Читать книгу Kinderjahre Kaiser Karls - Gabriele Praschl-Bichler - Страница 7
Zur Einführung Tagebücher eines Habsburgers, die noch nie jemand gelesen hatte
ОглавлениеZu den vielen Überraschungen, die ich erlebte, als ich vor etlichen Jahren ein Habsburger Archiv zur Betreuung übernahm, gehörte der Fund von Tagebüchern, die ein Bruder Kaiser Franz Josephs ab der Geburt seines ersten Kindes (1863) bis zu seinem Tod (1896) ohne Unterbrechung führte. Es fehlen nur zwei Bände, die auf ungeklärte Weise abhanden gekommen sind (einer ist in Bayern aufgetaucht, konnte aber für die vorliegende Arbeit nicht eingesehen werden). Diese Tagebücher stellen nicht nur wertvolle Ergänzungen der großen Geschichte dar, sie dokumentieren auch den allerprivatesten Alltag der Kaiserfamilie.
Der Autor der Tagebücher war Erzherzog Carl Ludwig, Bruder und eifrigster Mitarbeiter Kaiser Franz Josephs und Großvater des späteren Kaisers Karl. Seine Aufzeichnungen waren noch nie gelesen und auch noch nie für Dokumentationszwecke verwendet worden. Im Speziellen interessierte mich die darin enthaltende Kindheitsgeschichte Kaiser Karls. Über diesen Lebensabschnitt ist wenig bekannt.
Den Habsburgern zu Ehren sei gesagt, dass in den Tagebüchern nur wenig Unerfreuliches zutage trat. Hauptsächlich findet man darin Familiengeschichte mit allen großen und kleinen Erlebnissen, die auch der kaiserliche Alltag mit sich bringt. Die Themen sind vielfältig und immer sehr familienbezogen: Sie handeln von fröhlichen und ernsten Gesprächen bei gemeinsamen Mahlzeiten, von Friseur-, Zahnarzt- und Schneiderbesuchen, von Krankenpflege, Weihnachtseinkäufen und Familienfesten, von logistischen Meisterleistungen bei kurzen und langen Reisen und vom dichten Arbeitspensum eines Mitglieds der Kaiserfamilie.
Erzherzog Carl Ludwig war sich der Pflichten seiner hohen Stellung bewusst und hat einen Großteil seiner Arbeitszeit in den Dienst des Kaisertums gestellt. Das tat er freiwillig, er hätte es nicht müssen, er hat dafür auch keine höhere Apanage erhalten. Auch seine Söhne, die wie alle männlichen Habsburger eine Militärausbildung erhalten hatten, standen als Erwachsene im Dienst der Monarchie. Besonders hart war das für den zweitältesten Sohn Otto, der als 22-Jähriger bereits eine Familie hatte und von Kaiser Franz Joseph alle paar Monate an einen anderen Standort versetzt wurde. Von seinem Vater hatte er Schloss Persenbeug an der Donau zum Geschenk erhalten, es war aber selbst von Wien nur in einer langen Anreise mit mehrmaligem Wechsel der Verkehrsmittel zu erreichen. Die Garnisonstädte, in denen sich Otto oft monatelang aufhielt, lagen meist noch weiter entfernt.
Im Sommer 1887 war das Leben in und um Schloss Persenbeug allerdings rege, denn es stand die Geburt von Ottos erstem Kind bevor. Der kleine Carl, der spätere Kaiser Karl, sollte dort im August dieses Jahres zur Welt kommen. Um die Stimmung rund um dieses Ereignis einzufangen und das Größerwerden des Enkels mitverfolgen zu können, wurden für dieses Buch die Tagebucheintragungen seines Großvaters Erzherzog Carl Ludwig herangezogen. Alles begann recht unspektakulär und nur im engsten Familienkreis. Unspektakulär war die Geburt deshalb, weil das Baby nicht der Herrscherlinie entstammte. Damals lebte noch Kronprinz Rudolf, von dem man zwar wusste, dass er keine (männlichen) Nachfolger mehr haben würde, aber er sollte auf jeden Fall der nächste Kaiser werden. Als er nur eineinhalb Jahre später starb, rückte Erzherzog Carl Ludwig an vorderste Stelle. Er und/oder sein ältester Sohn Franz Ferdinand sowie dessen ältester noch nicht geborener Sohn standen als nächste Herrscher fest. Für den kleinen Carl änderte sich durch den Tod Rudolfs nichts, da die Kaiserwürde über seinen Onkel und dessen Nachkommenschaft weitergegeben werden sollte.
