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Familienalltag und offizielle Verpflichtungen in den Tagebüchern
ОглавлениеWas in den täglichen bis zu 60-zeiligen Eintragungen Erzherzog Carl Ludwigs über das Privatleben der Familie zu lesen ist, klingt außerordentlich modern. Er und seine Frau lebten zwar im selben Haushalt, jeder ging aber seinen eigenen Beschäftigungen und Verpflichtungen nach: Erzherzog Carl Ludwig hatte als ranghöchster Erzherzog und erster Vertreter seines Bruders Franz Joseph einen beinahe so dichten Tagesplan wie der Kaiser. Ähnliches galt für seine Frau Erzherzogin Marie Theresia, aber nicht nur, weil sie die ranghöchste Erzherzogin war, sondern weil ihre Schwägerin Kaiserin Elisabeth fast ständig auf Reisen war und sie häufig in deren Namen öffentliche Termine wahrnahm.
Generell gilt, dass Ehepaare oberer Gesellschaftsschichten früher innerhalb ihrer Residenzen in getrennten Wohnungen lebten. Auch die Kinder wohnten mit Kinderfrauen, Erziehern und Lehrern in eigenen Appartements. Wenn sie ein gewisses Alter erreicht hatten, durften sie beim Mittag- und Abendessen dabei sein. Das hat jede Familie individuell gehandhabt, die Habsburger haben ihre Kinder sehr früh an den gemeinsamen Essen teilnehmen lassen. Und sie durften sie, sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten, in die tägliche Messe begleiten.
Zum Alltag der Kinder gehörte auch die Schulpflicht. Sie wurden – auch in den Sommerferien – täglich unterrichtet. Geschwister ähnlichen Alters nahmen die Stunden gemeinsam. Über den Lehrstoff des Gymnasiums hinausgehend, erhielten sie Unterricht in den wichtigsten Sprachen der Monarchie und auch schon damals in Englisch. Je nach Interessen und Begabungen erhielten die jungen Habsburger Sport-, Kunst- und Musikunterricht. Beinahe jedes Kind konnte reiten und ab etwa dem zehnten Lebensjahr eigenständig eine Kutsche lenken.
Das Familienleben spielte sich bei den zwei bis drei täglich gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten ab, die nie sehr lange dauerten. Als gläubige Katholiken haben die Habsburger stets Maß gehalten, nie ausschweifend gelebt, also auch nicht im Übermaß geschlemmt oder zu lange geschlafen. Genauigkeit in den kleinsten Dingen, vor allem Höflichkeit und Pünktlichkeit wurden als wichtigste Tugenden vorausgesetzt. Die schlimmste Strafe erhielt ein Kind, wenn es nicht pünktlich war: Wer zu spät zum Essen kam, musste zurück in sein Zimmer und dort alleine essen. Diese Regel galt in allen Generationen, und man liest auch immer, dass die kinderliebenden Eltern unter dieser Strafe mehr litten als die Kinder. Aber es war eine wichtige Maßnahme, um sie zu Pünktlichkeit zu erziehen.
Wenn ein männlicher Habsburger um die 20 Jahre alt war, wurde er vom Kaiser als Militär eingesetzt. Von klein auf hatte er die wichtigsten praktischen und theoretischen Fertigkeiten dafür erlernt. Einige studierten an einer Militärakademie. Alle Erzherzoge durchliefen eine mehrjährige Ausbildung, bis sie den Offiziersstand erreicht hatten.
Mit den erwachsenen Kindern, die in Garnisonen lebten, die weggeheiratet hatten oder die sich auf Reisen oder auf Kuraufenthalten befanden, hielt ihr Vater Erzherzog Carl Ludwig ständig Kontakt, ebenso mit seinen Brüdern, Verwandten und Freunden, aber auch mit Künstlern und Wissenschaftlern. Täglich schrieb er zahl- und inhaltsreiche Briefe, da das Telefon Ende des 19. Jahrhunderts zwar schon erfunden, aber im Alltag noch nicht eingeführt war. Erzherzog Carl Ludwig war wie seine Mutter Erzherzogin Sophie ein eifriger Korrespondent und schickte jedem Kind, das nicht zu Hause lebte, zumindest ein- bis zweimal pro Woche mehrseitige Briefe.
