kannst du nicht machen!«, ringt er um die Latte und seinen Standpunkt.
Vergebens. Mit einem für seine schlapp-rundliche Statur erstaunlich kräftigen Stoß und dem Ausruf »Das ist mein Haus und ich habe hier die Scherereien und das Sagen!« bugsiert der Handelsdelegierte den Toten in den Lauf des trübe dahinfließenden Gewässers. Langsam um die eigene Achse rotierend verschwindet der Tote hinter der nächsten Biegung des Kanals. »Weg ist er, beim nächsten Grundstück und dann, wer weiß wohin?«, freut sich Alfred und wendet sich zum Gehen. »In Verstoß geraten ist der, könnte man sagen«, witzelt er und kichert befriedigt über diesen sprachlichen Einfall aus dem Fundus der Beamtensprache.
»Ich glaube es nicht, was du gemacht hast! Geht man so mit einem Kollegen um?«, murmelt Ferdinand.
»Ach, wer weiß, wer das wirklich ist«, wiegelt Alfred ab. »Wir sagen niemandem etwas, ist das klar?«, fixiert er den Neuling.
»Ja, wenn du meinst …«, stammelt Ferdinand kleinlaut und schleicht durch den mittlerweile nächtlichen Garten nachdenklich hinter Alfred zurück zum Haus.
Auf der inzwischen halb im Dunkeln der Nacht liegenden Veranda wirft ihnen Grete, die Frau des Handelsdelegierten, einen misstrauischen Blick zu. »Was war das für ein Toter?«, forscht sie.
»Das erzähle ich dir später«, verspricht Alfred, »die Kinder sollten jetzt schlafen gehen.« Maulend lassen sich Xandi und seine kleine Schwester von der Mutter ins Bett bringen. »Genehmigen wir uns noch ein Schnäpschen auf den Schreck?«, lockt der Handelsdelegierte den indigniert dreinblickenden Neuling. »Das wird dir guttun.«
Aber so recht entspannen kann sich Ferdinand an diesem Abend nicht mehr. »Vergiss nicht, morgen machen wir einen Ausflug«, wirft ihm Alfred noch zur Aufmunterung hinterher, als sich Ferdinand mit hängendem Kopf verabschiedet.
»Also, was war los?«, fixiert Grete ihren Mann, nachdem Ferdinand gegangen ist.
»Eine Leiche im Kanal, das Übliche«, entgegnet der knapp.
»Und warum war Ferdinand gar so aufgeregt?«, stößt sie nach.
Alfred kippt das Schnapsglas: »Das ist eben neu für ihn, was wir mit solchen Leichen von Einheimischen machen. Das kann ich auch verstehen. Er ist eben zart besaitet, wie auch ich.«
Grete macht große Augen: »Du und zart besaitet? Ein Fleischerhund hat wahrscheinlich mehr Gemüt.«
Seine Gesichtszüge nehmen einen leidenden Ausdruck an: »Jedenfalls haben wir Stillschweigen vereinbart.«