Doch brachte ein ungewöhnliches Ereignis den 13-jährigen Carl plötzlich ganz nahe an den Thron heran. Im Jahr 1900 heiratete sein Onkel, der Thronfolger Franz Ferdinand, Gräfin Sophie Chotek, eine nach Habsburger Hausgesetz nicht standesgemäße Frau. Infolge dieser Mesalliance musste er – nach damaliger Bestimmung unter der Regentschaft Kaiser Franz Josephs – für etwaige ungeborene Söhne auf den Herrschaftsanspruch verzichten, wenn auch allgemein angenommen wird, dass Franz Ferdinand diesen Verzicht als Kaiser rückgängig gemacht und selbstverständlich seinen ältesten Sohn2 als Thronfolger eingesetzt hätte. Der 13-jährige Carl wurde damals also offiziell übernächster Thronfolger, niemand war sich aber sicher, ob er es nach dem Tod seines Großonkels Kaiser Franz Joseph geblieben wäre. Wie hinlänglich bekannt ist, änderte sich die Geschichte aber noch einmal auf unvorhersehbare Weise. Franz Ferdinand wurde 1914 in Sarajewo ermordet und Carl war nun, im Alter von 27 Jahren, tatsächlich Thronfolger von Österreich-Ungarn.
Wie nahe oder wie weit entfernt sich Carl in seiner Kindheit auch zum bzw. vom Thron befand, war er dennoch ein Mitglied einer Herrscherfamilie und musste als solches einen Teil seines Lebens in der Öffentlichkeit verbringen. Da sein Großvater Erzherzog Carl Ludwig ab dem Tod Kronprinz Rudolfs das ranghöchste Familienmitglied nach dem Kaiser war, kannte er von klein auf die Aufmerksamkeit, die man erweckte, wenn man auch nur spazieren ging. Dabei wurde der Kleine nicht nur von Verwandten, sondern auch von Kinderfrauen begleitet. Kritikern fällt an dieser Stelle auf, wie viele – vermeintliche – Privilegien der kleine Carl besaß, der schon als Baby mit Gefolgsleuten unterwegs war. In dieser Gesellschaft befanden sich die meisten Kinder aus Fürsten- und aristokratischen Familien sowie jeder Baby-Erzherzog und jede Baby-Erzherzogin. Kinder, die von Kindermädchen aufgezogen wurden und werden, sahen/sehen ihre Eltern selten oder nie. So geschehen auch beim kleinen Carl. Sein Vater Erzherzog Otto war wie jeder männliche erwachsene Habsburger im Militärdienst und lebte das Jahr über in Garnisonstädten – in Prag, in Brünn, in Enns, in Krems, in Ödenburg oder wohin immer ihn sein Onkel Kaiser Franz Joseph schickte.
Carls Mutter Marie Josepha, eine geborene Prinzessin von Sachsen, war eine typische Dame ihrer Zeit. Da sie finanziell in besten Verhältnissen lebte, konnte sie es sich leisten, ausschließlich Dame zu sein. Wie Kaiserin Elisabeth litt sie an »nervösem Husten«, dem sie gerne nachgab, um lange Reisen unternehmen zu können. In den Haushalten, die sie mit ihren Schwiegereltern teilte, ging sie ihren eigenen Interessen nach, schlief viel und extrem lange, was für ein Mitglied der Kaiserfamilie ungewöhnlich war. Wie ihr mutmaßliches Vorbild Kaiserin Elisabeth entzog sie sich gerne den Pflichten als Ehefrau und Mutter. Wenn sie unterwegs war, überließ sie die Betreuung des kleinen Carl Kinderfrauen. Ihren Ehemann Otto, der das Jahr über seinem Militärdienst nachging, sah sie nur selten.
Im Unterschied zu ihrer Familie – sie entstammte dem Geschlecht der Wettiner3, die als Könige von Sachsen regierten –, deren Mitglieder alle intensive und häufig sogar wissenschaftliche Hobbys betrieben, interessierte sich Marie Josepha eigentlich nur für das Leben in Gesellschaft. Wenn es keine Empfänge, Diners, Bälle oder Theateraufführungen gab, langweilte sie sich. Das vormittägliche Familienleben verschlief sie meist, später nahm sie an den zwei üblichen gemeinsamen Mahlzeiten teil. Sie scheint kaum etwas aus eigenem Antrieb unternommen zu haben. Sie aß, weil man sie zum Essen bat, sie ging aus, weil jemand sie einlud, sie begab sich auf Reisen, weil ein Arzt es für ratsam hielt oder weil Verwandte besucht werden wollten. Besonders auffallend ist ihr eigentümliches Verhalten als Mutter, auf das an den betreffenden Stellen hingewiesen werden wird.