In dringenden Fällen bediente sich der Erzherzog des Telegraphen, über den man schon damals Nachrichten innerhalb kürzester Zeit übermitteln konnte. So war es z. B. möglich, dass seine Schwiegertochter Marie Josepha auf eine telegraphische Benachrichtigung, die sie am Vormittag in Schloss Persenbeug erhielt, am Nachmittag in Wien eintreffen konnte. Die über 150 Kilometer Strecke musste sie in mehreren Fahrzeugen zurücklegen. Mit einem Wagen fuhr sie vom Schloss zur Schiffsanlegestelle, überquerte die Donau mit einer Fähre, nahm dann abermals einen Wagen zur Bahnstation Kemmelbach, von dort den Zug nach Wien und zuletzt einen Wagen vom Bahnhof in die Innenstadt zum Palais ihres Schwiegervaters. Selbst heute braucht man für die Strecke über Autobahn oder Schnellstraße und weiter von den Außenbezirken Wiens bis ins Zentrum an die ein-, eineinviertel Stunden. Der Grund, warum Erzherzog Carl Ludwig seine Schwiegertochter einmal so rasch nach Wien bat, war eine schwere Erkrankung seiner ältesten Tochter Margarethe, die beinahe zu ihrem Tod führte. Das war ein tiefer Einschnitt im sonst so harmonischen Alltag der Familie und lastete schwer. In solchen Momenten legte der Erzherzog großen Wert darauf, mit der engeren Familie zusammen zu sein.
Wenn jemand aus dem Familienverband ernsthaft krank war, wurden mehrere Ärzte gebeten, Untersuchungen vorzunehmen und sich miteinander auszutauschen und zu beratschlagen. Beim Enkel Carl reichte eine hartnäckige Erkältung, dass zwei bis drei Ärzte zu Rate gezogen wurden. Lange Zeit war er in seiner Generation das einzige Kind. Als er geboren wurde, lebten noch ein Onkel und drei Tanten (siehe S. 48) als Teenager im Haushalt seines Großvaters. Wenn sie unterrichtet wurden oder die Großeltern Termine hatten, war der Kleine in Gesellschaft seiner Kinderfrauen. Man fand aber alle im selben Haushalt Wohnenden – Großmutter und Großvater, Onkel und Tanten – täglich im Spielzimmer Carls. Seine Mutter, Erzherzogin Marie Josepha, traf man dort am seltensten an. Meist war sie unterwegs, und wenn sie einmal – im Palais in Wien oder in der Villa Wartholz – im selben Haushalt mit ihren Schwiegereltern wohnte, kümmerte sie sich nicht um ihr Kind, sondern machte sie ihren Einfluss als Erzieherin auf eigenwillige Art geltend. Sie hielt Carl vom Familienleben fern, vor allem von den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten, weil sie vermutlich dachte, dass ein Kind nicht in die Gesellschaft Erwachsener gehört. Der Großvater, der den Enkel dann nicht in Gesellschaft sah, musste ihn alleine in seiner Wohnung besuchen. War Marie Josepha auf Reisen und Carl mit Großeltern, Onkeln und Tanten allein, durfte er, sobald er in einem Kinderstühlchen sitzen konnte, bei jedem Essen dabei sein. Da Erzherzog Carl Ludwig viel Freude hatte, bei Tisch alle Familienmitglieder zu versammeln, fand er für die Zeit, wenn die Schwiegertochter im Haus war, eine Notlösung. Da sie morgens lange schlief, holte er den Kleinen in der Früh persönlich zum Frühstückstisch. Selbst wenn die Kinderfrauen andere Anweisungen gehabt hätten, wagte natürlich niemand, den Hausherrn daran zu hindern. Für ihn, der täglich etliche offizielle Termine und oft 50 bis 70 Audienzen und mehr ableistete, der stundenlang Akten, Broschüren und Protokolle der verschiedensten Gesellschaften las, deren Schirmherr er war, gehörte das Frühstück in der Gesellschaft der im Haus lebenden Kinder und des Enkels zum geliebten Morgenritual. Dort holte er sich die Kraft für einen langen Arbeitstag, der meist 12 bis 14 Stunden dauerte und ihn nicht selten mehrere Hundert Kilometer durchs Land führte.