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Die »kleine« Geschichte des privaten Lebens: aus Briefen und Tagebüchern

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Da meine Publikationen immer der Geschichte und nicht der Kulturgeschichte zugeordnet werden, möchte ich im Folgenden die beiden Begriffe kurz erläutern und voneinander abgrenzen. Ich habe mich seit Beginn meiner publizistischen Arbeit der Geschichte des Alltags sowie der Geschichte des privaten Lebens4 verschrieben. Im Unterschied zur großen Geschichte, in der meist nur von Herrschern und mächtigen Leuten die Rede ist, beschäftigt sich die Alltags- oder Kulturgeschichte mit dem täglichen Leben aller Menschen unter Berücksichtigung ihres sozialen Umfelds. Die Fragen nach den Einzelheiten sind mannigfaltig: Mit welcher Bekleidung und in welcher Art von Betten schliefen die Menschen einer bestimmten Epoche? Wann standen sie auf? Wie viel Zeit wendeten sie für Körperhygiene auf? Welche kosmetischen Hilfsmittel kannten und verwendeten sie? Wie viel und was aßen die Bewohner der verschiedenen Regionen? Welche Kleider trugen sie zu welchen Anlässen? Wie führten sie den Haushalt? Welche Geräte und welche Art von Geschirr verwendeten sie? Wie und wo lagerten Lebensmittel? Wie sahen Möbel der Vorratshaltung aus, wie die Kochstellen? Welche Berufe gab es, wie und wo wurden sie ausgeübt? Welche Transportmittel standen den Menschen zur Verfügung? Welche sozialen Einrichtungen gab es? Wie feierte man Feste? Wie spielte sich das Leben innerhalb der Familie ab? Wie ging man mit Geburt, Kindheit, Krankheit und Tod um?

Meist schränkt man sich bei der Beobachtung auf einen bestimmten Zeitraum ein und man vergleicht in Bezug darauf den Tagesablauf der Mitglieder verschiedener sozialer Schichten. Dabei ergeben sich häufig nur geringe Unterschiede, manchmal sogar keine. Besonders auffällig ist, wie wenig den Menschen aller Gesellschaftsschichten in früheren Epochen sanitäre Einrichtungen bedeuteten und wie ungesund und wie wenig abwechslungsreich sie aßen.

Die stärksten Unterschiede in Bezug auf Tagesablauf, Kleidung, Essen und auf Hilfsmittel gab es in der barocken Epoche. In dieser Zeit zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert huldigten die Mitglieder der obersten Gesellschaftsschichten einer überfeinerten und gekünstelten Lebensart. Sie benahmen sich geziert, gestalteten ihre Auftritte theatralisch, verwendeten die kostbarsten Materialien für Kleidung und Einrichtung und aßen die exotischsten Lebensmittel. Wenn man einmal von den Kosten absieht, die dieser Lebensaufwand verursachte, kann man sich vorstellen, wie viel Zeit und Personal dafür benötigt wurde. Alleine für den Ablauf des Morgenrituals, der Ankleiden, Frisieren und das Trinken heißer und erlesener Getränke aus kostbaren Porzellanschalen umfasste, war zahlreiche Dienerschaft nötig. Darüber hinaus sorgten Geistliche und gebildete Personen für Erbauung und Unterhaltung der Herrschaften des Hauses. Der weitere Tagesablauf setzte sich bei den Menschen, die nicht arbeiten mussten, meist mit dem Besuch der Messe fort. Danach nahm man in Gesellschaft einiger Erwählter das Souper, das mehrere Stunden dauern konnte, und vergnügte sich anschließend je nach Jahreszeit mit Spaziergängen, Bootsfahrten und Jagden. Während des Tages wechselte man je nach Anlass mehrmals Kleidung und Frisur. Am Abend besuchte man Konzerte oder Theatervorführungen. Nachts nahm man ein Diner und unterhielt sich anschließend bei Tanz und Gesellschaftsspielen.

Aller Luxus und Nichtsnutz endete im späten 18. Jahrhundert. Die Französische Revolution, Wirtschaftskrisen in vielen europäischen Ländern sowie Bankrotte etlicher Familien hatten den Vorgang ausgelöst und führten zum Zusammenbruch des Systems. Als logische Folge entwickelte sich das 19. Jahrhundert zu einer ruhigen, bürgerlichen Epoche, in der man sich im Familien- oder Freundeskreis auf die kleinen Dinge des Lebens besann. Herr und Frau Biedermeier waren aber nicht nur im Volk zu finden, sondern auch unter Habsburgern, Wettinern und Wittelsbachern. Sie alle hatten beinahe zwei Jahrhunderte lang versucht, den aufwendigen, aber auch kraftraubenden Lebensstil König Ludwigs XIV. von Frankreich zu kopieren, und waren nun mit der Änderung ins genaue Gegenteil grenzenlos zufrieden. In Bezug auf die Geschichte des privaten Lebens hat es selten einen so tiefen Schnitt zwischen zwei so nahe liegenden Epochen gegeben.

Am Ende dieses Einschubs, der dazu dienen sollte, den Unterschied zwischen großer Geschichte und Alltagsgeschichte aufzuzeigen, komme ich wieder auf die Tagebücher Erzherzog Carl Ludwigs zurück. Nichts eignet sich besser, das Privatleben einer Familie zu dokumentieren, als in täglich geführten Aufzeichnungen eines Familienmitglieds zu lesen. Sie bieten eine ideale Vorlage, um Einblick in den Alltag nehmen zu können, und erlauben den logischen Schluss, dass Herrscher und alle Menschen des öffentlichen Lebens den Großteil ihres Lebens Privatleute waren.

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