Читать книгу Antonia - Gabriella Zalapì - Страница 16
3. Juli 1965
ОглавлениеGestern ist Großvater am Flughafen angekommen. Ich habe ihn mit Arturo abgeholt. Vati. Er ist alt geworden. Seine Haare sind jetzt ganz weiß, seine dicken Augenbrauen aber immer noch rabenschwarz. Wie lange wird er die Reise von Teresópolis noch machen können? Er bleibt zwei Wochen bei uns. Ich bin glücklich, den Klang seiner Stimme und seinen einzigartigen Akzent zu hören. Unsere Vertrautheit, seine Gesten, sein Lachen wiederzufinden und seine Augen, die ständig etwas suchen. Er ist immer noch genauso lebhaft und akkurat. Immer noch genauso elegant mit seiner schlanken Figur, und wie er den Kopf hält!
Ich denke an die Zeit zurück, als Vati einen wichtigen Platz in meinem Leben einnahm. Das war in Florenz, als ich im Internat war. Damals hat er angefangen, mir einmal in der Woche zu schreiben. Ich höre noch die Stimme der Direktorin, Mrs Holmes, die vom unteren Ende der Holztreppe »Po-ost!« heraufrief. Dann das wilde Gerenne, die lauten Schritte meiner Kameradinnen auf den Stufen. Die Freudenrufe. Die der Enttäuschung. Ich zog mich am liebsten in mein Zimmer zurück, um Vatis Briefe zu lesen. Unter Tausenden würde ich seine Frakturschrift und das cremefarbene Papier erkennen, das er benutzte. Ich schnupperte immer erst am Umschlag, bevor ich ihn öffnete, in der Hoffnung, seinen Duft oder etwas Exotisches zu riechen. Ich war die Einzige, die Post aus so weiter Ferne bekam, aus Brasilien … ein anderer Planet. Er begann jeden seiner Briefe mit Meine geliebte Antonia und unterschrieb mit Dein Vati. Sie enthielten Neuigkeiten über seine Gesundheit, sein Leben in Teresópolis, meine Mutter (die mir nur förmliche Grußkarten zum Geburtstag oder zu Weihnachten schickte). Dieser Briefwechsel hat das Band zwischen uns besiegelt. Er schrieb mir, ich sei die Tochter, die er gern gehabt hätte. Seine Zuneigung war beruhigend und gab mir Kraft. Nonna und er waren meine Schutzengel. Vati hat mich bei meiner Hochzeit zum Altar geführt. Ich war so stolz, an seinem Arm in die Kathedrale zu kommen. Ich höre noch seine Worte, als wir durch das Portal traten: »Komm, meine geliebte Antonia. Geh erhobenen Hauptes. Denn heute bist du eine weiße Callablüte.«
Vati ist für zwei Monate in Europa. Seine weitere Reiseroute: Neapel, Florenz, London, um Antiquitätenhändler zu treffen und Raritäten aufzutreiben. Genf, um seine Tochter und seine Exfrau, Mutti, zu besuchen. Zürich wegen seines Bankiers. In Nizza trifft er sich mit Freunden. Kitzbühel zur Erholung. Von Madrid fliegt er zurück nach Rio. Beim Abendessen hat er uns begeistert erzählt, dass er auf der Suche nach Objekten für seine neue Freundin Evelyn ist. Sie möchte in Rio ein Museum eröffnen, und er berät sie. Er hat sie in New York bei einem gemeinsamen Freund kennengelernt, der ebenfalls Gemälde sammelt. Wie Vati hat auch Evelyn Österreich in letzter Minute verlassen, sie ist kunstbesessen wie er und wird wie er nie nach Wien zurückkehren.
Ist es möglich, dass Vati sein Leben in Brasilien einfach neu angefangen hat? Er redet nie vom Krieg, von Verrat, Erniedrigung oder Raub. Nichts über seine Eltern, die in den Lagern ermordet wurden. Nichts, nichts, nichts.
Arturo lässt ihn nicht aus den Augen.